Bücher August 2013

David Wagner – Leben

Wagner wurde bereits als Jugendlicher mit einer Leberkrankheit diagnostiziert und beschreibt in seinem Buch unter anderem seine erfolgreiche Lebertransplantation. Das ganze sind Gedankensplitter, die ihm während der Krankenhausaufenthalte kommen, was sich erstmal belanglos anhört, aber in seiner Dichte eine ziemlich spannende Lektüre ergibt. Geht auch gleich gut los mit ner Menge Blut. Weiß man gleich, wo’s langgeht.

Eugen Ruge – Cabo de Gata

Den Erstling von Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts, mochte ich sehr gerne, und auch sein zweites Buch fand ich gut. Die Story ist recht klein; ein Mann verlässt Hals über Kopf seine Stadt und fährt nach Spanien, wo er schreibt, guckt, am Strand entlanggeht und sich schließlich mit einer Katze anfreundet. Es passiert recht wenig und zum Schluss würgt er der wohlmeinenden Leserin auch noch einen rein, aber ich habe das Buch sehr gern gelesen.

Katja Krauss – Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern

Das Buch versammelt mächtige Menschen und befragt sie zu ihrer Motivation, das zu werden, was sie geworden sind – und schließt mit dem Verlust dieser Position und dem damit verbundenen Einfluss. Schön am Buch ist, dass nicht jede Persönlichkeit einzeln drankommt, sondern dass die Kapitel nach Themen geordnet sind und man so mehrere Stimmen zu einer Grundaussage bekommt. Weniger schön bzw. eher seltsam fand ich die Auswahl einiger Menschen: dass man Politiker und Politikerinnen bzw. Wirtschaftslenker fragt, verstehe ich, aber Sportlern eine Art Macht zuzugestehen, fand ich ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Trotzdem: sehr interessant, gerne gelesen.

Simon Borowiak – Schade um den schönen Sex

Zwei Freunde verbringen Weihnachten statt im verschneiten Hamburg im runtergekommenen Teil von Nizza und treffen in ihrem genauso runtergekommenen Hotel die zwei Besitzer sowie eine kleine Familie. Ich mag den Stil von Borowiak sehr gerne, hier fand ich die Story aber eher schwach und habe zum Schluss etwas quergelesen.

Hans Sedlmayr – Verlust der Mitte

Klassiker der Kunstgeschichte. Sedlmayr hat sich entspannt durch die Nazizeit gerettet und 1948 Verlust der Mitte geschrieben, wo er ein bisschen darüber jammert, wie seelenlos die moderne Kunst sei. Wenn man die heiklen Stellen überliest bzw. mal kurz in vernünftige Thesen übersetzt, erfährt man aber doch eine Menge über die Entwicklung von Kunst und Architektur seit der französischen Revolution. Und: sehr lesbar geschrieben, muss man dem Mann ja lassen.

Werner Haftmann – Malerei im 20. Jahrhundert

Noch ein Klassiker. Haftmann beginnt bei den französischen Impressionisten und hangelt sich bis 1954, dem Erscheinungsdatum des Buchs. Sein Stil ist ziemlich unwiderstehlich, aber auf Dauer etwas anstrengend, weswegen ich das Buch nur in Häppchen lese. Doof, dass ich das oben abgebildete Exemplar bald wieder in die Hamburger Stabi zurücktragen muss; den Sedlmayr gab’s (zusätzlich zum Buch im Foto) netterweise als freies eBook.

Chris Ware – Building Stories

Ein Comic, der ein bisschen mehr ist als ein Buch – ich erwähnte es bereits. Die Einzelteile – Bücher, Flipbooks, Zeitungen – lassen sich in beliebiger Reihenfolge lesen; es ist ein bisschen, als ob man einen Episodenfilm guckt, der lustig in der Zeit vor- und zurückspringt. Wobei „lustig“ genau das falsche Wort für Wares Bücher ist, denn sie sind das genaue Gegenteil. In Building Stories geht es um eine namenlose Frau, die in ihrer Jugend malte und schrieb und sich, gefühlt plötzlich, als Ehefrau und Mutter in einem Vorort von Chicago wiederfindet, wo sie darüber nachdenkt, was mal ihre Träume waren und was aus ihnen geworden ist.

Zwei von den Einzelheften befassen sich übrigens mit einer Biene, die in ein paar Panels eines anderen Buchs vorkommt und aus dem Fenster des Hauses gescheucht wird, das der Ausgangspunkt der ganzen Geschichten ist. Ich liebe sowas.

Und das folgende Buch habe ich schon im letzten Monat gelesen, aber vergessen zu fotografieren. Genau wie in diesem Monat – das liegt daran, dass ich den Kindle so selten nutze.

Wilhelm Heinrich Wackenroder/Ludwig Tieck – Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders

Das Buch wurde sowohl in meinem Kunstgeschichts- als auch im Musikwissenschaftsstudium erwähnt, weswegen ich mir dachte, musste wohl mal lesen. Hat sich auch gelohnt, sind nämlich totale Groupieaufsätze über die italienische Renaissance und Raffael.

(Volltext hier)

Kunst gucken: Sprengelmuseum Hannover

Als übermotivierte Studentin und brave Tochter dachte ich mir, fährste doch mal wieder nach Hannover, guckst dir ein Museum an und besuchst danach Mütterchen und Väterchen. Angerufen, Pläne verkündet – und dann etwas zusammengezuckt, als Mütterchen meinte: „Ach, da komme ich doch einfach ins Museum mit! Dann kannst du mir was erklären.“

Ich überlegte noch, ob ich schüchtern einwenden sollte, dass ich nach zwei Semestern gefühlt gar nichts weiß – vor allem nichts über das 20. Jahrhundert –, merkte dann aber selbst: Nee, stimmt nicht. Ich weiß schon ne Menge. Im Vergleich zum großen Ganzen natürlich gar nichts, aber wie ich schon beim letzten Kunsthallenbesuch schrieb: Ich gucke anders. Mal sehen, ob mein Mütterchen davon profitieren könnte.

Das Sprengelmuseum kenne ich noch aus der Zeit, in der ich in Hannover gewohnte habe, aber mein letzter Besuch müsste ungefähr 20 Jahre her sein. Ich erinnerte mich aber gut an die Räume von James Turrell und deswegen ging’s dahin auch zuerst.

