Favorite Entries 2005

31.12.2005

2005 revisited

Frau Ingeborchs Fragebogen. Mal wieder. Gehört inzwischen zum Jahresende dazu.

1. Zugenommen oder abgenommen?

Abgenommen. Ne Menge.

2. Haare länger oder kürzer?

Gleich lang. Haare sind wurscht. Kommt eh ein Mützchen drauf.

3. Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
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29.12.2005

The year in pictures (again)

Quälendste Filmminute:

Sämtliche Minuten in Die Reise der Pinguine, in denen die wunderschönen Bilder totgequatscht wurden.

Entzückendste Filmminute:

Jeder Hundeblick aus Wallace and Gromit.

Mit XX hätte ich gerne diesen Film gesehen:
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21.12.2005

Six degrees of Anke and Viggo

Ha! Doofe Theorien stimmen doch. Zum Beispiel die, dass man jeden Menschen auf der Welt über sechs Ecken kennt. Gestern schrieb mir nämlich eine ehemalige Kollegin folgende Kette:

Anke – ehemalige Kollegin von Anke, die auf einer Party war – Partygast Tom Tykwer – Franka Potente, Ex von Tykwer – Elijah „Frodo“ Wood, Ex von Potente – Viggo „Aragorn“ Mortensen, Hobbitbeschützer, Schwertschnuffel und potenzieller Heiratskandidat von Anke (falls Kiefer Sutherland doch noch absagen sollte).

Ich bin also quasi verlobt. Glückwunschtelegramme und Geschenke an die bekannte Adresse. Und bitte nicht noch mehr Toaster und Eierkocher, ja? Danke.



05.12.2005

everybody else is doing it so why can't i

ein buch zuende, das nächste schon griffbereit, „frisst du wieder bücher?“, soviele buchstaben und doch das gefühl, nichts neues zu sehen, zu fühlen, zu lernen, in der blogosphäre in der politik auf der arbeit im freundeskreis in der beziehung der die das gleiche, den ganzen tag, die gleichen themen, die gleichen aufreger, die gleichen mechanismen, ick bün all hier, kenn ich schon weiß ich schon hab ich schon, everyday is like everyday, montags den spiegel, freitags die dvds, samstags einkaufen, die selben (insert clever noun here, i’m out of them, copywriter’s block) an der bushaltestelle jedenmorgenjedenabend, einsteigen, aussteigen, fahrstuhl, türcode, kaffee, wasser, o-saft, überhaupt o-saft, schon zu uninspiriert für vier silben, schreiben, denken, korrigieren, schreiben, denken, korrigieren, irgendwann nur noch schreiben und korrigieren, rechner aus, fahrstuhl, einsteigen, aussteigen, „wie war dein tag?“, reviere markieren, grabenkämpfe vertiefen, versöhnungen abfertigen, zu gelangweilt fürs kino, zu müde für alles andere, am liebsten schon um neun den kopf ausmachen wollen und dösenschlafenträumen, bis mal wieder was neues passiert, bis bücher wieder spannend werden und filme und andere menschen und die tage an sich und der lange ruhige fluss woanders lang fließt. cry me a river. go with the flow.



25.11.2005

drink good-bye

und wenn dir fünf leute sagen, wie nett sie dich finden und wie gern sie mit dir arbeiten und wenn dir bei jedem satz das herz bricht und du weinen willst und gleichzeitig einfach weitertrinken, vielleicht hören die sätze dann auf und alles bleibt so, wie es ist und keiner geht weg und keiner wird weggegangen und alles ist gut und wenn ich morgen aufwache, gehe ich einfach dahin, wo ich die letzten fast zwei jahre hingegangen bin und alles ist wie immer und alle sind noch da und ich bin nicht alleine und der chef hält keine fiesen reden, bei denen ich schon vorher weiß, dass ich jetzt ein taschentuch brauche, aber ich weiß, dass es nicht so ist, ich weiß, dass das unsere letzte party war, ich weiß, dass ich jetzt andere kollegen habe, weiß ich alles, war mir bis jetzt irgendwie egal, ich drück mich halt um abschiede, ich steh nicht gern am bahnhof und winke, aber nach dem dritten schampus ist eben alles anders und nach dem nächsten bier und dem nächsten jägermeister und überhaupt, und wieso zeigt ihr jetzt die alten filme und wieso kommt jetzt madonna und wieso macht ihr es mir und uns noch schwerer, you push me when i don’t appreciate, keep on pushing, ich vermisse euch jetzt schon und ich will nicht weiter nachdenken, ich will mir nicht eingestehen, wie wohl ich mich gefühlt habe und wie mich die situation belastet, wie sie jetzt ist und wie sehr ich euch jeden verdammten nächsten morgen vermissen werde und wie gerne ich mit euch gearbeitet habe und jetzt hört schon auf, mich zu umarmen, ich tu’s ja auch, ich geh jetzt nach hause, da stört mich keiner beim heulen und morgen stinke ich nach viel zu vielen zigaretten, die ich von euch geschnorrt habe und viel zu viel alkohol, den ich doch sonst gar nicht mehr trinke und ich vermisse euch jetzt weiter und jetzt brauch ich wirklich ein taschentuch nee zwei nee die ganze packung fuck it i hate it when good things have to end

(file under too drunk to tug)



22.11.2005

Kotzkino

Der SPIEGEL berichtet über die finanziellen Nöte deutscher Kinobetreiber. Allen voran beschweren sich die Besitzer der Multiplexe – oder, wie sie im O-Ton genannt werden: „wuchtige Klötze aus Glas und Beton, funktional banale Zweckbauten mit Abfertigungsfoyers, die herabbaumelnde meterlange Plakate und Cola-Popcorn-Theken in Reklamefriedhöfe verwandelt haben“. Die Besucherzahlen in deutschen Kinos sind anscheinend 2005 munter weiter zurückgegangen, und nun fragen sich viele, woran das liegen könnte. Die üblichen Verdächtigen werden angeführt: Konsumzurückhaltung, Sparsamkeit der Werbekunden, zu gutes Wetter (äh … wann? Dieses Jahr?) – und im Nachsatz vielleicht auch noch die miesen Filme, die angelaufen sind. Ein dicker Teil der Schuld wird aber auch den oben angesprochenen Filmpalästen gegeben, die in ihrer „seelenlosen Atmosphäre“ keine rechte Filmbegeisterung aufkommen lassen. Einige Kinobetreiber rüsten nun um, bauen Kronleuchter und Ledersofas ins Foyer, um die McDonald’s-Stimmung zu vertreiben, oder begrüßen Besucherinnen der Cinestar-Filmreihe „Cinelady“ mit Prosecco und einer roten Rose. Ob’s hilft? Und vor allem: Wollen die Besucher das? Ist es wirklich die Optik im Cinemaxx, die mich davon abhält, dahinzugehen?
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10.10.2005

Widersprich mir ... oder, nee, doch nicht

Salon.com hat ein neues Feature, das mir ein bisschen Kopfschmerzen bereitet: Man kann inzwischen nicht mehr nur einen letter to the editor schreiben, also einen klassischen Leserbrief (per E-Mail), der von der Chefredaktion abgesegnet werden muss, bevor er eventuell das Licht der Welt auf der Leserbriefseite erblickt – nein, man kann inzwischen zu jedem Artikel einen Kommentar hinterlassen. Wie in Weblogs. Und jeder Kommentar (der aber bei Salon weiterhin letter heißt) wird auch ohne redaktionelle Prüfung „gedruckt“ bzw. freigeschaltet.

Salon argumentiert unter anderem damit, dass sie eine derartige Menge an schöner Post bekommen, dass sie gar nicht mehr alles lesen können: (weiterlesen)



07.10.2005

„Mein Leiden ist kein Freifahrtschein.“

(Gefallener Satz (komischer Ausdruck) in einer Diskussion (eher ein Gespräch – oder doch nur mein übliches inkohärentes (das Wort wollte ich schon lange mal bringen) Gebrabbel (und gleich den Fremdwortbonus wieder verkackt)) (und schön die doppelte Klammer beim Korrekturlesen entdeckt) über Allergien (Zivilisationskrankheit, alles Weicheier, irgendwann sterben wir vom Müllraustragen oder Parfümtesten in einer Douglasfiliale) und warum ich seit Stunden hier rumniese (die Rosen von den Kollegen? der Asi heute morgen im Bus? irgendeine Töle, die ich nicht mal bemerkt habe als sieeresdasVieheben mich mit Allergenen vollgeirgendwast hat) anstatt gemütlich (konzentriert, karrierebewusst, fleißiges Bienchen, ist schon 6?) meine Arbeit (alle Werberschimpfworte in den Kommentaren werden gelöscht, benehmt euch, seid nett zueinander, wir sind Deutschland, nein, ich war’s nicht) zu erledigen (runterschreiben den Kram, im Moment ist hier eh Hühnerhaufen angesagt, whatever, ein Produkt ist wie das andere, lass mich in Ruhe, kauft den Scheiß, make money make more money) und meinen Kollegen () (der liest mit, über den kann ich nicht lästern) nicht mit meinen Geräuschen (Benjamin Blümchen) zu nerven (geh doch nach Hause) beziehungsweise (Abkürzungen sind schlecht für dich, davon kriegst du Rückenmarkschwund und deine Augen bleiben so stehen und morgen scheint nicht die Sonne, die Sonne und du, uhuhuhuuu, gehör’n dazuhuhuhuuu) ihn dazu zu bemüßigen (ja, Oma, ich mag Omawörter, ich mag, dass bei meiner Oma über der Küchentür ein Plastikschild hing mit der Aufschrift „Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“ und ich mag, dass es bei ihr immer nach Oma gerochen hat, nach säuerlichen Äpfeln und frischem Holz, bei meiner Omi hat es nach Omi gerochen, nach warmem Kuchen und Putzmitteln, und beim Kerl riecht’s nach Kerl, nach meins und Herz und Locken und Bett, und bei mir riecht’s bloß nach Staub auf DVD-Hüllen und Bücherregalen), seine Art-Direktoren-Musik (Bindestriche, auch so ein Übel, ich weiß nie, ob bei englischen Ausdrücken wie Art Direktor (oder eben Pseudo-englischen-Ausdrücken-für-Werber) ein Bindestrich zwischen Art und Direktor kommt, wenn ich an den Art Direktor noch was anhänge, ich behaupte nein, aber ich bin mir nicht sicher, und deswegen setze ich probehalber mal einen, wenn ich nicht weiß, wie irgendwas geschrieben wird, schreibe ich beide Varianten in mein Notizbuch und gucke, welche hübscher aussieht) anzumachen (iTunes, führe uns nicht in Versuchung, eine Gitarre nach der anderen, und dabei ist es hier doch schon laut genug, wer ist eigentlich jemals auf die Idee gekommen, dass Großraum ne tolle Idee ist? ich liebe meine Tür, die dem Großraum den Mittelfinger zeigt, denn so muss ich den Lärm von draußen nicht hören, sondern nur die komischen Gitarren aus dem Mac gegenüber). Klammer zu und ab.)
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20.08.2005

Mein schönster Ferientag

(Zu den Klängen der Ouvertüre öffnet sich langsam der Vorhang.)