Mein Lieblingsraum ist einer, an dem man sich mit einer Hand an einem Handlauf festhalten sollte, mit der anderen kann man an der Wand langstreichen, und dann geht es wenige Meter im Zickzackkurs in einen völlig verdunkelten Raum. Schon im Gang wird das Licht sehr schnell von diffus zu stockfinster, bis man sich im Raum links und rechts vom Gang zu zwei Stühlen getastet hat und Platz nimmt. Und dann sitzt man da und starrt ins Nichts. Oder versucht zu starren, denn man sieht eben – nichts. So eine komplette Finsternis kenne ich sonst nicht; von irgendwoher kommt immer ein Lichtschein, sei er auch noch so schwach, aber hier ist es schlicht schwarz. Man kann die Größes des Raums nicht einschätzen, auch wenn er nicht groß sein dürfte, die Stimmen hallen nicht, wobei die Wände, wie ich hinter mir ertaste, mit Stoff bespannt sind, der Geräusche dämpfen dürfte. Der Witz an diesem Raum ist, dass die Augen sich nach einigen Minuten an die Finsternis gewöhnt haben und dann ein Licht vor dir sichtbar wird. Ich erinnerte mich an ein graues Rechteck, das ich beim letzten Besuch irgendwann ganz schwach und diffus vor mir sah. Dieses Mal sehe ich aber ein Liniengewirr, und ich weiß nicht, ob ich mich schlicht an Quatsch erinnere, sich die Installation geändert hat oder mein Gehirn meinen Augen etwas vorgaukelt. Das graue Rechteck erscheint jedenfalls nicht. Meine Mutter sieht auch Linien, aber erst, nachdem ich davon gesprochen hatte. Ich überlege kurz, mein iPhone zu zücken und die Taschenlampe anzuwerfen, will mir den Raum aber auch nicht ruinieren. Denn ich mag das Gefühl sehr gerne, mal kurz das eigene Sensorium ausgeknipst zu bekommen.

Wir tasten uns wieder aus dem Raum heraus und gehen in den nächsten, wo eine helle Installation vor einer Wand zu schweben scheint. Wenn man länger hinschaut, weiß das Gehirn nicht mehr, was Licht und was Wand ist bzw. es kann sich nicht mehr entscheiden, ob da jetzt wirklich eine Wand ist oder nur Licht. Auch sehr lustig, wobei ich diesen Raum deutlich bunter in Erinnerung hatte. Ich gehe in 20 Jahren noch mal gucken, mal sehen, was dann passiert.

Das Haus hat keinen roten Faden, an dem man sich durch die Jahrzehnte hangelt, man kann irgendwo anfangen. Wir starten mit der Kunst nach 1945. Gleich im ersten Raum hängen einige Dubuffets, die ich inzwischen erkenne, wie ich mich innerlich piepsend freue. Mein Liebling ist die La voiture princière von 1961, an der ich den Bruch zwischen Bildtitel und Bildinhalt mag. Der „fürstliche Wagen“ ist ein Renault, die Figur, die darin sitzt, scheint mir ein gut gelaunter Mensch zu sein, der unadlig zur Arbeit fährt und zum Radio mitsingt anstatt Staatsgeschäften nachzugehen. In meiner Badewanne bin ich Kapitän. Und wenn dieses Bild etwas ganz anderes aussagen soll, ist mir das gerade egal, denn zum ersten Mal überlege ich nicht, ob meine Deutung wohl richtig ist, sondern ich nehme sie so hin. Wenn ich irgendwas in den letzten zwei Semestern Kunst und Musik gelernt habe, dann: Wenn du deine Meinung belegen kannst, dann stimmt die. Und so stehe ich nicht zögerlich und fragend vor einem Bild wie früher, sondern erzähle mir selbst (und Mama), was ich sehe. Und dann passt das. Toll.

Mein zweiter Liebling in diesem Raum ist Jean-Paul Riopelles Bei Nacht (Nuitamment) von 1956. Von dem Mann hatte ich noch nie gehört, will jetzt aber dringend mehr von ihm sehen. Wie bei Bildern von van Gogh kommt einem hier die Farbe entgegen, in so dichten Lagen ist sie auf die Leinwand verteilt, man kann das Werkzeug erkennen, das zum Verteilen benutzt wurde, zum Schichten und Kanten. Aber wo bei van Gogh jeder Pinselstrich Schmerz verrät, spürt man hier Dynamik und Kraft, Vorankommen, Bewegung. Mich hinterlässt das Bild trotz seiner Spannung absolut ruhig, so als ob die laute Großstadt mit ihren Neonlichtern, Spiegelungen und Farbkonstrasten kurz angehalten wurde, um sich mir in ihrer schillernden Schönheit zu präsentieren. Sobald ich mich wegdrehe, wird sich das Bild bestimmt ändern.

Der nächste Raum gehört Horst Antes. Hier hängen mehrere Figuren von ihm, die mir in ihrer schlichten Farbigkeit und Körperlichkeit sehr gefallen. Die Google-Bildersuche spuckt, wenn ich richtig geguckt habe, kein einziges der Bilder aus, die hier hängen – sie haben weniger Konturen, sind flächiger, weniger konkret als das, was man sofort mit Antes’ Namen verbindet. Die FAZ schreibt sehr schön über den Herrn, und seit dem Artikel weiß ich auch, was ich mir nächste Woche beim Spontanbesuch in Berlin angucke.

Ich entdecke die seltsamen Kompositionen von Alfred Manessier und Julius Bissier für mich, vertiefe mich in Rubernos von Emil Schumacher und kann dann mal wieder vor Mama ein bisschen Wissen heucheln, indem ich ihr das Blau von Yves Klein zeige. An seinem Werk Victoire de Samothrace von 1962 kann ich auch gleichzeitig mein bisheriges Wissen über Denkmäler abrufen und ihr erklären, was die Siegesdame alles nicht ist.

Im gleichen Raum wie Klein stehen auch einige Werke von Niki de Saint Phalle, die man als Hannoveranerin natürlich durch die Nanas kennt. So gerne ich diese Skulpturen mag – sonst kann ich mit ihrem Werk eher weniger anfangen. Auch wenn ich ihr Selbstporträt mit den Haaren aus Kaffeebohnen durchaus charmant fand. Neben de Saint Phalle ist hier aber auch einiges von Dieter Roth zu bewundern, den ich persönlich lieber mag. An seiner Ersten Kubistischen Geige von 1984/1988 kann ich Mama ein bisschen was über den Kubismus erzählen, kriege den Bogen (Bogen, haha) zum Roth’schen Werk aber nur durch die Farbigkeit hin. Im Geigenkasten liegt ein Foto eines kubistischen Bilds (ich habe mir nicht gemerkt, welches), das genau in den Farben gestaltet ist, mit denen Roth seine Geige verziert.

Nach ein bisschen Pop-Art von Warhol (Flash), Lichtenstein (Two Paintings/Alien) und Lindner (New York City III) kommen dann die ersten Installationen, unter anderem von Nauman und Franz Erhard Walther, dessen Mit sieben Stellen und Mantel mich sehr beeindruckt hat. Es besteht aus einem beigefarbenen Stoffhintergrund, auf dem sich weitere Stoffbahnen befinden. Ein Mantel aus dem gleichen Stoff deutet eine durchschnittliche menschliche Größe an. Orangefarbene, grüne, braune und rote Stoffteile umschließen Raumteile oder zeigen Verläufe von Raum auf, zwischen ihnen kann man imaginäre Linien ziehen und sich das Werk so erschließen. 18 Zeichnungen verdeutlichen die Gedankengänge, die hinter dem massiven Werk stecken, aber sie sind keine Gebrauchsanweisung. Es ist ein Spiel mit Größe und Körperlichkeit, mit Maßstäben und Erwartungen. (Oder was ganz anderes, aber das war’s für mich.) Wie ich schon bei Beuys im Lenbachhaus in München überrascht gemerkt habe: Die moderne Kunst hat sich an mich rangewanzt, und ich kann soviele Raffael-Bücher kaufen wie ich will, ich kann mich nicht mehr wehren.

Aber ein bisschen in die Vergangenheit darf ich schon noch schweifen, denn im Sprengelmuseum hängen auch die Neue Sachlichkeit, ein bisschen Kubismus und Futurismus und direkt dahinter (oder davor, je nachdem von wo man kommt) meine Lieblinge von der Brücke.

In der Neuen Sachlichkeit sind mir erstmals Grethe Jürgens und Ernst Thoms aufgefallen. Zwei Räume weiter konnte ich dann wirklich mal was erklären anstatt nur rumzumeinen, denn dort hängen ein paar Picassos gegenüber von Boccionis A strada entra nella casa von 1911. Das ist dort wirklich bilderbuchmäßig und man kann prima die Unterschiede dieser beiden Stilrichtungen erörtern und warum Bilder, die zur gleichen Zeit entstanden sind, so unterschiedlich aussehen.

Noch ein Raum für Picasso, durch den ich zugegebenermaßen etwas durchgesprintet bin, denn ich konnte langsam nichts mehr sehen. Den armen Emil Nolde habe ich auch nur gestreift, aber dafür konnte ich dann etwas länger bei meinem Liebling Kirchner rumstehen, der sich seinen Raum natürlich mit den Brücke-Kumpels Müller und Schmidt-Rottluff teilt, genau wie in der Hamburger Kunsthalle. Lustigerweise gefielen mir hier die Schmidt-Rottluffs besser als in Hamburg, während Herr Kirchner mich etwas underwhelmte. Aber im nächsten Raum konnte ich mich zum Ausgleich über diverse von Jawlenskys freuen. Mama freute sich über Macke und Marc (mal wieder Pferde. Ich kann diese Pferde nicht mehr sehen), während ich endlich die Klappe halten konnte.

Ich habe mich darüber gefreut, dass ich doch schon mehr wusste als ich dachte, aber ich habe auch gemerkt, dass ich lieber alleine in Museen rumlaufe. Kein schlechtes Gewissen, weil man statt drei Minuten fünfzehn vor einem Werk stehenbleiben will (die Zeit hätte ich mir gerne bei Riopelle und Walther gegönnt), und auch keins, weil man an manchen Bildern einfach vorbeirennt. Wenn ich alleine gewesen wäre, wäre ich kurz zum Kaffeetrinken rausgegangen, hätte meine Füße in den Maschsee gehalten und dann doch eine zweite Runde gedreht bzw. mir den Rest angeguckt, den wir dieses Mal nicht geschafft haben. So ist mir erst beim Rausgehen aufgefallen, dass ich den Merzbau gar nicht gesehen habe, in den ich als Kind sogar noch reinklettern durfte. Ich habe dieses Mal auch gemerkt, dass ich die Sache ernster nehme als sonst. Wo ich sonst einfach nur gucke, um meine innere Bildersammlung laaaangsam zu ergänzen, habe ich dieses Mal an vielen Bildern versucht, als angehende Kunsthistorikerin draufzugucken – also so, als ob ich ein Referat halten oder eine Hausarbeit schreiben muss. Ich erzähle mir in allen Einzelheiten, was ich sehe, welche Farben, in welcher Anordnung, in welchem Auftrag, wo sehe ich Konturen, wo erschließen sich mir Zusammenhänge, welche inneren Dynamiken spüre ich bzw. wo kann ich sie am Bild nachvollziehen, so dass aus ihnen mehr wird als nur ein diffuses Gefühl. Ich versuche, ein Bild zu erkennen und es nicht einfach so hinzunehmen. Und das kostet halt Zeit, und es ist ein bisschen anstrengend. Aber – natürlich – auch ganz großartig.

PS: Dieser Eintrag ist so bilderarm, weil man ü-ber-haupt nicht fotografieren durfte. Direkt hinter der Kasse hängt schon ein Riesenschild, das von Copyright redet und dass man in die Hölle kommt, wenn. Also habe ich, wie immer, nur die Schilder fotografiert, auf denen die KünstlerInnennamen und die Werkdaten stehen, weil ich zu faul bin, mir das aufzuschreiben. Aber: Selbst das darf man nicht. Als ich darüber quengelig twitterte, kam von @ishtar noch die Krönung: „Geht noch besser. Im Haus von Georgia O’Keeffe ist auch Zeichnen und handschriftliche Notizen machen untersagt.“ Pffft.