Das ist es also: das Festspielhaus in Bayreuth, das zehn Monate im Jahr leer steht, bis dann Scharen von Wagnerianern in die Stadt einfallen, die überzogenen Hotelpreise zahlen und zum Grünen Hügel pilgern. Der ist übrigens während der Aufführung für den Verkehr gesperrt; das heißt, man kann in der Pause entweder an den vielen Fressständen Champagner für 9 Euro das Glas schlürfen oder eine Laugenbrezel für moderate 1,50 futtern (my drug of choice) oder eben den Hügel, auf dem das Haus steht, rauf- und runterflanieren, ohne von Autos belästigt zu werden. Es ist trotz der knapp 2000 Zuschauer sehr ruhig, und so muss man beim Lästern über anderer Leute Abendgarderobe wirklich die Stimme senken.)
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22.07.2005

Von Verdun nach Verona

In den Schützengräben von Millionen von TV-Sendern. Die Schrapnelle der Talkshows, Gerichtsshows und Politainmentmagazine zischen über die Köpfe der Kämpfer für das Gute, Wahre, Schöne. Es regnet in Strömen, das Wasser unterspült das Schlachtfeld, das mit den Leichen vieler Kameraden bedeckt ist. frank sitzt geduckt an einem Erdwall. Er hat alles gesehen, alles miterlebt. Die Zeit an der Front hat ihn gezeichnet. Mir verhärteten Zügen blickt über den Grabenrand und knurrt lakonisch: „Die Jungs da draußen brauchen wenigstens ihre Feldration nicht mehr, die sind jetzt im Entertainmenthimmel“ und reißt mit den Zähnen eine Packung gefriergetrocknetes Popcorn auf. Gierig schlingt er die unansehnliche Masse hinunter, nur keine Zeit verlieren bis zur nächsten Sendung, nur dem Feind keine Angriffsfläche bieten aus Hunger nach guter Unterhaltung. Es ist kalt. Die Nacht senkt sich langsam über die Massaker, die am Tage passieren und bedeckt schwarz und unheilvoll, was noch kommen wird. Leidensgenosse smal kriecht zu frank hinüber, seine Hände rissig vom ständigem Klicken der Fernbedienung, sein Atem sichtbar. „Hast du noch ne Programmzeitschrift?“ frank sucht kurz in seinem tarnfarbenen Rucksack, schiebt ein Plüschteletubby beiseite, den Feldspaten, die zerfingerten Landkarten, die ihn und smal durch unwegsames Gelände bringen sollen. Er findet ein zerfleddertes Etwas – TV Digital? TV Movie? oder doch nur die Fernsehbeilage der Ilmenauer Neuen Presse? Egal –, was sich smal mit einem geübten Griff unters Hemd schiebt. „Diese verdammte Kälte.“ frank nickt. Schweigend sitzen die beiden nebeneinander und beobachten das bläuliche Geflacker aus tausend Bildschirmen, die sie umzingelt haben. „Irgendwas Gutes heute abend?“ fragt smal leise, wohl wissend, dass es kaum Hoffnung gibt. „Silvester Countdown“ antwortet frank, während ihn ein Hustenanfall schüttelt. „Kenn ich nicht“, gibt smal zurück. „Ich auch nicht, aber ich spür’s beim Pinkeln, der Film taugt was.”
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04.07.2005

Puls

Seit Tagen niedergeschlagen gewesen, nah am Wasser, dünnhäutig, ohne ersichtlichen Grund, Arbeit gut, Beziehung gut, blogferne Dinge gut, wieso dann nicht ich auch gut? Mal wieder innegehalten anstatt sich hetzen zu lassen, in mich reingehorcht und plötzlich eine alte Wunde entdeckt, die schon längst verschorft geglaubt war, vernarbt, eigentlich nur eine blasse Erinnerung, aber auf einmal war sie wieder da, leuchtete aus dem Körperdunkel nach oben, sorgte für Verwirrung und Ungläubigkeit ob ihrer Massivität, ihrer Bedrohung, die alles Gute überschattete. Einziger Weg, den ich damals gelernt habe: ernst nehmen, was hochgespült wird, ernst nehmen, auf sich hören, auf das Bauchgefühl, auch wenn der Kopf Logik anbietet und Erklärungen, das Herz erklärt sich manchmal nicht, es ist einfach da, schlägt kurz aus dem Takt, ein Zeichen, es zu beachten, eine Aufforderung, etwas zu ändern oder eine Entscheidung zu treffen, die vielleicht dem Kopf ein Rätsel aufgibt, aber das Herz beruhigt und den Bauch und die Seele. Und seitdem diese Entscheidung da ist, geht es besser, die Tränen sind wieder unsichtbar, das Atmen ist schmerzlos, das Lächeln löst sich, die Stimme bricht nicht mehr. Immer wieder feststellen, dass das Herz sich Dinge ehrlicher merkt als der Kopf. Vergissmichnicht.
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29.06.2005

Krächz

Wenn mir das mal vorher jemand hätte sagen können, dass ich nach einer guten Stunde Singen ab und zu aussehe wie nach einer Stunde Fitnessstudio … dann wäre das zwar nett gewesen, aber ich hätte es nicht geglaubt. Ich vergesse es auch immer gerne wieder. Bis zu den Stunden, die so ablaufen wie die am Montag, als mich Tony listig fragte, was ich denn gerne singen würde, worauf ich leichtsinnigerweise die Arie aus The Ballad of Baby Doe wählte, denn die mag ich sehr gerne – und übe sie zuhause immer fünf Töne zu tief. Und ich weiß auch, warum.

Das Lied liegt am allerhöchsten Ende meines gesanglichen Spektrums und kostet Hölle viel Kraft. Wir haben nur die erste Seite der insgesamt fünf bearbeitet, denn die reicht schon, um mir den Schweiß den Nacken runterlaufen zu lassen. Zuerst habe ich den Text mal Text sein lassen dürfen und die Melodie nur auf A gesungen. Möglichst ohne das A abzusetzen, einfach einen Bogen singen. (Wenn ich „einfach“ sage, meine ich damit Mund aufreißen, nicht bei den höchsten Tönen anfangen zu kieksen oder lauter werden, bei den tieferen Tönen dementsprechend nicht leiser und ab und zu mal ans Atmen denken.)

Nachdem die Töne irgendwie im Kopf waren und sich mein Mund an den Raum gewöhnt hatte, den das A geschaffen hat, kam ein Konsonant dazu. Das doofe N, das den Mund sofort wieder winzig klein macht. Jetzt singe ich also na-na-na. Ich muss mich bei jeder Note daran erinnern, dass ich GROSS bleibe, offen, weit und das ganze natürlich total entspannt und ü-ber-haupt nicht angestrengt, kein Thema, logisch, dann mal los. (Ächz.)

Wenn Tonfolgen schwierig zu singen sind, bin ich inzwischen dazu übergegangen, mit den Händen Bewegungen zu beschreiben, die ich gesanglich ausdrücken will. Beispiel: Wenn ich eine Tonfolge singe, die nach oben geht, neige ich automatisch dazu, den höchsten Ton lauter zu singen als die anderen. Das will ich aber nicht, und so beschreiben meine Hände eine ebene Linie, um meinen Kopf daran zu erinnern, dass ich „eben“ singe und keine Welle beschreibe. Komischerweise funktioniert das wirklich. Ich hebe auch ab und zu meine Hände über den Kopf und drücke eine imaginäre Wand nach oben, um den Raum zu erweitern, den ich stimmlich habe. Funktioniert auch. Ich sehe zwar meist extrem bescheuert aus, wenn ich singe, weil ich dabei wild in der Gegend rumgestikuliere, aber was soll’s. Noch guckt mir dabei ja keiner zu. Außer Tony, und von dem habe ich schließlich diese Ideen.

Als ich das Na-na-na einigermaßen drin hatte, durfte ich die richtigen Konsonanten singen, aber noch nicht die richtigen Vokale. Quasi die drei Chinesen mit dem Kontrabass. Der Text lautet im Original so: “Always through the changing of sun and shadow, time and space …” Aber was ich gesungen habe war: “Alwas thra tha changang af san and shadaw, tame and space …” Zu dieser Zeit war ich bereits eine halbe Stunde damit beschäftigt, meine Stimmbänder zu quälen. Ich war so gut wie durchgeschwitzt, und meine Stimme wurde allmählich kieksiger. Als ich schließlich die richtigen Vokale singen durfte, ist die Stimme irgendwann einfach weggekippt. Ich hatte nicht mehr die Kraft, die oberen Töne zu halten, nicht mal eine halbe Sekunde lang. Sobald Tony das gemerkt hat, hat er das Lied für heute zu den Akten gelegt, und wir haben zur Erholung mal wieder Ich hab geträumt vor langer Zeit aus Les Misérables gesungen. Das ist ungefähr eine Oktave tiefer, aber selbst das habe ich nicht mehr ganz gebacken gekriegt. Meine Stimme war so darauf gedrillt, irgendwo da oben rumzugurken, dass es mir wirklich schwer fiel, sie wieder auf „normales“ Niveau runterzubremsen und nicht bei jeder Note klanglich übers Ziel hinauszuschießen.

Am Ende der Stunde habe ich mich etwas heiser gefühlt, aber auch ziemlich stolz, dass ich überhaupt so lange durchgehalten habe. Tony meinte, dass ich die Höhe auf jeden Fall drin hätte, nur die Kondition eben noch nicht, um länger dort oben zu verweilen. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass man Kondition braucht, dass man sich quasi Muskeln antrainieren muss, um länger in unbequemen Höhen singen zu können. Je länger ich Unterricht nehme, desto größer wird mein Respekt vor Berufssängern. Gerade vor denen, die sechs Stunden Wagner singen.

Wer wissen will, wie das Lied klingt, an dem ich mich vergehe, der darf mal hier klicken. Da hört ihr aber gottlob nicht die gestern etwas krächzig klingende Anke, sondern Beverly Sills mit dem New York City Opera Orchestra aus der Gesamtaufnahme von 1959.

Ach ja, und die eine Stelle im Mittelteil, die so richtig fies nach oben geht, darf ich netterweise eine Oktave tiefer singen.
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22.06.2005

... for the music, the songs I'm singing ...

Gestern morgen, aufgewacht, Kerl geküsst, gefrühstückt, zum Bus gegangen, gut gelaunt an der Haltestelle in den blauen Himmel geguckt. Und ganz plötzlich mit einem Gefühl tiefster Dankbarkeit erfüllt gewesen. Dankbar dafür, jeden Morgen neben dem Menschen aufwachen zu dürfen, den ich liebe. Dankbar dafür, mir eine Wohnung leisten zu können. Dankbar dafür, einen Job zu haben. Dankbar dafür, gesund zu sein. Dankbar dafür, mich nach langem Kampf wiedergefunden und mich nicht wieder losgelassen zu haben. Dankbar dafür, eine innere Stärke entdeckt zu haben, die es mir erlaubt, mich zum Positiven zu verändern. Dankbar dafür, zu glauben, zu vertrauen, zu hoffen. Dankbar für viele Menschen, für die Musik auf den Ohren, den Lesestoff im Rucksack, das Lieblingskino, das iBook, den Gesangsunterricht, Amazon, frische Erdbeeren und den Ventilator neben dem neuen Bett. Einfach mal danke sagen. Wem auch immer.

(Und dass mir 20 Minuten später beim Aussteigen aus dem Bus ein Vogel auf die Hose gekackt hat, soll ja auch Glück bringen. Mistkrähe.)
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21.06.2005

Für Emilia zum ersten Geburtstag

Mein schnuffiges Patenkind ist am Freitag ein Jahr alt geworden. Zur Feier des Tages gab’s die obligatorischen Schuhe, dieses schöne Shirt (und wenn ich schon mal beim Bestellen bin, für mich dieses* und dieses** Shirt) und folgenden Brief:

Liebe Emilia,

heute ist dein erster Geburtstag. An den wirst du dich wahrscheinlich nicht mehr erinnern, wenn du alt genug bist, diesen Brief selber zu lesen, aber ich wette, dein Vater und deine Mutter werden dutzende von Fotos machen, auf denen du bestimmt wie immer fürchterlich niedlich aussehen wirst. Vielleicht hast du auf einem sogar mein T-Shirt an, das ich dir zu deinem Geburtstag schenke. Es ist aus Kanada, und ich hoffe, dir gefällt es. (Und ich hoffe, ich kriege wegen des Aufdrucks keinen Ärger mit deinen Eltern.)

Vor genau 362 Tagen habe ich dich das erste Mal gesehen. Da warst du drei Tage alt. Deine Mutter war noch etwas fertig von der Geburt und dein Vater war ganz fürchterlich besorgt um dich, weil du nicht richtig essen wolltest. Das hat sich aber glücklicherweise gegeben. Ich habe mich am Anfang gar nicht getraut, dich anzufassen oder auf den Arm zu nehmen, so klein warst du und so zart. Du hast geschlafen, als ich dich besucht habe. Deine Augen waren ganz fest geschlossen, und du hast kleine Fäuste mit deinen Händchen gemacht. Ich habe dich minutenlang nur angeguckt, weil du so winzig warst und so vorsichtig geatmet hast, dass ich auch automatisch ganz vorsichtig und leise mit dir mitgeatmet habe.

Als ich dich das erste Mal auf dem Arm hatte, warst du ungefähr einen Monat alt. Deine Mutter hat dich mir in den Arm gelegt und du hast etwas überrascht ausgesehen, dass da jetzt wer anders ist als deine Eltern und deine Großeltern, aber anscheinend hat es dir in meinem Arm gefallen. Du hast mich einfach nur angeguckt, und ich habe zurückgeguckt. So lange, bis deine Eltern Witze darüber gemacht haben. Du warst ganz warm und hast nach Haut und Babypuder gerochen, und dein Atem war hörbarer als noch vor vier Wochen im Krankenhaus. Du hast noch nicht gelacht, sondern einfach nur geguckt. Ich würde gerne wissen, was du gedacht hast, als du vier Wochen alt warst. Ich hoffe, du hast Dinge gedacht wie, Hier ist es aber nett, ich werde so gut umsorgt und gefüttert und ins Bettchen gebracht. Hier gehe ich erstmal nicht wieder weg.

Ein paar Monate später konntest du schon krabbeln. Das ist ja eigentlich eine schöne Sache, aber deine Mutter hat schon ein bisschen die Zeit vermisst, als sie dich einfach irgendwo hinlegen konnte und du dich nicht vom Fleck bewegt hast, weil du erstens noch nicht wusstest, wie man sich vom Rücken auf den Bauch dreht und zweitens, wie man dann die Hände und Füße benutzt, um sich abzustoßen und über den Fußboden zu robben. Aber das hast du, wie gesagt, ziemlich schnell rausgekriegt. Du siehst aus wie eine kleine Krabbe, wenn du unterwegs bist. Dein Kopf ist hochgereckt, als ob du gucken möchtest, was es alles auf der Welt zu entdecken gibt, bevor du loskrabbelst. Deine Eltern mussten die Wohnzimmertür schließen, als du anfingst, in der Wohnung auf Entdeckungstour zu gehen, und ein Gitter vor der Küche anbringen. Als ich einmal bei euch zu Besuch war, hast du angefangen zu weinen, weil du an der geschlossenen Tür nicht weiterkamst, aber deine Mutter hat dich sofort beruhigt und dich wieder auf deine bunte Spieldecke gelegt, womit du anscheinend auch zufrieden warst.

Um deine Spieldecke beneide ich dich übrigens sehr. Es gibt Felder, die man aufklappen kann und einen Spiegel und Klettverschlüsse mit Blumen und es ist alles ganz fürchterlich bunt. Außerdem hast du ein Mobile über deinem Bett hängen aus Fischen und ziemlich viel pädagogisch wertvolles Spielzeug, mit dem deine Eltern aus dir ein schlaues Mädchen machen wollen. Das klappt bestimmt. Auch wenn deine erste Vorführung für die Patentante (einen kleinen Becher in einen großen stecken) nicht ganz funktioniert hat, weil du lieber den großen Becher in den kleinen stecken wolltest.

Seit ein paar Monaten kannst du sogar schon stehen, wenn du dich irgendwo hochziehen und festhalten kannst. Bei deiner Taufe im Februar bist du „nur“ gekrabbelt, aber gerade vor ein paar Tagen hat dein Vater mir erzählt, dass du dich inzwischen am Tisch oder an der Kommode hochziehst, stehst – und dann kurz deine Stütze loslässt und versuchst, dich auszubalancieren. Aber ganz alleine kannst du noch nicht stehen geschweige denn laufen. Wahrscheinlich sind deine Eltern auch heimlich ganz froh darüber, denn du bist schon ganz schön schnell, wenn du krabbelst. Und du hast auch ziemlich fix herausgefunden, wie man die abgerundete Kindersicherung von den spitzen Tischkanten einfach abziehen kann.

Vor ein paar Wochen waren deine Mutter und ich zum ersten Mal mit dir bei Ikea. Warum das so toll ist, wirst du später verstehen, wenn du ein großes Mädchen oder eine junge Frau geworden bist. Dein erstes Mal schien dich aber noch nicht wirklich zu interessieren. Du hast in deinem Sitz hoch oben auf dem Einkaufswagen gelegen und milde lächelnd dabei zugesehen, wie deine Mutter und ich stundenlang nach Teelichtern, Tischdecken und Bettwäsche gewühlt haben. Wir haben auch versucht, schöne Bettwäsche für dich zu finden, aber die mit den Dinosauriern sah irgendwie nicht so toll aus wie im Katalog, und für die giftgrüne Decke konnte ich deine Mutter nicht begeistern. Auf jeden Fall bist du nach einer guten Stunde friedlich eingeschlafen und erst im Auto wieder wachgeworden. Du lagst angeschnallt auf dem Vordersitz. Ich saß hinter dir und habe Faxen gemacht, um dich zum Lachen zu bringen, was auch funktioniert hat. Du hast im Moment noch nicht viele Zähne, und die, die du hast, sind so komisch verteilt, dass es ganz füchterlich albern aussieht, wenn du lachst, und deswegen muss ich auch lachen, wenn du lachst.

Du hast vor ein paar Monaten deine Stimmbänder entdeckt und blubberst an manchen Tagen in einer Tour vor dich hin. Es klingt noch nicht so, als wolltest du uns irgendetwas sagen, aber es macht zumindest gute Laune. Auch wenn dein Vater so gerne von dir mal „Papa“ hören möchte, wenn du auf ihn zeigst und nicht, wenn du auf einen Stoffhund zeigst. Aber das kommt bestimmt noch.

Gestern hat deine Mutter dir zum ersten Mal etwas auf ihrer Gitarre vorgespielt. Du hast es gewürdigt, indem du in deine Spielzeugkiste geklettert bist und dich mit deinem Schlafsack zugedeckt hast. An deiner Höflichkeit musst du wohl noch ein bisschen arbeiten.

Liebe Emilia, ich wünsche dir von Herzen alles Gute zu deinem ersten Geburtstag und hoffe, wir werden noch viele, viele weitere Geburtstage von dir feiern können. Du bist, soweit ich das beurteilen kann, ein sehr freundliches und neugieriges Kind. Und dazu siehst du auch noch herzallerliebst aus. Du bist das erste Kind, das ich kenne, das ich dauernd knutschen möchte. Und das will wirklich was heißen. Frag deine Eltern (die ich übrigens auch dauernd knutschen möchte).

Alles Liebe von deiner Patentante
Anke


* Der Pazifist Kerl mag das Shirt nicht.
** Alle denken, ich sei Bayern München-Fan.
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24.05.2005

Anke nölt über die üblichen Eisprungbauchschmerzen: „Der weibliche Körper ist eine einzige Nervensäge.“

Kerl: „Wem sagst du das?“

(Ich werde mit sofortiger Wirkung aufhören, sein Gemächt zu preisen.)
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17.05.2005

Things I once believed

I’m only happy when it rains.

I am beautiful no matter what they say.

Just a spoonful of sugar makes the medicine go down.

The first cut is the deepest.

I never fall in love again.

It’s hard to say I’m sorry.

You can get it if you really want.

Love comes to those who believe.

Life’s what you make it.

Don’t stop thinking about tomorrow.

I was born to make you happy.

No matter what they teach us what we believe is true.

You don’t have to say you love me.

Tequila!
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04.05.2005

Mein Hund hat den Blogeintrag für heute gefressen

Meine Oma ist gestorben und ich fand es pietätlos, von der Beerdigung zu mobloggen.

Ich bin von bösen Mitbloggern verprügelt worden und dabei ist der Eintrag in den Schmutz gefallen.

Wir hatten einen Wasserrohrbruch und mein iBook wurde aus dem Fenster geschwemmt.

Meine Tastatur war alle.

Meine Mutter hat mit dem Eintrag aus Versehen den Vogelkäfig ausgelegt.

Ich musste auf meine kleine Schwester aufpassen und konnte deswegen nicht an den Computer.

Ich dachte, ich hätte schon einen Eintrag geschrieben.

Der Eintrag ist in der anderen Jacke, die ich heute morgen eigentlich anziehen wollte, aber dann hat es geregnet und ich habe daher diese angezogen, wo der Eintrag leider nicht drin ist, denn der ist in der anderen Jacke, die ich heute morgen eigentlich anziehen wollte.

Meine Katze hat auf mein Weblog gekackt.

Ich hatte meine Tage und konnte daher nicht am Weblog teilnehmen.

Mein Eintrag hat heute hitzefrei.

Ich habe gestern renoviert und dabei den Strom abgestellt, was zur Folge hatte, dass meine iBook-Uhr noch auf dem gestrigen Tag war und gestern hatte ich ja schon gebloggt.
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28.04.2005

Vaya con dios

Auf Salon schreibt Anne Lamott in ihrer Kolumne über politisch liberale Christen und wie es sich anfühlt, in einem Land zu leben, in dem nur die rechtgerichteten, die fundamentalistischen Christen Gehör zu finden scheinen – vielleicht, weil sie am lautesten brüllen: God doesn’t take sides.

"What the right has “appropriated” has nothing to do with God as most of us believers experience God. Their pronouncements about God are based on the great palace lie that this is a Christian country, that they were chosen by God to be his ethical consultants, and that therefore they alone know God’s will for us. The opposite of faith is not doubt: It is certainty. It is madness. You can tell you have created God in your own image when it turns out that he or she hates all the same people you do. The first holy truth in God 101 is that men and women of true faith have always had to accept the mystery of God’s identity and love and ways. I hate that, but it’s the truth.

I just think Bush and his people have gotten it so wrong."

Hierzulande ist das Gefälle ähnlich ausgeprägt, auch wenn wir keine christlichen Fundamentalisten in der Regierung sitzen haben. Noch nicht. Wenn ich mir die derzeitigen Umfrageergebnisse anschaue, könnten die Tage der rot-grünen Koalition gezählt sein. Leider. Denn bei einem Machtwechsel stehen vielleicht nicht nur politische Themen auf der Agenda, über die man mal dringend reden müsste, sondern auch ethische Fragen. Wenn ich mir die Position der CDU und vor allem der CSU zum Beispiel in der Abtreibungsfrage anschaue oder der Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern oder ähnlichen Fragen, die nicht in das eher altmodische Weltbild der Schwesterparteien passen, ahne ich, in welche Richtung Änderungen gehen würden.

Ich frage mich in solch „moralischen“ Diskussionen immer, auf welches Christentum bzw. auf welche Werte des Christentums sich die Diskussionsteilnehmer berufen, wenn sie z.B. vehement die „Homo-Ehe“ als ersten Schritt auf dem Weg ins ewige Verderben sehen und ungerührt Sozialleistungen kürzen, denn wer arbeiten will, der findet ja bekanntermaßen auch immer was. Wo ist das Mitgefühl, wo ist der – für mich – christliche Wunsch danach, dass es allen meinen Mitmenschen gut geht?