Wochenrückblick 19. bis 24. August

Montag, 19. August

Ich bin seit gut zwei Wochen wieder in Hamburg und genieße die Semesterferien. Aus der Stabi in Hamburg, für die ich mir gleich als allererste Tat in der vorlesungsfreien Zeit einen Benutzerausweis geholt habe, habe ich mir zwei Klassiker der Kunstgeschichte geliehen, für die ich während des Semesters keine Zeit hatte: Werner Haftmanns Malerei im 20. Jahrhundert und Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte. (Prof: „Wenn Sie in der Klausur den Namen von Sedlmayr falsch schreiben, ziehe ich keine Punkte ab. Das überblickt in Bayern ja keiner mehr, wie sich der eine oder andere Meier schreibt.“)

Zum Sedlmayr bin ich immer noch nicht gekommen, weil der Haftmann so lange dauert. Das Buch ist toll und liest sich auch nach 60 Jahren großartig (ich zitiere hier im Blog ausgiebig, habt ihr schon mitgekriegt, oder?), aber ich kann nicht lange darin lesen, bevor alle Künstler, Künstlerinnen und Stile in meinem Kopf ineinanderlaufen. Zwischendurch lese ich immer einzelne Aufsätze in Texte zur Kunst, von denen ich mir drei Ausgaben gegönnt habe und die mir sehr viel Freude bereiten. Es ist für mich immer noch sehr neu, sich wissenschaftlich mit einem Thema zu befassen anstatt aus Spaß oder als Werberin. Wenn ich etwas aus Spaß mache, achte ich darauf, wie’s mir dabei geht und ob ich das noch mal machen möchte. Wenn ich etwas als Werberin angehe, habe ich Kram wie Unique Selling Points und „Was hat der Kunde davon“ im Hinterkopf, ich denke an Überzeugungsstrategien, Aktivierung von Interesse oder wenigstens Reaktionsmöglichkeiten nach. Neuerdings überlege ich aber, wenn ich vor einem Kunstwerk stehe, was genau ich an diesem Bild erörtern möchte bzw. was wohl noch nicht erörtert worden ist.

In der Vorlesung über niederländische Malerei wies der Prof zum Beispiel auf Architektur in den Bildern von Jan Gossaert hin – wir sprachen unter anderem über Neptun und Amphitrite (1516, hängt in Berlin) oder die Lukas-Madonna aus Prag (1513/15), bei denen die Personen noch recht gotisch aussehen, wir aber schon Renaissance-Architektur im Hintergrund haben. Vor allem bei Neptun und Amphitrite konnte sich mein angebeteter Professor kaum darüber beruhigen, wie beknackt das Fantasiegebäude sei, in dem die Götter stehen: „Schauen Sie sich doch nur mal die Triglyphen über den Tierschädeln an! Das gibt es doch gar nicht! Wieso malt der so was? Darüber könnte man auch mal eine Bachelorarbeit schreiben.“ Und zack, hatte ich wieder ein Glühbirnchen über dem Kopf. Den Satz „Darüber könnte man auch mal eine Bachelorarbeit schreiben“ höre ich übrigens dauernd an der Uni, und ich freue mich jedesmal über ihn, weil ich natürlich denke, der ganze alte Kram ist doch garantiert schon totgeforscht. Aber nein, anscheinend gibt es noch genug, worüber ich nachdenken könnte. Und so gucke ich neuerdings in Museen oder Bildbänden nicht mehr nur nach „Sieht toll aus“ oder „Ah, das ist dieser Klassiker, den ich kennen muss“, sondern auch nach „Ob das mal jemandem aufgefallen ist, dass das Grün hier seltsam aussieht“?

So habe ich den Tag auf dem Sofa verbracht, gelesen und natürlich das Netz leergesurft. Dabei bin ich über einen Artikel über die Demoiselles d’Avignon gestoßen, die ich hier bereits erwähnte. Der Artikel behauptet, man müsse mit einer Erfindung halt am rechten Ort zur rechten Zeit sein, dann werde das schon klappen, und nennt als Beispiel Picassos Bild von 1907. Dumm nur, dass das Bild erst 1916 ausgestellt wurde; davor war die Zeit eben noch nicht reif. (Im Artikel ist das Bild nicht mal komplett abgebildet – Sakrileg! –, deswegen hier der Link zum vollständigen Werk.)

Dienstag, 20. August

Ein Spontananruf des besten Freundes, seines Zeichens Kreativdirektor, ob ich ein bisschen Zeit zum Geldverdienen hätte. Hatte ich. Rechner gepackt und in die Agentur gefahren, wo sich mir ein freundlicher Herr mit den Worten vorstellte: „Ich les dich seit Jahren – ich hab sogar noch bei dir kommentiert!“ Ich war spontan verliebt, musste aber erstmal wieder Werbung machen. Als Abwechslung zwischen der Kunst geht das inzwischen wieder, die bewusste Pause von der Branche hat mir sehr gut getan.

Artikel im Netz, über die ich gestolpert bin:
Wieviel würdest du als Wagnerianer bezahlen, um eine Wagner-Oper NICHT zu sehen?
– ein Tumblr mit Fotos der Feldherrnhalle, die mein Heimweh nicht wirklich besser machen
– Lesley Kinzel schreibt über ihre traurige Zeit auf Diät und ihre glückliche Zeit ohne den Scheiß

Mittwoch, 21. August

Ich gucke spaßeshalber mal wieder ins Onlinetool der LMU und entdecke, dass ich dort bereits als Geschichtsstudi geführt werde. Mein neuer Ausweis ist noch nicht da, und bevor ich nichts Schwarz auf Weiß sehe, glaube ich ja nicht daran, dass der Fachwechsel so reibungslos funktioniert hat. Hat er aber anscheinend. Ich wühle mich zum wiederholten Mal durch den Berg aus Kursangeboten in Geschichte und schmeiße ebenfalls zum wiederholten Male den Stundenplan um.

Die erste Wahl gehört natürlich der Kunstgeschichte, das ist mein Hauptfach und da wähle ich alles, was ich will. Erst danach fülle ich die Lücken mit dem kleinen niedlichen Nebenfach, mit dem ich in den nächsten zwei Semestern allerdings viel zu tun haben werde, denn ich will den Stoff vom 1. bis 4. Semester in den nächsten beiden Halbjahren runterrocken. Dann bin ich im 5. wieder in beiden Fächern auf dem gleichen Stand und kann im 6. entspannt meine Bachelorarbeit schreiben. (Und dann ist mein Konto leer und ich muss wieder nach Hamburg. Damn you, München. Why do you have to be so pretty? Ich habe zwar im letzten Semester noch ein wenig darüber nachgedacht, mitten im Studium die Uni zu wechseln – das geht mit der neuen Fächerkombi ja –, aber ganz ehrlich: Die LMU ist so toll, ich will da nicht weg. Und seit ich die Hamburger Stabi von innen gesehen habe … bei aller Liebe, da ist unser Marmorpalast in München dann doch ne andere Hausnummer. Bei Frau Gröner lernen die Augen mit.)