Ich bin keine Pastorin, ich habe nicht Theologie studiert, ich habe nicht mal einen Volkshochschulkurs zum Alten Testament belegt. Ich habe zwar die Bibel fast komplett gelesen, aber ich habe das Gefühl, dass sie sich selbst so oft widerspricht, dass man eigentlich nur einen Grundtenor und keine in Stein gemeißelten Gesetze aus ihr herauslesen kann (aber diese Position ist nicht unumstritten, ich weiß). Diesen Grundtenor finde ich im Neuen Testament in den Predigten von Jesus und den Gleichnissen, die er erzählt. Er bedeutet für mich: Respekt zu haben vor anderen Menschen, ihren Gedanken, Taten und Lebensentwürfen. Mitgefühl zu haben mit den Schwachen. Hilfe anzubieten, wenn sie erforderlich ist. Er bedeutet für mich, dass ich mich tagtäglich bemühe, ein guter Mensch zu sein, so altmodisch und banal sich das auch anhören mag. Es bedeutet aber auf keinen Fall, vor Abtreibungskliniken für Zellhaufen zu kämpfen (am besten mit geladenen Waffen) oder Schulleiter davon zu überzeugen, dass Of Mice and Men der Bibel widerspricht, weil Behinderte darin vorkommen, oder dass Sexualkunde ne ganz doofe Idee sei oder dass wir ganz dringend die Todesstrafe bräuchten („Auge um Auge“, siehe ein paar Absätze weiter unten).

Vielleicht ist das eine naive Sichtweise von Christentum. Vielleicht ist es aber auch nur eine persönliche Sichtweise des Christentums. Und genau das, finde ich, sollte sie sein. Religion ist etwas sehr Persönliches. An wen oder was man glaubt, ist privat und hat mit den Staatsgeschäften aber sowas von gar nichts zu tun. Ich glaube an Gott und seinen Sohn. Andere glauben an Allah, an Jehova, sie beten zu goldenen Elefanten oder von mir aus auch zu rosafarbenen Kaninchen. Wer auch immer dein Gott oder deine Göttin ist – solange es dir dabei gut geht und du mich damit in Ruhe lässt: fein. Alles kein Thema. Aber wer mich davon überzeugen möchte, dass sein Glaube der einzig Wahre ist, hat einfach schon verloren. Vor allem, wenn er oder sie mir mit der Bibel (oder dem Koran oder Dianetik) beweisen will, dass er Recht hat, denn schließlich steht in den heiligen Büchern doch alles. Das sehe ich nicht so.

Anne Lamott hat zu Heiligen Büchern bzw. dem Neuen Testament auch noch kurz was zu sagen:

"And speaking of the New Testament, I read it daily, and just cannot find the part where Jesus says that everyone should get out their guns, the part where he says that arming the angriest racists among us is an excellent idea, or the part where he discusses tax cuts."

Aber vielleicht hat Jesus ja was zu Steuersenkungen geschrieben und wir überlesen es nur? Thoralf hat mir als Nachklapper zu diesem Eintrag vor ein paar Tagen einen interessanten Link zu Nikodemus.net geschickt, der sich mit der biblischen Rechtfertigung der Todesstrafe befasst. Ich kann der Argumentation, die mit vielen Zitaten belegt wird, durchaus folgen, auch wenn ich, wie schon angedeutet, komplett anderer Meinung bin, aber wirklich beeindruckt hat mich der letzte Absatz:

"Von der Bibel her, ist die Todesstrafe als Ausübung staatlicher Gewalt okay. Darüber hinaus gibt es manche Gründe, die dafür und die dagegen sprechen, dieses Mittel einzusetzen. Diese Antwort muß jede Gesellschaft bzw. Nation für sich selber geben."

Na, Fundis, darüber schon mal nachgedacht? Selbst wenn die Bibel das Okay gibt (und selbst das ist für mich immer noch Interpretationssache), heißt das noch lange nicht, dass man es auch so umsetzen muss. Es gibt eben noch andere Institutionen, die für die Gesetzgebung zuständig sind. Womit wir bei der Trennung von Kirche und Staat wären. Vielleicht könnte mal jemand der christlichen Rechten stecken, dass nicht die Bibel, sondern das eigene Gewissen und die Verfassung des jeweiligen Landes die erste und letzte moralische Instanz sein sollte. Und das gilt nicht nur für die Jungs und Mädels in den USA, sondern auch für die Politiker und Politikerinnen, die sich vielleicht demnächst hier anschicken, die Regierung zu bilden. Was immer ihr glaubt – lasst mich damit in Ruhe. Ich hab meinen Glauben schon. Ich brauche euren nicht.
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23.03.2005

Auf Leben und Tod

Nach tagelangem, eigentlich jahrelangem Hin und Her hat nun ein US-Bundesgericht festgelegt, dass Terri Schiavo nicht weiter künstlich ernährt werden soll. Sie wird daher in einigen Tagen sterben dürfen.

Ich finde die Diskussion, die sich um den Fall in Amerika entzündet hat, ziemlich geschmacklos. Beziehungsweise finde ich es geschmacklos, dass Präsident Bush sich entblödet, seine eilige, aber im Endeffekt wirkungslose Gesetzesunterzeichnung vom Montag zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung ausgerechnet so zu kommentieren: “In cases like this one, where there are serious questions and substantial doubts, our society, our laws, and our courts should have a presumption in favor of life.”

In favor of life? Our laws, our courts? Einen derartigen Satz ausgerechnet aus einem Land zu hören, das jährlich hunderte von Menschen in eine Gaskammer schickt, sie mit einer Giftspritze tötet oder sogar auf dem elektrischen Stuhl hinrichtet, finde ich ziemlich scheinheilig. In favor of life ist die amerikanische Gesetzgebung gerne dann, wenn es um publikumswirksames Leben geht, wie zum Beispiel das vieler Ungeborener, die dringend vor ihren abtreibungswilligen Müttern geschützt werden müssen. Und nun eben das Leben von Terri Schiavo, die seit 15 Jahren in einem vegetativen Koma vor sich hinwartet. Auf den Tod, nehme ich an, der ihr gnädigerweise schon vor 15 Jahren hätte geschenkt werden sollen. Wieso ist ihr Leben auf einmal so viel wert? Und wieso ist es vor allem mehr wert als das derjenigen, die in irgendwelchen Zellen auf ihre Hinrichtung warten?

Natürlich kann man erstens argumentieren, dass es immer wieder Fälle gab, in denen Menschen auch nach jahrelangem Koma wieder erwacht sind. Meines Wissens waren das aber Komapatienten, deren Hirnfunktionen noch messbar waren, im Gegensatz zu Terri Schiavo, deren Großhirn abgestorben ist. Und zweitens ist Terris Leben nach alttestamentarischen „Auge um Auge“-Kriterien vielleicht mehr wert, weil sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Sie ist keine Mörderin, die auf ihre Hinrichtung wartet, die eventuell gnädigerweise in letzter Sekunde abgeblasen werden könnte. Sie ist nur eine Komapatientin, die Eltern hat, die sie nicht gehen lassen möchten. Verständlicherweise, aber ob ihr Handeln im Sinne ihrer Tochter ist, wage ich zu bezweifeln.

In den amerikanischen Medien und Weblogs wird gerne die Gottesfürchtigkeit Bushs zitiert, wenn es darum geht, seine Entscheidung und die des Kongresses zu rechtfertigen, Schiavo weiterhin künstlich zu ernähren: Gott gibt uns das Leben, und er nimmt es wieder. Es sei nicht unsere Aufgabe, darüber zu entscheiden, wer lebt und wer stirbt. Aber auch hier beißt sich die Argumentation wieder, denn in jedem Gerichtsverfahren, in dem jemand zum Tode verurteilt wird, maßen sich Menschen das Recht an, Leben zu nehmen. Terri Schiavo ist, soweit ich weiß, zu spät ärztlich betreut worden, um ihr bisheriges, bewusstes Leben zu retten, aber schnell genug, um noch einige Körperfunktionen aufrecht zu erhalten, die allerdings nun seit Jahren komplettiert werden müssen, z.B. durch die künstliche Ernährung. Hätte Terri vor 15 Jahren schon sterben sollen? Haben sich damals nicht schon Menschen durch die Reanimation eingemischt in eine göttliche Entscheidung (wenn wir der Argumentation folgen wollen, dass Gott bestimmt, wer lebt und wer stirbt)? Wäre dann nicht die Einstellung der künstlichen Ernährung nur die letzte und endgültige Erfüllung von Gottes Wille?

Ich finde es ziemlich anstrengend, dem amerikanischen Zickzackkurs zu folgen: Mal ist Leben etwas Heiliges, dann etwas, das man durch Menschenhand vernichten darf. Ich frage mich auch gerade, wie man z.B. den Irak-Krieg religiös rechtfertigen kann – schließlich beginnt man einen Krieg nicht in der Absicht, niemanden umzubringen. Im Fall von Saddam Hussein ist, glaube ich, eher vom Gegenteil auszugehen.

Dieses Herumgeeiere und die Tatsache, dass Religion bzw. in vielen amerikanischen Fällen der christliche Glaube gerne für persönliche Zwecke instrumentalisiert wird, macht es mir persönlich sehr schwer, meinen eigenen Glauben zu verteidigen. Es ist ziemlich nervig, allein durch das kleine silberne Kreuz, das ich trage, von vornherein in einen Topf geworfen zu werden mit einer Gruppe von Hinterwäldlern, die die Bibel wörtlich nehmen wollen und ihren Kindern beibringen, dass Darwin keine Ahnung hatte und Homosexuelle in der Hölle landen. Es ist nervig mitanzusehen, dass die Bibel gerne so ausgelegt wird, als wäre es noch 500 v. Chr, als die ersten Bücher Mose entstanden sind, anstatt dieses Buch als eine Art Guideline zu sehen mit Werten und Ideen, die zeitgemäß interpretiert werden können, in meinen Augen sogar müssen. Es ist nervig mitanzusehen, dass ein meiner Meinung nach fortschrittliches, pluralistisches, faszinierendes Land wie Amerika immer mehr zu einem Hort von religiösen Eiferern und politischen Rednecks wird, die völlig ignorieren, dass eine Zivilisation wächst und sich entwickelt und sich damit auch ihre Werte ändern und man dementsprechend den Moralkodex anpassen muss.

Ich würde mir generell mehr Respekt vor dem individuellen menschlichen Leben wünschen. Respekt für persönliche Entscheidungen, wie z.B. die eines Ehemannes, der seine vor 15 Jahren faktisch gestorbene Frau endlich gehen lassen möchte. Respekt für Menschen, die einen Fehler gemacht haben, auch einen so schwerwiegenden und unwiderruflichen Fehler wie den, jemanden zu töten. Respekt für Menschen, die an etwas glauben, Respekt aber auch für Menschen, die genau das Gegenteil glauben. Mehr Respekt für den einzelnen Menschen an sich, anstatt sich auf alte Bücher zu berufen, anstatt seine persönlichen Moralvorstellungen auf ein ganzes Land auszudehnen und anstatt den Staat entscheiden zu lassen, wie ein Einzelner zu leben – und zu sterben – hat.
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15.03.2005

Blogging on the edge

Salons neue Kolumnistin, die Schriftstellerin Ayelet Waldman, hatte ein Weblog, in dem sie nicht nur über sich, sondern auch über ihre Kinder und ihren Ehemann schrieb. Bis zu dem Tag, an dem sie öffentlich über ihren eigenen Selbstmord nachdachte. Living out loud – online.

"The entry that greeted my husband on that day was a well-researched commentary on suicide rates among people with bipolar disorder. I informed my readers, among them my husband, that what I have, the milder form of the disease, has a 24 percent suicide rate. Then I wrote, “It does not help to know that one’s mood is a mystery of neurochemistry when one is tallying the contents of the medicine cabinet and evaluating the neurotoxic effects of a Tylenol, topomax, SRRI and ambien cocktail.”

The readers of my blog had no way to determine the intentions behind my entry. Was it some kind of public service announcement, designed to help people understand the seriousness of mental illness? My husband had an easier time realizing it was a cry for immediate and urgent assistance. He, however, felt entirely powerless, sitting in a hotel room 2,000 miles away with no way to intervene and nothing to do but wonder whether he should be cursing or blessing the phenomenon of the blog. He called, he made plans to come home, but it was my girlfriends who responded with the most confidence, perhaps because they had so much less at stake than he did in my stability. They formed themselves into a kind of telephone round robin, refusing to let up until I called my psychiatrist, who immediately diagnosed a problem with the dosage of my medication. (…)

As debates rage about whether bloggers are journalists, whether they need shield laws to protect sources, whether they brought down Dan Rather and are going to take over the media world, on the other side of the blogosphere the diarists and memoirists and mothers are coping with a different set of ethical dilemmas: How much of themselves should they expose online, and how easily should they indulge their urge to confess? In my case, blogging about suicide might have crossed the line.“

Ich weiß nicht, ob der digitale Hilferuf jetzt eine Grenze überschritten hat oder nicht. Ich denke, er hat vielleicht Schlimmeres verhindert. Aber natürlich zeigt sich daran die Problematik des persönlichen Bloggens. Sobald man etwas von sich preisgibt, vielleicht etwas, was man nicht unbedingt beim Party-Smalltalk sagen würde, sondern lieber an eine gesichtslose Masse weiterreicht, drängeln sich im Kommentarfeld sehr schnell die guten Ratschläge, die blöden, die überflüssigen. Oder auch die Vorwürfe: wie könne man nur so etwas schreiben? was schnell umschlägt in das allseits beliebte „Mann, bist du scheiße“.

Das Dumme am persönlichen Bloggen, wie ich es mal nennen möchte im Unterschied zum Technikbloggen oder ähnlichem, ist, dass fast jeder Eintrag eine relativ intime Information erhält. Wenn ich zum Beispiel einen Film rezensiere, fließt grundsätzlich etwas von mir mit in die Zeilen ein, etwas von meinen Moralvorstellungen, meinen Erfahrungen, meinen Wünschen und Träumen. Deswegen kann ich mir nicht mal bei den Filmkritiken sicher sein, dass nicht die üblichen Deppenmails oder -kommentare auflaufen, die einem ein unwertes Leben bescheinigen, nur weil man vielleicht einen Film nicht ganz so gern mochte.

Stellt sich die Frage, warum man überhaupt in aller Öffentlichkeit weiterschreibt. Ich für meinen Teil muss die Frage zweiteilen: Warum schreibe ich und warum schreibe ich öffentlich. Warum ich schreibe, lässt sich einfacher beantworten: weil ich es gern tue. Ich habe schon immer gerne geschrieben, bin froh, dass ich alles und jeden Schnipsel von meinen pubertären Gehversuchen aufgehoben habe, lese heute noch die Songtexte, die ich mit 15 für ganz große Kunst hielt und blättere an schlechten Tagen in meinen Tagebüchern, um mir vorzuhalten, dass es schon früher schlechte Tage gab und dass sie sich irgendwann in gute verwandelt haben. Außerdem schreibe ich beruflich; dort allerdings eher über Dinge, über die ich sonst nicht unbedingt viele Worte verlieren würde. Daher ist das private Schreiben ganz schlicht ein Ventil. Andere Leute töpfern gehen ins Fitness-Studio, ich schreibe.

Aber warum öffentlich? Der Schritt zum Weblog war damals eher ein unbewusster. Alles fing mit den Filmkritiken an, die ich per Mail an Freunde und Kollegen schickte, bis mir einfiel, dass ich mir vor Ewigkeiten mal diese Domain gesichert hatte. Und um nicht weiterhin jede Woche Hinz und Kunz mit einer Mail zu belästigen, habe ich fortan die Kritiken auf die Seite gestellt, die ich übrigens liebevoll mit dem Netscape Composer „gestaltet“ hatte. Ich hoffe, der Google-Cache hat sie inzwischen verschluckt. Ehrlich gesagt, habe ich mir damals überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass irgendjemand den Kram lesen könnte außer den Leuten, die die URL kannten. Das Internet war für mich ein Arbeitsgerät, eine Suchmaschine und eine Möglichkeit, umsonst „Zeitung“ zu lesen, mehr nicht. Ich las ein paar Weblogs aus den USA, aber das war’s. Ich hatte ernsthaft keine Sekunde daran gedacht, dass meine Zeilen mit dem Hochladen des Textes theoretisch ab jetzt von sechs Milliarden Leuten gelesen werden konnten. Bis sich plötzlich irgendwelche Leute auf meine Seite verirrten und mir Mails schickten und eine Kommentarfunktion vermissten und ich einen Counter installierte und der ganz langsam, aber stetig vor sich hinzutickern begann. Plötzlich hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit, Feedback auf meine Texte zu bekommen, die über das übliche Maß dessen hinausgingen, was meine Freunde oder Kollegen mir gaben. Und das war nicht nur sehr spannend, sondern, ja, logisch, sehr, sehr befriedigend. Natürlich ist es etwas anderes zu schreiben, wenn man weiß, dass jemand mitliest. Natürlich ist es klasse, Zustimmung zu bekommen. Und natürlich hat es richtig reingehauen, als die ersten negativen, beleidigenden, verletzenden Stimmen aufliefen.

Das tut es auch heute noch, was die ganzen Evil-Twin-Leser sicherlich freuen wird. Im Laufe der Jahre (Omma erzählt vom Krieg) hat sich meine Art zu schreiben gewandelt, vor allem, weil ich inzwischen verstanden habe, dass die Blogosphäre genauso begriffsstutzig, doof, eitel, spannend, lustig und faszinierend ist wie es Menschen im wahren Leben auch sind. Es hat sich meine Art geändert, mit Bloggern zu kommunizieren. Wo ich mich früher über jeden unpassenden Kommentar aufgedotzt habe, warte ich heute ein paar Stunden, bevor ich antworte, wenn ich überhaupt antworte. Wo ich früher mal eben launig einen Kommentar in Fremdblogs rausgehauen habe, lese ich inzwischen erstmal eine Woche Content nach, um zu wissen, wo ich mich überhaupt bewege. Wo ich früher freudig auf jede Mail geantwortet habe, beantworte ich heute kaum noch Post, weil ich nicht weiß, ob hinter den freundlichen Zeilen nicht doch ein Spinner lauert, der ein nettes Wort mit einem Heiratsantrag verwechselt. Und wo ich früher in Diskussionen meine Position standhaft vertreten habe, schenke ich heute meist nach zwei-, dreimaligem Ballwechsel ab, weil die wenigsten Streitgespräche online funktionieren. Man kann alles so wunderbar persönlich nehmen (ich grundsätzlich eingeschlossen), man kann in jede Zeile 30 Fehlinformationen reinlesen, man kann soviele Smileys malen wie die Tastatur hergibt, es klappt trotzdem meistens nicht, den Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass man nichts Böses im Schilde führt und dass man ihn nicht von vornherein für einen hirnlosen Idioten hält, auch wenn sein Nick männlich/weiblich/Diddelmaus87 ist.

Ich habe in den Blogjahren (ein Blogjahr zählt als sieben Offline-Jahre) mein Schutzschild des Öfteren überprüfen müssen. Manchmal gibt es Tage, an denen ich die ganze Rotte teeren und federn möchte. Dann gibt es Tage, an denen ich sehr dankbar bin, einen Austauschpunkt gefunden zu haben. Und meistens bin ich einfach froh darüber, schreiben zu können und Feedback zu bekommen, sei es positiv oder negativ. Jede Reaktion hilft mir, mich und meine Worte zu überprüfen. Und deswegen schreibe ich fast alles öffentlich und kaum noch in mein Papiertagebuch. Es ist manchmal anstrengend, ständig darüber nachdenken zu müssen, dass hier Menschen mitlesen und alles irgendwie falsch verstehen können und/oder wollen. Es ist aber gleichzeitig ein einzigartiger Umgang mit dem, was ich schreibe. Es ist ein ständiges Adaptieren, ein Korrigieren der ersten Entwürfe, ein Zurücknehmen, aber auch ein Schöner-Machen, Überdenken, Überspitzen, Rauskotzen, Vor-die-Wölfe-Werfen. Manchmal weiß ich, dass ich böse Post kriege, noch bevor ich einen Eintrag online stelle. Manchmal lasse ich es deswegen. Manchmal stelle ich ihn dann erst recht online. Manchmal weiß ich, dass ein Eintrag gern gemocht werden wird. Manchmal weiß ich, von wem Kommentare kommen werden. Manchmal weiß ich, wer mich zitieren oder verlinken wird. Manchmal weiß ich, wer genau das nicht tun wird. Und meistens liege ich voll daneben mit dem, was ich zu wissen glaube.

Bloggen ist eine einmalige Möglichkeit des Schreibens und Publizierens. Es hat mich in den letzten Jahren verändert; ich bin an dieser Möglichkeit gewachsen und gereift, genau wie meine Schreibe. Deswegen möchte ich es nicht missen. Trotz mancher Tage, an denen ich genervt bin, an denen ich eigentlich nichts zu sagen habe und es gerade dann eine Herausforderung ist, doch etwas zu sagen. Persönliches Bloggen ist sicherlich immer eine Gratwanderung, wenn man ehrlich ist und sich keine Online-Persönlichkeit zulegt. Aber für mich hat es sich gelohnt, manchmal nah an der Klippe herumgelaufen zu sein. Und ich hoffe, für ein paar Leser und Mitblogger auch.

(Abspann, Geigen, Taschentücher.)
(Kommentare)



02.03.2005

Filmfestspielhaus, die zweite

Der Eintrag von Samstag hat mich in Erinnerungslaune gebracht.

Das Schönste, was mir im Kino passiert ist:

Die Privatvorstellungen, die wir uns mit den englischen Originalfassungen im großen Saal nach der Spätvorstellung gegeben haben.

Wir hatten drei Säle: das Berlin hatte 450 Plätze, das Cannes ca. 150 und das Venedig ca. 100 (honk if you get it). Während Cannes und Venedig ihrem Namen als klassische Kinoschachtel alle Ehre machten, war das Berlin einer der schönsten Säle in Hannover, Prä-Cinemaxx. Rote Plüschsitze, die nach hinten anstiegen, ordentlich große Leinwand, Dolby Digital-Ton und – eine Klimaanlage, die ihren Namen verdient hatte. Beziehungsweise immerhin eine Lüftung, die nicht die Abluft des Chinamanns nebenan einsog so wie die Gebläse im Cannes und Venedig, wo man beim Filmegucken immer nach einer Stunde anfing, ans Essen zu denken.

Die Originalfassungen liefen immer im Venedig. Zu unseren Sondervorstellungen wurden die Filme gemütlich ins Berlin gebracht, wo wir schon die Standaschenbecher aus dem Foyer im Mittelgang platziert hatten. Wir haben Taxi Driver, 2001 – Space Odyssey, A Clockwork Orange und viele andere Filme auf einer anständigen Leinwand genossen, die ich sonst im 3x2-Meter-Format oder auf Video gesehen hätte. Dazu ein Bierchen und ne Kippe, Füße hochgelegt und keine labernden Nachbarn – that’s entertainment.

Mein dämlichster Fehler:

Im Berlin und im Venedig hatten wir relativ moderne Projektoren. Im Cannes allerdings stand ein uralter Haufen Blech, den ich persönlich geliebt habe, weil er so schön nach Film roch. Das Bauer-Maschinchen stammte aus den 30er Jahren und war ein Überbleibsel aus dem Pornokino, das vor dem Filmfestspielhaus in diesen Hallen angesiedelt war. Der Unterschied zu den Philips-Projektoren war, dass der Bauer ein Linksprojektor war, d. h. man musste den Film seitenverkehrt einlegen, damit die Tonspur auf der richtigen Seite war.