Wenn die Unigötter und -göttinnen mir gnädig sind und ich alle Kurse kriege, die ich haben will, sitze ich in KuGi in Vorlesungen zur amerikanischen Kunst nach 1945 und zu Ausstellungskonzepten in Europa nach 1960. Meine Seminare befassen sich mit Museen und Social Media sowie Frauen in der Kunst. Dazu kommt noch ein Lektürekurs, auf den ich mich sehr freue. Lesen! In Geschichte hätte ich gerne die Vorlesung „Die Stadt in Süddeutschland. Von den Anfängen urbaner Kultur bis ins 20. Jahrhundert“ sowie das Seminar „Geschlecht im Zeitalter der Extreme 1900–1939“. Und bei den Übungen würde ich gerne in „Traum und Albtraum in Israel: Utopien und Distopien des jüdischen Staats“, „Geschichte und Journalismus“ sowie „Die Medien der Aufklärung: Zeitschriften und Journale in Europa, 1660-1800“ sitzen. Bitte mal bis Mitte Oktober die Daumen drücken.

Mittagessen.

Donnerstag, 22. August

Eigentlich will ich in die Hamburger Kunsthalle bzw. deren Galerie der Gegenwart, aber ich entdecke, dass im Bucerius Kunst Forum, dem Ding OHNE BINDESTRICHE HERRGOTTNOCHMAL, eine Ausstellung über Alexander Rodtschenko läuft. Da gehe ich hin.

Abends gucke ich Mario Gomez bei seinem ersten Pflichtspiel für die Fiorentina gegen die Grashoppers Zürich zu. Fußball ist wieder schön! Und der Schweizer Kommentator sagt so hübsche Dinge wie „Dass ich hier seit Minuten vor mich hinschweige, liegt daran, dass es nichts zu sagen gibt.“ Oder: „Das Spiel ist so zäh wie ein stehengelassenes Fondue.“ Mit Betonung auf Fon- statt auf -due, wie sich’s gehört.

Freitag, 23. August

Morgens um 11 zum Singen. Ging überraschend gut. Inzwischen hat meine Gesangslehrerin eine Methode gefunden, mich auch bei Musicals dazuzukriegen, gefälligst laut zu sein: „Stell dir vor, es ist ne Oper.“ Da bin ich nämlich laut, weil ich sonst nicht so hoch komme wie ich will. Und wenn ich mal wieder rumkrampfe und nicht locker bin, kommt der Satz: „Stell dir vor, du wärst noch von gestern betrunken.“ Die Dame kennt mich zu gut.

Der schönste Twitter-Reply, nachdem ich dieses Bild von Ach, ich fühl’s aus der Zauberflöte gepostet habe, kommt von @AndreGottwald:

In meinen Ohren klinge ich natürlich immer noch fürchterlich, wenn ich Oper singe (Lehrerin: „Du sollst dir auch nicht zuhören, dafür bin ich da. Du sollst bloß singen“), aber so ganz langsam fühlt es sich nicht mehr nach Schreien an, wenn ich da oben am B kratze. In den richtig guten Momenten wird der Hals ganz plüschig und dann kommt ein schöner, weicher Ton. Blöderweise bin ich davon immer so begeistert, dass ich sofort aufhöre zu singen, um beglückt zu grinsen. Das muss ich irgendwie noch abstellen.

Artikel, über die ich gestolpert bin:
– der Wikipedia beim Arbeiten zuhören (via @peterglaser)
– Herr Stefanowitsch erklärt, warum der Fake-Mercedes-Hitler-Spot so doof ist (dazu hatte Felix noch was Gutes zu sagen: „ich verstehe die logik des clips aber auch nicht. man sieht dort ein auto, das adolf hitler als kind überfährt. die erklärung dafür ist, dass das auto ein assistenzsystem habe, dass gefahren erkenne, bevor sie entstehen. wenn das so wäre, müsste das system sich eigentlich selbst zerstören. nicht nur wegen asimov, auch aus logischen gründen, denn jedes system das unschuldige tötet stellt eine gefahr dar.“
– Dances With Fat schreibt: „To the Guys Who Threw Eggs at Me Tonight“. #fat-hate

Samstag, 24. August

Der Topf voll Gold am Ende des Regenbogens steht in meinem Edeka:

„Rodtschenko – Eine neue Zeit“
im Bucerius Kunst Forum, Hamburg

Für meine Hausarbeit im zweiten Semester über Alexander Archipenkos Schreitende Frau habe ich wieder wild in der Gegend herumgelesen wie im ersten Semester bei Hans Memling auch schon. Ich habe mir bewusst einen Künstler bzw. ein Werk ausgesucht, von dem ich noch nie gehört hatte, eben weil ich dann wild in der Gegend rumlesen muss, um es einordnen zu können. Die erste Einordnung fand natürlich schon im Kurs statt, wo zum Beispiel Wladimir Tatlin und seine Konterreliefs bzw. das Denkmal für die III. Internationale erwähnt wurden (beide hier zu sehen) oder natürlich das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch. Seitdem weiß ich, wo in russischen Wohnstuben die Ikone hängt, nämlich da, wo in der Ausstellung 0.10 1915 das Schwarze Quadrat hing.

Wen ich noch kennenlernte: Alexander Rodtschenko und seine Raumkonstruktionen von 1920/21, die ich im Kopf immer mit der Schreitenden Frau verbinde. Umso mehr hat es mich gefreut, dass in Hamburg gerade eine Ausstellung über Rodtschenko läuft, und dort stehen und hängen auch – rekonstruiert – seine Raumkonstruktionen.

Ausstellungsansicht v.l.n.r: Raumkonstruktionen Nr. 12 (Oval im Oval), Nr. 22, Nr. 23, Nr. 13 (Dreieck im Dreieck), Nr. 8 (Kreis im Kreis), Nr. 11 (Quadrat im Quadrat), alle Werke von 1920/21. Foto: Ulrich Perrey.

Ganz kurz gesagt, ist das Besondere an der Schreitenden Frau der durchbrochene Oberkörper und Kopf. Archipenko ist der erste Bildhauer, der Masse weglässt und den dadurch entstandenen Raum als Teil der Skulptur begreift:

„Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“ (1)

Mit Archipenko entstand so die Idee, dass Raum, Luft, Lichteinfall und als Konsequenz auch Bewegung Teil einer Skulptur sein können. In dieser gedanklichen Tradition schuf Rodtschenko seine Raumkonstruktionen. Bei ihnen gilt es nicht nur, das hölzerne Gebilde zu sehen, sondern auch die Bewegung und den sich dadurch ständig verändernden Schattenwurf einzubeziehen. Das schafft die Ausstellung sehr schön, indem die Werke sehr zentral aufgehängt sind; um sie herum stehen weiße Stoffleinwände, und diverse Spots erzeugen vielfältige Schatten, sowohl auf dem Boden als auch auf den Leinwänden. Man kann die Plattform, über der die Werke hängen, umrunden und sie so von allen Seiten und mit unterschiedlichen Schattenwürfen betrachten.