Mir hat Dirk das Vorführen beigebracht, den ich total klasse fand, weil er schon mindestens 25 war, einen Dreitagebart hatte und stahlblaue Augen. Deswegen habe ich ihm wahrscheinlich nicht wirklich zugehört, als er mir das mit dem Seitenverkehrt-Einlegen erklärt hat. Nur so kann ich mir erklären, was mir in meiner ersten Vorführschicht passiert ist. Damals lief Akira im Cannes, ich legte das Filmchen ein, startete und ging dann gemütlich eine rauchen, bis der eine Gast, der sich die 14-Uhr-Vorstellung gönnte, die Treppe zur Kasse runterkam und meinte, dass der Ton irgendwie arg seltsam wäre. Ich ging in den Saal, sah ein perfektes Bild und hörte – ein durchdringendes RRRRRÖÖÖÖÖÖÖÖ. Dirk saß unten vor den Monitoren und lachte sich tot, während ich im Vorführraum hektisch den Film durchschnitt, die wenigen Minuten, die schon gelaufen waren, vom Teller nahm, einen neuen Ring einsetzte, den Filmstreifen vor dem Projektor umdrehte und ihn neu einlegte, so dass die Tonspur auf der Seite war, wo sich auch die Tonlampe befand. Wenn ich Japanisch gekonnt hätte, wäre mir schon beim Bild aufgefallen, dass sämtliche Schriftzeichen spiegelverkehrt waren. Ich wollte dem Gast für die Unannehmlichkeiten ein Eis ausgeben, aber er hat lieber ein Bier genommen.

Mein teuerster Fehler:

Wir hatten seit einigen Wochen The Doors im Programm. Der Filmkopie lag ein Brief von Oliver Stone bei, doch bitte den Ton so laut aufzudrehen wie nur geht. Was bei uns im Berlin hieß: auf 10. Und das hätte noch lauter gekonnt. Nach einigen Wochen wanderte der Film ins Cannes, ins kleinere Kino. Dort war der Ton eher muckelig, aber damals war man ja schon dankbar, wenn’s wenigstens Stereo war. In einer Spätvorstellung kam ein Besucher an die Kasse und meinte, der Ton würde sich echt komisch anhören. Der Film lief zu dieser Zeit bereits über eine Stunde, und ich dachte mir, och nee, wieder so ne Nölnase, der jetzt erst auffällt, dass der Ton nicht ganz so der Bringer ... aber egal. Ich sagte pflichtschuldig: „Ich schau mal nach“ und begab mich in den Vorführraum, wo mich ein bisher ungesehenes Bild erwartete und ich dem Zuschauer im nachhinein absolut recht geben musste, was den „komischen“ Ton anging.

Der Projektor war, wie gesagt, nicht mehr ganz der jüngste, und just an diesem Tag hatte er beschlossen, mal wieder ein bisschen mehr aus dem Leim zu gehen. An das raustropfende Öl hatten wir uns alle schon gewöhnt, auch daran, dass der Projektor viel zu heiß wurde, weswegen man sich manchen Stellen besser nur langärmelig oder gar nicht nähern sollte, aber das gehörte eben einfach dazu. Was nicht dazugehörte, war, dass sich direkt hinter der Blende ein winziges Metallteil irgendwie nach oben gebohrt hatte und nun den Film, der gerade auf dem Weg zur Tonlampe war, fein säuberlich in zwei Hälften zerteilte. Eine lief weiter durch den Projektor und brav auf den Teller, wo sie hingehörte. Die zweite Hälfte lief gelangweilt auf den Fußboden des Vorführraums. Und zwar die mit der Tonspur.

Alles, was ich tun konnte, war, mal wieder Freikarten auszustellen und dem Verleih zu beichten, dass wir soeben eine gerade mal sechs Wochen alte Filmkopie unwiderruflich zerschreddert hatten. Was unsere Versicherung so um die 20.000 Mark gekostet haben dürfte, denn so teuer war damals eine neue Kopie (wenn ich mich richtig erinnere). Und dann durfte ich der UFA mitteilen, dass sie ein bisschen Reparaturgeld in einen 60 Jahre alten Projektor stecken müsste.

Mein historischster Fehler:

Wir waren das einzige Kino in Hannover, das konstant mindestens eine Originalversion zeigte. Das brachte eine freundliche Englischlehrerin auf die Idee, doch mal bei uns nachzufragen, ob man vielleicht Easy Rider ins Programm nehmen könne – sie würde das gerade im Leistungskurs durchnehmen und das wäre doch toll, so einen Klassiker mal auf einer „großen“ Leinwand zu sehen anstatt auf Video im Klassenzimmer. Ich fand den Plan knorke, habe flugs eine Klassiker-Filmreihe zusammenfabuliert und bei der UFA um die Filme gebettelt, die ich wider Erwarten auch bekommen habe.

Easy Rider ist, wie wir alle wissen, ein sehr alter Film. Er war auch schon 1990 sehr alt, und das hieß, dass die Filmkopie praktisch nur noch aus Klebestellen und Laufstreifen bestand. Laufstreifen sind diese ekligen, ja, Streifen eben, die senkrecht durchs Bild laufen. Sie entstehen durch schlecht gepflegte Transportrollen, auf denen der Film zum Projektor läuft. Wenn die Streifen schwarz sind, hat man Glück, dann hat nur die unbeschichtete Rückseite des Filmstreifens einen Kratzer abgekriegt, das kann behoben werden. Wenn sie allerdings giftgrün sind, hat die beschichtete Seite eine Macke; diese Streifen bleiben und nerven. Was ich sagen will: Die Easy Rider-Kopie war nicht die beste, sondern mit viel gutem Willen gerade noch als fragil zu bezeichnen.

Es gibt für Filmkopien ein Bewertungssystem, damit der Vorführer so ungefähr weiß, welche Qualität er durch den Projektor jagt; die Noten gehen von 1 bis 4, und Easy Rider hatte eine fette 4. Zu Recht. Das hat ihm allerdings nicht das Genick gebrochen. Was ihm das Genick gebrochen hat, war die Tatsache, dass er im Cannes gelaufen ist – eine Woche nach dem Vorfall mit der Doors-Kopie. Offiziell war der Projektor repariert worden; inoffiziell hatte irgendein UFA-Hausmeister mit einem Hämmerchen das Metallteil in die Tiefen des Projektors zurückgeklöppelt und behauptet, dass das halten würde.

Hat es nicht. Auch Easy Rider endete zweigeteilt. Und damit auch die Geschichte der Originalkopien dieses Films in Deutschland. Der Verleih teilte mir mit, dass das die letzte noch existierende Kopie von 1969 gewesen sei. Und auch vom Bauer-Projektor hieß es Abschied nehmen: Er wurde in die ostdeutsche Provinz versetzt, und wir haben einen Philips gekriegt. Der Vorführraum im Cannes war danach nicht mehr derselbe.

Der beste Film:

Die Jungfrauenmaschine. War der erste Film, den wir im Filmfestspielhaus gezeigt haben. Davor war es, wie gesagt, ein Pornokino. Was dazu führte, dass ne Menge Stammkundschaft an die Kasse trat und „Einmal die Jungfrau“ haben wollte.

Ich habe selten Menschen so schnell wieder aus einem Kino kommen sehen.
(Kommentare)



26.02.2005

Deep Throat

(Haha, gotcha.)

Eine Online-Ausstellung der Originaldokumente der Watergate-Affäre: Notizbücher von Woodward und Bernstein, die Scans aus der Washington Post, Leserbriefe. Außerdem verschiedene Drafts des Films mit Dustin Hoffman und Robert Redford, All the President’s Men (Die Unbestechlichen), und Notizen von Woodward/Bernstein zu ihrem Buch The Final Days. Via Marie.

Die Dokumente erinnern mich ein bisschen an meine alte Kino-Zeit im Filmfestspielhaus Hannover (Gott hab es selig). Ich habe Anfang der 90er als Kartenabreißerin angefangen, dann habe ich Popcorn vertickt, dann die Kinokarten, dann habe ich Vorführen gelernt, dann die Buchhaltung, und als meine Chefin ihr Babyjahr gemacht hat, war das Kino plötzlich mein Kino und ich offiziell Theaterleiterassistentin. Vulgo: Cheffe. Die Frau, die Stundenpläne machte und Gehalt auszahlte, die die UFA-Zentrale in Hamburg mit Bettelbriefen um mehr Originalversionen nervte („die Kunst! Die Kunst! Wir reden doch hier nicht über Geld!“ Little did I know) und die ihren Angestellten, die eben noch ihre Kollegen waren, jetzt leider verbieten musste, sich nach Feierabend noch im Bierlager zu bedienen. Oder wenn sie es tun, dann doch bitte dafür zu sorgen, dass die Bestände morgens wieder vollzählig sind, bevor Frau Gröner die Inventur macht und einen Herzkasper kriegt, weil 20 Flaschen Warsteiner fehlen.

Der Film JFK von Oliver Stone war einer, der mir in Erinnerung geblieben ist. Nicht nur, weil ich keine Lust auf die doofe Pause hatte, die der Verleih gerne haben wollte und ich deswegen den kompletten Film, anstatt ihn auf zwei Rollen zu verteilen, auf eine einzige Rolle aufgespult habe, die natürlich ausgerechnet am Samstag in der 20-Uhr-Vorstellung einen Abgang gemacht hat, woraufhin ich 400 Freikarten ausstellen musste.

Zur Erklärung: Filme kommen in einzelnen so genannten Akten im Kino an. Jeder Akt ist in einer dieser schicken metallenen Filmdosen und beinhaltet ungefähr 20 Minuten Film. Der Vorführer setzt sich Mittwoch Abend bzw. Nacht hin und spult die einzelnen Akte auf eine Rolle bzw. einen Metallring mit ungefähr 40 cm Durchmesser, in den dann eine Spule gesetzt wird, durch die der Film zum Projektor läuft. Die einzelnen Akte werden zusammengeklebt; dass ein so genannter Aktwechsel stattfindet, merkt der aufmerksame Zuschauer daran, dass oben in der rechten Ecke des Bildes die Wechselzeichen aufblinken (Dreieck, Kreis etc). Die sind ein Überbleibsel aus der Zeit, als noch mit zwei Projektoren gleichzeitig gefahren wurde. Das heißt, die Filme wurden eben nicht auf eine Rolle gespult, sondern in einem Projektor wurde Akt 1 gestartet, während im zweiten Projektor Akt 2 wartete. Sobald die Zeichen aufleuchteten, wusste der Vorführer, wann er den zweiten Projektor zu starten hatte, wann er die Blende zu öffnen hatte usw., um eine reibungslose „Überblendung“ hinzukriegen.

Dass ein Aktwechsel stattfindet, merkt man auch gerne mal am ruckeligen Bild bzw. dem unguten Gefühl, dass gerade eine Sekunde Film fehlt. Denn die Filmkopie wird von Theater zu Theater weitergereicht, was bedeutet: Nach dem Abspielen des Films muss er natürlich wieder in einzelne Akte zerlegt werden. Der Vorführer setzt sich also nochmal an sein Tischchen und spult aus der großen Filmrolle soviel Film ab, bis er die untrügliche Klebestelle in der Hand hält, die die Akte verbindet, und trennt sie wieder. Das kann man schick mit der Schere machen; das kann man aber auch schnell mal auseinanderreißen. Dabei reißt man manchmal ein Bildchen zuviel ab, und wenn das 24 Vorführer hintereinander machen, fehlen 24 Bilder und damit eine Sekunde Film. Und wenn der Film schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat und gerne mal auf Festivals oder in irgendwelchen Programmkino-Spätschienen läuft wie zum Beispiel Birdy, dann passiert es auch mal, dass Frau Gröner an der Kasse ihres Kinos ein Schild aufstellen musste, auf dem sinngemäß stand: „Das Ende, das Sie in Birdy sehen, ist nicht wirklich das Ende. Wenn Sie den Film noch nicht kennen, kommen Sie bitte nach der Vorstellung an die Kasse und lassen sich erzählen, wie er ausgeht.“

Wer Birdy kennt, erinnert sich: Matthew Modine glaubt, er könne fliegen. Er steht auf einem Dach, und hinter ihm steht Nicholas Cage, der ihn anfleht, nicht über die Kante zu springen, weil Matt ganz eventuell vielleicht doch nicht fliegen könne. Matthew nickt – und springt. Und da war die Kopie, die wir hatten, zu Ende. Beziehungsweise der Abspann fing an. In jeder anderen Kopie kommen dazwischen noch zehn Sekunden Film, in denen wir sehen, dass Matthew zwei Meter tiefer auf einem Dachvorsprung landet und somit nicht das Zeitliche segnet. Wir haben also brav den Besuchern das Ende erzählt, und ich habe der Columbia einen Brief geschrieben, in dem ich darum bat, diese Kopie doch bitte einfach wegzuschmeißen. Oder wenigstens für einen neuen letzten Akt zu sorgen. Was auch kein guter Plan ist, denn natürlich wird eine Kopie komplett vom filmischen Original gezogen und nicht jeder einzelne Akt. Das heißt, die Kopien sind in sich geschlossen, können sich aber von anderen Kopien unterscheiden, zum Beispiel in der Helligkeit oder der Farbigkeit. Das merkt man auch gerne mal daran, wenn das Bild nach einem Aktwechsel plötzlich grünlicher aussieht. Dann hat man eine von den Kopien erwischt, in die nachträglich ein Akt eingesetzt wurde.

Zurück zur großen Spule bzw. dem Ring, auf dem der Film aufgespult wurde. Der Anfang des Film befindet sich in der Mitte, direkt auf dem Ring. Jeder weitere Akt kommt dahinter, das heißt, das Ende des Films liegt ganz außen. Die große Filmrolle ist nämlich nicht senkrecht in einem Projektor, wie wir das von kleinen Rollen im Heimkino kennen, sondern eine fertige Filmrolle hat ungefähr einen Durchmesser von einem knappen Meter und liegt waagerecht auf einem so genannten Teller. Jedenfalls bei den Projektoren, die wir damals hatten (hier gibt’s ein paar Fotos des Philips-Projektors und der Teller). Das bedeutet, je länger der Film läuft, desto weniger Film liegt auf dem Teller. Was eigentlich kein Problem ist, außer der Film ist so lang wie JFK – dann liegen ungefähr eine halbe Stunde vor Schluss nur noch fünf Zentimeter Plastik ganz außen am Rand des Tellers, der sich nicht gleichmäßig dreht, sondern ruckartig (Trägheit des Auges, Grundlagen der Filmprojektion, you know the deal), was dazu führt, dass der Filmrest immer instabiler wird. Und irgendwann, wenn die Filmgötter nicht gnädig sind, rutscht der Filmrest einfach so vom Teller anstatt brav durch den Projektor zu laufen. Und dabei fällt er nicht einfach auf den Fußboden vom Vorführraum, was schon nervig genug gewesen wäre, nein, er wickelt sich dabei auch noch ungefähr hundertmal um den Arm, der die (bei uns) drei Teller miteinander verbindet. Deswegen bestand auch keine Chance, den Filmabend für das 20-Uhr-Publikum zu retten, und deswegen gab es Freikarten en masse. Und Frau Gröner hat zwei Stunden damit zugebracht, den Filmrest immer wieder um den Arm zurückzuwickeln, um ihn nicht allzuoft zerreißen zu müssen und damit Klebestellen zu produzieren, die, wie wir ja ein paar Absätze weiter oben gelernt haben, DAS BÖSE sind.

(Irgendwann schreibe ich auch noch in aller tragischen Ausführlichkeit die Geschichte auf, wie mir mal die komplette West Side Story vom Ring gerutscht ist, als ich den Film von der Senkrechten (Transport von einem Vorführraum in den anderen) in die Waagerechte (auf den Teller) bringen wollte und wie ich dann einen ganzen Nachmittag in einem 40 Grad heißen Vorführraum damit zugebracht habe, fünf Kilometer Film per Hand wieder auf den verdammten Ring zu kriegen, aber dafür habe ich gerade keine Kraft. Die Erinnerung allein macht mich sehr, sehr müde.)

Denn eigentlich wollte ich folgendes erzählen: Damals gab es in Hannover noch das Amerika-Haus, das inzwischen, soweit ich weiß, irgendwelchen Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen ist. Damals stand es noch und war für mich altem Ami-Fan ein Quell der Freude. Es gab Bücher und Videos im Original, man konnte sich durch sämtliche Vorlesungsverzeichnisse amerikanischer Unis wühlen (remember: Anfang der 90er. Nix Internet), man konnte amerikanische Zeitschriften lesen oder auch nur der schönen Sprache der Angestellten zuhören.

Als JFK anlief, haben wir zusammen mit dem Amerika-Haus eine kleine Ausstellung im Kino veranstaltet. Wir hatten ein Original einer amerikanischen Zeitung im Schaukasten, die über den Kennedy-Mord 1963 berichtete. Wir hatten verschiedene Bücher zum Thema, die man sich anschauen konnte, und an einem Wochenende hat der Leiter des Amerika-Hauses einen Vortrag darüber gehalten, welchen Effekt die Ermordung des Präsidenten auf ihn persönlich und sein Umfeld gehabt hat. Für mich war diese Zusammenarbeit sehr spannend, weil dadurch aus einem Film plötzlich ein Zeitdokument wurde bzw. ein fiktiver Film wurde in einen realen Zusammenhang gesetzt. Er bekam plötzlich eine Bedeutung, die über pure Unterhaltung hinausging. Man mag von der Theorie, die dem Film zugrunde liegt, halten, was man will. Aber für mich ist JFK immer noch mehr als ein bisschen Zelluloid auf einer Rolle. Für mich ist er ein Dokument, das wir im Kino mit weiteren Dokumenten angereichert haben.

Und wenn ich mir jetzt die alten Ausschnitte aus der Washington Post anschaue, stellt sich wieder dieses Gefühl ein, das ich damals hatte, als ich die Zeitung zum Kennedy-Mord betrachtet habe. Das Gefühl, man wäre dabei gewesen. Nur durch einen Zeitungsausschnitt. Oder einen Film.
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13.02.2005

Im Fieber

Die Bettdecke ist ein Gebirge, sie ist weiß und warm und plötzlich starr und kalt und ich muss eine zweite und eine dritte über das Gebirge werfen, damit es mich wärmt.

Die Schultern, an die ich mich so gerne anlehne, sind viel zu groß auf einmal, ich kann sie nicht umfassen, meine Hände rutschen ab, ich erkenne sie nicht einmal wieder. Meine Nase riecht anders, meine Augen können sich nicht konzentrieren, bist du das wirklich und wieso fühlst du dich so anders an?

Mein Kopf ist dumm, er versteht kein Internet und kein Fernsehen und erst recht kein Buch, alles gleitet an ihm ab, er kann sich gerade mal für eine halbe Stunde zusammenreißen, dann wird er wieder müde und schaltet sich einfach ab für die nächsten zwei Stunden, bis ich ihn wieder wachhuste. Er fährt genervt hoch, versucht zu denken und resigniert dann doch wieder vor Bildergeflacker und Buchstabengewirr.

Der Gang in die Küche, Tee kochen, viel Flüssigkeit, zehn Meter sind zehn Meter zuviel, mein Kreislauf ist irgendwo da unten, ich halte mich an der Wand fest, die Tapete fühlt sich an wie granitener Putz, scharfkantige Fläche unter meinen heißen Händen, die Wohnung habe ich noch nie gesehen, lebe ich hier?

Meine Haut, meine Haare, mein Atem, alles viel zu warm, alles zu nah an mir dran, alles so aufdringlich, geht nicht weg, lässt mich nicht schlafen, die Berührungen von außen mit Taschentüchern und Tabletten fühlen sich an wie ein Kampf anstatt wie ein Versöhnungsversuch
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03.02.2005

Eh, du, „Chris“, ...

… der du gestern gegen 14 Uhr einen recht unflätigen Kommentar unter eine meiner Kinokritiken geschmoddert hast, den ich wegen deiner fäkalen Wortwahl leider zügig löschen musste, schade, gell, „Chris“, aber hey, dass du trotz mangelnder Rechtschreibkenntnisse und einer augenfälligen Antipathie gegen Kommata es geschafft hast, in deine geschmackvolle Fake-Mailadresse „chris@fuck-you.com“ einen Bindestrich zu setzen, das, „Chris“, fand ich dann doch wieder schön.
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27.01.2005.

(read shhhh)

Buchenwald. Jugendfreizeit in der DDR. Zuerst das Goethehaus, Mittag essen, Sättigungsbeilage, in den Bus, den Ettersberg hinauf, Weimar zu Füßen. Man sieht Buchenwald aus Weimar nicht. Unser Führer (viele Witze über diese Bezeichnung, keiner dabei, den er noch nicht gehört hätte, wie er uns sagt) erzählt uns vom Ascheregen, der manchmal tagelang nicht aufhörte. Wir gehen durch das Tor, in dem „Jedem das Seine“ in Eisen geschmiedet steht. Die Uhr über dem Tor ist auf die Uhrzeit der Befreiung eingestellt. Wo früher die Baracken standen, sind heute die Fundamente mit Steinen nachgezeichnet. Eine große, plane Fläche, über die der Wind weht, wie in einem sehr, sehr schlechten Film. Das Wort „Totenstille“ fällt mir ein. Wir besichtigen die Genickschussanlage, und mir ist unwohl dabei, eine derartige Konstruktion zu „besichtigen“. Der Zellenblock für die Einzelhaft. Die nachgebildeten Holzkarren, auf deren Originalen Steine für die Straße nach Weimar transportiert werden mussten. Der Pfahl, an dem Gefangene an den Handgelenken aufgehängt wurden, bis die Schultern auskugelten. Die Öfen, vor denen einige aus der Gruppe posieren, um ein Foto zu machen. Was für ein Urlaubsdia. „Ach, guck mal, da waren wir im KZ.“ Die Pathologie. Die gekachelten Bänke und Becken, der Abfluss im Boden. Dann die Ausstellung, die fast nur von den Kommunisten und Ernst Thälmann erzählt, von den russischen Gefangenen. Alle anderen werden nebenbei erwähnt. Eine Vitrine mit Kinderschuhen aus Auschwitz. Eine Mitreisende fragt mich, wieso man das nötig habe, Schuhe aus Auschwitz hierher zu bringen – reiche das noch nicht, was man hier sieht? Und ob ich mal ein Taschentuch habe. Hab ich nicht. Ich hab keine mehr. Das Ende der Ausstellung markieren rote Fahnen und ein Hinweis auf den antifaschistischen Schutzwall und das obligatorische Honeckerbild.



Theresienstadt. Klassenfahrt nach Prag. Eine Busladung von 17- und 18jährigen, die einen Abend vorher Türme aus leeren Biergläsern in der Prager Altstadt gebaut haben. Das „Vorzeige-KZ“, die „jüdische Mustersiedlung“. Das Ghetto. Über dem Tor „Arbeit macht frei“. Die anderen besichtigen einen Tunnel, der durch das Lager führt. Ich warte lieber draußen. Ich habe Angst, wenn es so eng ist. Hier draußen ist es still. Es regnet. In einer Art Schulungsraum sehen wir Filme, die die Alliierten nach der Befreiung in mehreren Konzentrationslagern gedreht haben. Die Skelette in den Gruben. Die Brillengestelle. Das Zahngold. Die Haare. Die Koffer, Taschen, Kartons. Die gestreiften Anzüge, die sprachlosen Gesichter. Nach fünf Minuten gehen die ersten nach draußen, eine rauchen.