Rodtschenko ging es aber in seinem Werk aus dieser Zeit nicht nur um die Raumwirkung von Konstruktionen, sondern er experimentierte auch in Bildern mit Farben und Linien. Während zum Beispiel Picasso oder Braque in Paris versuchten, dreidimensionale Körper in Farbflächen zu zerlegen und damit die Realität zu abstrahieren, ging Rodtschenko noch einen Schritt weiter: Für ihn war ein Bild ein selbständiges Ding, es musste nichts abbilden, nichts darstellen, es war und galt ganz für sich. In seinen Werken experimentierte er mit Farbkontrasten bzw. verschiedenen Farbaufträgen und ihrer Wirkung. Diese Bilder haben mir ganz besonders gefallen, eben weil sie so für sich stehen. Man muss sie nicht ergründen oder in ihnen nach etwas suchen, man kann sich ihnen einfach hingeben. (Total unwissenschaftlich.)

„Komposition Nr. 66 (86), Dichte und Gewicht“ (1919), Öl auf Leinwand, 122,3 x 73,5 cm, Staatliche Tretjakow-Galerie Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

(Hehe: Dieses Bild stand in der Pressedatenbank, für die ich mir brav eine Akkreditierung geholt habe, auf dem Kopf. Vielleicht ein Test?)

In weiteren Gemälden reduziert Rodtschenko noch weiter und nutzt nun die Linie als Darstellungsmöglichkeit. Sie stand bisher nicht im Zentrum der Malerei, sie umfasste nur Farbflächen oder schuf den Gegenstand, den sie umriss. Für Kandinsky war sie „Vermittler des Geistigen, das die materielle Welt überwinden sollte. Für Rodtschenko dagegen war die Linie ein präzises Werkzeug, ein bildnerisches Mittel zur Darstellung von Licht, Raum und Bewegung. Damit legte er den Grundstein für die kinetische Kunst des 20. Jahrhundert.“ (2)

„Konstruktion Nr. 92 auf Grün“ aus der Serie „Lineismus“ (1919), Öl auf Leinwand, 73 x 46 cm, Regionales A. und W. Wasnezow Kunstmuseum, Kirow. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Einschub: Die kinetische Skulptur hat zum Beispiel Naum Gabo umgesetzt. Seine Standing Wave von 1919/20 (hier in riesengroß) besteht aus Metallstäben, die durch einen Motor in Schwingung versetzt werden. Erst die konstante Bewegung lässt vor unserem trägen Auge einen Körper entstehen.

Was die Linien in der Ausstellung angeht: Ich fand es sehr charmant, dass die Grundlinien, auf denen die Überschriften der Wandtexte stehen, stets ganz leicht nach links gekippt waren. Damit stand ein schräger Text über der geraden Copy, rot über schwarz – das passte sehr schön ins konstruktivistische Gesamtbild.

Rodtschenkos Schaffen umfasste aber nicht nur Skulptur (bzw. Konstruktion) und Malerei, sondern er widmete sich auch der Gestaltung von Alltagsgegenständen, der Fotografie und der Werbegrafik. Das Design, was im Bucerius Kunst Forum an den Wänden hängt, lässt diverse Grafikpraktis sabbern (und mich auch), weil es auch nach fast 100 Jahren schick aussieht. Außerdem habe ich mich sehr über folgenden Satz an einem Exponat gefreut: „Der Text stammt von Majakowski, der zusammen mit Rodtschenko das erfolgreiche Werbekollektiv Reklam-Konstruktor betrieb.“ Reklam-Konstruktor! Alleine dafür möchte ich eine Agentur gründen.

Zurück zur Kunst: Mein liebstes Exponat war natürlich die Dame, die „BÜCHER!EINSELF11!!“ schreit.

„Bücher“. Werbeplakat mit dem Portrait von Lilja Brik für den Staatsverlag Lengis (1925), Druck, 56,5 x 80 cm, Sammlung Rodtschenko/Stepanowa, Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Die Ausstellung Rodtschenko – Eine neue Zeit läuft noch bis zum 15. September und lohnt sich sehr, weil sie es schafft, ein so breites Werk wie das Rodtschenkos zu komprimieren, ohne dass man das Gefühl hat, es entgeht einem etwas. Nebenbei waren alle Menschen im Bucerius Kunst Forum äußerst nett und zuvorkommend, der Ausstellungskatalog ist schick, UND man kommt als Kunstgeschichtsstudi umsonst rein. Like!

(1) Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960, S. 56.
(2) Kat. Ausst. Rodtschenko – Eine neue Zeit, Bucerius Kunst Forum Hamburg, 8. Juni bis 15. September 2013, Hamburg 2013, S. 121.

Parmesan-Polenta mit grünem Salat

Ich wollte schon länger mal eine Serie mit folgendem Namen machen: „Essen, wie ich es in Futtereinträgen im Blog präsentiere“ versus „Essen, wie ich es nach dem Blogfoto auf meinen Teller schichte und esse“. Hier kommt der erste Beitrag, der besonders toll ist, weil ich meine Kamera in München habe liegen lassen und deswegen zurzeit nur iPhone-Fotos schießen kann. (Und anscheinend vergessen habe, was ein guter Bildausschnitt ist.)

Das Rezept stammt mal wieder aus der guten, alten Go-Veggie!-App (hier der Link zum Kindle), die ich stets rumempfehle, wenn’s um schnelle, unkomplizierte Alltagsküche geht. Das Rezept soll für vier bis sechs Personen reichen; ich habe die Polenta pi mal Daumen geviertelt, den Salat halbiert und sowohl der Kerl als auch ich sind davon satt geworden.

500 ml Milch mit
30 g Butter und
1 gepressten Knoblauchzehe aufkochen. Mit
Salz und
Pfeffer würzen.
150 g Polentagrieß einrühren und unter Rühren zwei Minuten kochen. (Oder nach Packungsbeilage zubereiten; ich mache immer ne Mischung aus Packung und Rezept.)
In die warme Polenta möglichst schnell
80 g geriebenen Gruyère (bei mir Parmesan) und
1 Ei rühren.

Den Brei auf Backpapier geben, verstreichen und mit einer zweiten Lage Backpapier bedecken. Circa 2 bis 3 Zentimeter dick ausrollen und komplett erkalten lassen.

Für den Salat
120 g grüne Bohnen in Salzwasser kochen und mit
1 grünen Paprika, gewürfelt,
1 Salatgurke, in Viertelscheiben geschnitten, und
1 kleiner Zwiebel, fein gewürfelt, mischen.

Für das Dressing
3 EL Weißwein mit
1 EL Senf,
Salz,
Pfeffer,
1 guten Prise Zucker und
4 EL Olivenöl mischen.

Die erkaltete Polenta in Rauten schneiden und in Olivenöl goldbraun anbraten.

Und weil ich die Polenta zu dünn ausgerollt habe, habe ich gerade mal zwei Rechtecke heil aus der Pfanne bekommen. Der Rest sah eher aus wie Kaiserschmarrn, hat aber genauso gut geschmeckt.

Ein in den Semesterferien streberhaftes Dankeschön …

… an Monika, die mich mit Women Artists at the Millennium überraschte. Über das Buch freue ich mich sehr, denn es versammelt nicht nur Künstlerinnen, sondern auch Kunsthistorikerinnen, die über den Stand „weiblicher“ Kunst (wenn es so etwas gibt) um die Jahrtausendwende sprechen. Unter anderem kommt Linda Nochlin zu Wort, deren Essay Why Have There Been No Great Women Artists 1971 den Grundstein für feministische Kunstgeschichte legte. Sie stellt 30 Jahre später eine andere Frage: Why Have There Been Great Women Artists? und rückt so die eben angesprochene „weibliche“ Kunst wieder in den Rang der Normalität – da, wo auch die „männliche“ Kunst seit Jahrhunderten ist. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Wie geht’s dem Rechtsstaat denn heute so?

David Miranda, der Lebensgefährte von Glenn Greenwald, der ausführlich für den Guardian über Edward Snowden berichtet, wurde Sonntag in Heathrow neun Stunden lang festgehalten:

„David Miranda, who lives with Glenn Greenwald, was returning from a trip to Berlin when he was stopped by officers at 8.05am and informed that he was to be questioned under schedule 7 of the Terrorism Act 2000. The controversial law, which applies only at airports, ports and border areas, allows officers to stop, search, question and detain individuals. (…)

Schedule 7 of the Terrorism Act has been widely criticised for giving police broad powers under the guise of anti-terror legislation to stop and search individuals without prior authorisation or reasonable suspicion – setting it apart from other police powers.

Those stopped have no automatic right to legal advice and it is a criminal offence to refuse to co-operate with questioning under schedule 7, which critics say is a curtailment of the right to silence.“

Greenwald hat den richtigen Kommentar dazu (fett gedruckte Hervorhebung von mir):

„The stated purpose of this law, as the name suggests, is to question people about terrorism. The detention power, claims the UK government, is used “to determine whether that person is or has been involved in the commission, preparation or instigation of acts of terrorism.”

But they obviously had zero suspicion that David was associated with a terrorist organization or involved in any terrorist plot. Instead, they spent their time interrogating him about the NSA reporting which Laura Poitras, the Guardian and I are doing, as well the content of the electronic products he was carrying. They completely abused their own terrorism law for reasons having nothing whatsoever to do with terrorism: a potent reminder of how often governments lie when they claim that they need powers to stop “the terrorists”, and how dangerous it is to vest unchecked power with political officials in its name.“

Und so ganz nebenbei musste der Guardian auch noch Beweise zerstören:

„Die britische Zeitung The Guardian ist nach eigenen Angaben nach der Veröffentlichung der geheimen Dokumente des früheren NSA-Mitarbeiters Edward Snowden von der Regierung in London massiv unter Druck gesetzt worden. Der Chefredakteur des Blattes, Alan Rusbridger, schreibt, sie seien zur Zerstörung oder Herausgabe des Snowden-Materials aufgefordert worden. Im Falle der Nichtbefolgung der Anweisung sei mit juristischen Konsequenzen gedroht worden. Letztlich seien daraufhin Datenträger zerstört worden.“

So viel zum Thema „Wer nichts zu verbergen hat“ blablabla. Ich kotze.

Über Munch

„Wenn einer in Bildern denkt, wie Munch, der als Bestandteil dieses nordischen Geistesstroms durch Europa trieb, so verlangt das die Dämonisierung des Erscheinungsbildes der Natur durch die Fühlfähigkeit der menschlichen Psyche und das Ahnungsvermögen des Unbewußten. Munch malt also zum Beispiel keinen Jungmädchenakt, sondern malt „Pubertät“, weil sich das Modell durch die über den optischen Sinn hinaus angesetzten Tastfäden seiner Psyche veränderte und die Bildvorstellung auf diese Veränderung unbewusst reagierte. Er malt zum Beispiel keine Landschaft, sondern „Geschrei“, die Antwort seines Unbewußten auf das Panische der Schöpfung – „ich fühlte den großen Schrei durch die Natur“. Malerei ist ihm gar nicht punktuell auf „Natur“ und „Wirklichkeit“ bezogen. Seine Optik ist die des „zweiten Gesichtes“ und erspäht eine „zweite Wirklichkeit“, in der sich der eigentliche Vorgang des Lebens allein abspielt und den der Künstler mit durchlebt und abspiegelt. (…)

Schon in den Lehrjahren sah er Oberfläche und Symbol als eines. In einem frühen Tagebuch von Munch findet sich unter dem Datum von 1889 eine Eintragung, die die gleiche Sache ausdrückt nur einfacher, mehr vom Maler aus: „Es sollen nicht mehr Interieurs mit lesenden Männer und strickenden Frauen gemalt werden. Es müssen lebende Menschen sein, die atmen, fühlen, leiden und lieben. Ich werde eine Reihe solcher Bilder malen: man soll das Heilige dabei verstehen.“

Das Heilige offenbart sich nicht im Präsens. „Ich sehe“ ist keine Bezeichungsart für eine Tatsache der Offenbarung. (…) Es braucht das Zeitmoment des „visionären“ Anwachsens von außen nach innen und wieder nach außen. Vergangenes und Künftiges durchdringen die Gegenwart und geben ihr Mehrdimensionalität, in der das Heilige aufscheint. Man „sieht“ den brennenden Dornbusch, aber man „sah“ Gott. Ein kleines Zeitmoment ist nötig, dies Anwachsen. Will man das Sichtbare transparent machen in der Hoffnung, ein Transzendentales durchschimmern zu sehen, so changiert die Wortformel aus dem Präsens heraus und heißt: „Ich sehe und erinnerte mich.“ (…)