Bergen-Belsen. Schulausflug, 10. Klasse. Ein Mitschüler mit FAP-Aufnäher an der Bomberjacke. Er steht da, mit den Händen in der Tasche, während ich mir die Vitrine zu Anne Frank durchlese. Alles wirkt wie ein Park, die Ruhe, sauber geharkte Wege, Blumen. Ab und zu eine Tafel „Hier liegen 1000 Menschen“, „Hier liegen 5000 Menschen“, „Hier liegen 10.000 Menschen“. Eine Wand, an der Kränze niedergelegt werden. Auf der Rückfahrt die vergebliche Diskussion mit dem FAP-Mitschüler, der sich in das Stichwort „Auschwitzlüge“ verbeißt. Wir diskutieren mehrere Geschichtsstunden lang. Irgendwann möchte ich ihm nur noch eine reinhauen.



Urlaub in Israel. Das Fischrestaurant in Tel Aviv, das komische Gefühl beim Treiben im Toten Meer, die Golan-Höhen, die Kindergartengruppe in Akko mit ihren Aufseherinnen, die beide ein Gewehr geschultert haben, die Grabeskirche in Jerusalem, die Klagemauer, der Felsendom, Beth-Schean, Masada, Bethlehem, Sonne, das Mittelmeer, das Rote Meer, Urlaub eben … Tiberias am See Genezareth. Kurz vor Abfahrt des Reisebusses. Ich bin zu spät, haste aus dem Hotelzimmer, sehe den Fahrstuhl auf meiner Etage, in dem ein alter Mann steht, ich rufe “Hold it, hold it, please”, und er hält mir freundlich die Tür auf. “Thank you”, Baseballmütze zurechtgerückt, Rucksack aufgesetzt. “Are you American?” “No, I’m German.” Er hört meine Worte und sein Lächeln verschwindet. Er tritt so weit wie möglich von mir weg, drückt sich an die Fahrstuhlwand und schaut demonstrativ an mir vorbei. Ich sehe seine Tätowierung und wäre gerne unsichtbar.


Yad Vashem. Die Halle, in der die Namen von allen Konzentrationslagern auf dem Boden geschrieben stehen. Kränze, eine Feuerschale, es ist fast dunkel. Und es ist sehr still. Die Allee der Gerechten, die Bäume, die für die Retter gepflanzt wurden. Ich kenne keinen der Namen. Die Austellung mit den Bildern, die mich immer noch zum Weinen bringen. Kann man bei diesen Fotos jemals abstumpfen? Kann man irgendwann begreifen, was geschehen ist? Kann man verstehen, wie aus Menschen Mörder werden? Kann man ermessen, wieviel sechs Millionen sind?

In der Gedenkstätte ein großer, niedriger Raum. In ihm sind Regale aufgereiht, in denen Akten stehen. Eine Akte für jeden Juden, der umgebracht wurde. Die bekannten Daten, Bilder, wenn vorhanden, ehemaliger Wohnort, Tag der Deportation, in welches Lager, Tag der Ermordung. Eine Akte pro Mensch. Ein blödes Blatt Papier zwischen zwei Pappdeckeln. Alles, was noch da ist. Eine verdammte Akte.

Ich kann die Rückwand des Raumes nicht sehen. Nur Regale und Akten. Der Raum hat kein Ende. Der Raum hat einfach kein Ende.
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14.01.2005

sieben

Stolz/superbia Ich hab mehr Leser als du Ich hab mehr inbound links Ich werde zu mehr Bloggertreffen eingeladen Ich hab schon Interviews gegeben Ich stand schon auf SpOn Ich hab ein Buch rausgebracht Ich bekomme den wenigsten Kommentarspam Ich hab die längste Blogroll Ich hab die meisten Einträge Ich hab schon in finnischen Clubs gespielt Ich weiß als Einziger, dass target_blank doof ist Ich weiß, dass Smileys der Untergang der zivilisierten Welt sind Ich kenne alle Rechtschreibregeln Ich weiß, was „Weblog“ bedeutet

Habsucht/avaritia Ich bezahle nichts für meine Software Ich beschwer mich aber trotzdem Ich sag dir nicht, wie man Spammer loswird Ich helfe dir nicht gegen Stalker Ich sag dir nicht, wo die coolen Jungs spielen Ich verrate dir nicht, wie man den Hintergrund ändert Ich geb dir das Passwort nicht Ich verlinke dich nicht

Neid/invidia Wieso kann ich nicht so klug schreiben wie Praschl Wieso hab ich nicht so viele Leser wie das Bildblog Wieso wollen mich nicht alle abschleppen wie Lyssa Wieso ist mir kein neuer Slang eingefallen wie Ingeborch Wieso werde ich nicht so geliebt wie … ja, wer eigentlich Wieso hab ich bei den Blogawards nicht gewonnen Wieso bin ich nicht im Buch Wieso entdeckt mich kein Verleger Wieso entdeckt mich nicht mal ein Mann

Zorn/ira Die Bahn geht mir auf die Nerven und das schreib ich jetzt auch Die Telekom geht mir auf die Nerven und das schreib ich jetzt auch Microsoft geht mir auf die Nerven und das schreib ich jetzt auch Die Politik geht mir auf die Nerven und das schreib ich jetzt auch Meine Frau geht mir auf die Nerven und das schreib ich jetzt auch Keiner versteht mich Dabei weiß ich doch alles Dabei bin ich doch der Beste Dabei könnte ich euch allen alles erklären Und das schreib ich jetzt auch

Wollust/luxuria Geil, mein Lieblingsblog zitiert mich Geil, ich hab Fanpost bekommen Geil, den Link kennt noch keiner Geil, das Zitat, nach dem ich per Mail gefragt hab Geil, das Buch wollte ich schon immer besprochen haben Geil, da mag jemand die gleiche Musik wie ich Geil, ich schreib einfach irgendwas und irgendwer findet’s geil

Völlerei/gula Registrieren Kommentarfunktion Publishing Software Blogstats Blogshares Blogtree Blogchalk Blogtalk Community RSS Trackback Ping Flash Dolby Surround 3D Virtual Reality und das alles auf nem neuen G5

Trägheit/acedia Eine Woche nichts geschrieben Einen Monat nichts geschrieben Keine Kommentare Keine Leser Kost ja nix Muss ja nix Kommt was im Fernsehen Sind noch Chips da Gibt’s noch nen Trend, bei dem ich mitlaufen muss?
(Kommentare)



10.01.2005

And then he said ...

“Do you speak English?”

“This is my first smile in weeks.”

“I’ve never met anyone like you.”

“You are a great person, but you are in the wrong package. And that made me think: Do I really look just for the right package?”

“You make me question my taste.”

“Whenever I listen to you, I hear myself.”

“I’m not afraid of going home because this world is not so dark anymore.”



“I don’t even have milk or bread at my place. I waited for you to arrive. Now we can go SHOPPING AT TWO IN THE MORNING.”



Karl Dewaine Glass, 10.01.1962 – 02.12.1999

Happy birthday, love. Wish you were here.

(Kommentare)



02.01.2005

words in progress

Die alten Kinokarten durch die Hände gleiten lassen, nochmal nachfühlen, ob man wirklich im Kino war, sich erinnern, dass man in viele Filme aus einem blödsinnigen, irrealen Pflichtgefühl gegangen ist

- den unbekannten Lesern gegenüber, weil man ja nach dem Film planmäßig zum iBook fährt, rennt, bloß keinen Gedanken verlieren auf dem Weg nach Hause, neuerdings gerne mit dem Bus ins Kino, weil man danach ins Moleskine erste Fetzen schreiben kann und nicht bis zum iBook warten muss, sich an Zitate erinnern, an Bilder, an Momente, die besonders waren, an alles, was schön ist und neu und unbekannt und aufregend, dann diese unfassbaren Augenblicke zusammenfassen, dauert inzwischen fast immer genau eine Stunde, eine Kritik, eine Stunde, die Schwierigkeit, den ersten Satz zu finden, der in den Text hineinlockt und den letzten, der den Leser wieder entlässt, der Mittelteil, nicht zu opulent, aber doch ausführlich durchdacht, nicht zuviel verraten, nicht zuwenig, soll’s jetzt lustiglaunig werden oder doch eher faseligfilosofisch, da ist sie wieder, meine Lust am Worteerfinden, passt das denn überhaupt, ist das nicht zuviel von mir, muss ich mich nicht völlig zurücknehmen, wenn ich be-schreibe, ist ja schließlich das fertige Werk eines anderen, das ich seziere, muss ich nicht Abstand halten, kann ich so nah rangehen, kann ich mich mit einbringen, wenn nicht, wozu dann das alles, wozu sollte ich sonst schreiben, wozu sollte ich mich an alles erinnern, was weh getan hat

- dem anzuhäufenden Popkulturwissen gegenüber, man will ja schließlich wissen, was passiert, man muss Tagesschau gucken und Spiegel Online lesen und salondotcom und die völlig zugestopfte Blogroll, lesen, begreifen, hinterfragen oder doch bloß die Augen aufreißen und hoffen, dass ein paar der Buchstaben im Hirn bleiben, damit man schlau klingt, wenn man sich mit neuen Bekanntschaften unterhält oder total clevere Referenzen in seine Texte einfließen lässt oder lustige Ideen für Kunden entwickelt, nimm alles mit, lies mehr, guck mehr, mach mehr, probier mehr, nicht abschalten, dranbleiben, tuned stayen, weitergucken, weiterschlucken, weiterspucken bis dahinten über die Ziellinie, kannst du sie sehen, ich finde den Horizont schon nicht mehr vor lauter Worten und Bildern und Lärm

- mir selbst gegenüber, zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen und alles anfassen und alles essen und alles erleben, bloß nicht stehenbleiben, bloß nichts verpassen, bloß nichts vergessen, weiteratmen, schnellschnell, zackzack, ein, aus, rein, raus, lauf weiter, guck weiter, mach weiter, könnte ich glücklicher sein, wenn ich weniger wüsste, könnte ich zufriedener sein, wenn ich nicht immer irgendetwas nachjagen müsste, einem Ideal, einem Wissensstand, einem Fähigkeitsgrad, einer Optik, einer Summe, könnte ich einfach mal stehenbleiben und sagen, das ist es jetzt, mein Leben, so und nicht anders, nichts soll sich ändern, alles soll so bleiben, kann ich nicht, weiß ich ja, anywhere but here, anytime but now, anyone but me und selbst in den Momenten, in denen ich alles habe, in denen mir alles gehört, in denen mir nicht mal eine winzige Kleinigkeit einfällt, die ich mir wünschen könnte, selbst dann höre ich nicht auf, mir winzige Kleinigkeiten zu wünschen, und so merke ich gar nicht, dass alles schon da ist, was ich mir gewünscht habe, dass ich bin, was ich immer sein wollte, dass ich so glücklich bin, dass ich schon wieder unglücklich bin

wozu das alles, keine Ahnung, aber jetzt hab ich die Karte schon gekauft und das Licht geht aus und ich will den Leuten, die immer noch reden, eine reinhauen und da kommt das Produktionslogo und der Vorspann, Gesichter flackern, Leben werden erzählt und ich merke, wie ich lächele, bei jedem verdammten Film, es erwischt mich immer wieder, blödes Kino, blöde Filme, Flucht vor sich selbst, Flucht zu sich selbst, I salute you, I need you

I love you.