[Er] suchte (…) neue Symbole, die er in Analogie zu einer fixierten Religiösität „das Heilige“ nannte. Aber der Mensch war allein, einzig in ihm konnte das „Heilige“ als Reflex von außen oder von innen aufleuchten. Kam der Anruf von außen, aus der Landschaft zum Beispiel, so leuchtete das „Heilige“ als das „Panische“ auf, dem zum Beispiel die Alten in der Mythologie der Naturgötter zur Figur verholfen hatten. Kam der Anruf von innen, vom Menschlichen außerhalb seiner reinen Erscheinung als „Natur“, so gewann das „Heilige“ Ausdruck in der Äußerungsgeste der Psychologie. Das Panische und das Pychologische, das sind die beiden Vorstellungsreflexe, mit denen Munch die Bilder fand, die er als Symbole des Daseins verstehen konnte.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 73–75.

Links vom 18. August 2013

International opera singer discusses life as a freelancer

Jessica Muirhead erzählt ein bisschen aus ihrem Leben:

„Muirhead: Once I’ve been hired for a gig, I have to arrive fully prepared for the first day of rehearsals. That means preparing — sometimes for months — with no pay. First, there is the background work; I read anything and everything I can get my hands on with regards to the piece — could be about the life of the composer, the state of the world during the time it was written, or the fashion trends of the era.

Aim Hire: What about the music?

Muirhead: Learning a role requires hours of work on the score before even singing a note. I am usually singing in a language which is not my native tongue, so I spend hours translating the text, then hours working on the rhythm and notes, and trying to decipher what the composer and librettist wanted. The next step is to get it into my body, memorize it and make it my own.

Aim Hire: Do you have any help with that?

Muirhead: (Yes, I) work it through with voice teachers, language coaches, musical style coaches, dramatic coaches — and pay them from my own pocket.“

Why We Participated in the 1936 Nazi Games: Lessons for Sochi

Historiker Joseph Pearson erläutert Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Und weist auf den meiner Meinung nach wichtigsten Punkt hin:

3. The role of the IOC:

We should note that the Olympic Committee was actually willing to cancel the Games in protest in 1936. Today’s Olympic Committee is making none of the same threats, but rather stating that gay athletes who ‘politicize’ the Games with their sexuality could be sent home. The stance of the IOC has clearly deteriorated in comparison.

Re-read all of Foucault’s work with the Michel Foucault magnetic finger puppet on your finger!

@sanczny wies auf dieses unfassbar wichtige Produkt hin. Ich bin verliebt.

Eine neue Mode?

Ich bin seltsam fasziniert von diesen Fotos, die noch weit genug weg von, aber schon auf dem Weg zu Michael Jackson und Jocelyn Wildenstein sind:

„Es sind Menschen, von denen andere Menschen schnell behaupten, sie seien Schönheitschirurgen zum Opfer gefallen. Arme, verblendete, schönheitssüchtige Wesen. Phillip Toledano hat sie anders kennengelernt: „Viele waren gar nicht mehr interessiert an einer traditionellen Schönheit.“ Ihr Ideal haben sie jenseits menschlicher Normen gefunden, in Katzenaugen vielleicht oder in den streng stilisierten Figuren aus japanischen Animationsfilmen, den Anime. „Es ist ihre ganz eigene Vorstellung von Schönheit. Eine posthumane Schönheit.“

Lieblingsfotos der letzten Tage:

Auf dem Weg zum Gesangsunterricht. (Prima Donna’s Album: 42 Celebrated Arias from Famous Operas)

Chris Ware lesend.

Auf der Terrasse beim besten Freund.

Links vom 17. August 2013

Franziskusweg, Tag 1

Herr Nilzenburger ist den Franziskusweg gewandert und bloggt in Etappen darüber. Hier geht’s zu Tag 2 und Tag 3.

„Der Jakobsweg ist seit hunderten, wenn nicht gar tausenden von Jahren erschlossen. Der Franziskusweg nicht. Ich bin damals in einer Gruppe gegangen, wo man sich auffängt, anfeuert, antreibt – das fehlt einem, wenn man alleine läuft. Damals wurde unser Gepäck von Hotel zu Hotel gebracht, diesmal hab ich alles selber geschleppt. Und ich bin nicht der Fitteste unter der Sonne. Ach ja, Sonne: Im Hochsommer durch Umbriens Berge laufen, wie kommt man denn auf das schmale Brett?“

Of course all men don’t hate women. But all men must know they benefit from sexism

Und wie immer bei feministischen Artikeln gilt: nicht die Kommentare lesen.

„Saying that “all men are implicated in a culture of sexism” – all men, not just some men –may sound like an accusation. In reality, it’s a challenge. You, individual man, with your individual dreams and desires, did not ask to be born into a world where being a boy gave you social and sexual advantages over girls. You don’t want to live in a world where little girls get raped and then are told they provoked it in a court of law; where women’s work is poorly paid or unpaid; where we are called sluts and whores for demanding simple sexual equality. You did not choose any of this. What you do get to choose, right now, is what happens next.“

Lustig ist das Rassistenleben, faria, faria, ho

Herr Stefanowitsch erklärt mal wieder, warum man sich um die deutsche Sprache kümmern muss, auch wenn manches angeblich SCHON IMMER so gehießen hat und dann bleibt das auch so. Heute geht es um das Schnitzel mit dem Namen, den man mal ändern könnte, das lustigerweise erst seit den 50ern so heißt.

„Diese politisch korrekten Gutmenschen des 19. Jahrhundert nannten das Gericht doch tatsächlich… Paprika-Schnitzel.

Also ist wohl Folgendes passiert: In den selbstzufriedenen fünfziger Jahren des Wirtschaftswunders hatten die (West-)Deutschen ihre jüngere Vergangenheit ausreichend verdrängt, um wieder etwas Exotik in ihre Küche zu bringen. Der Völkermord an den Sinti und Roma war vergessen (er war ja auch schon zehn Jahre her), und die fiktive Romantik des „Zigeunerlebens“ konnte wiederbelebt und auf das Paprikaschnitzel projiziert werden. Dass die Sinti und Roma weder mit Paprika, noch mit Schnitzel besonders viel zu tun hatten, spielte dabei keine Rolle: Österreich-Ungarische Monarchie, fahrendes Volk, ist doch alles dasselbe – feurige dunkle Menschen aus dem Süden, halt.“

Interview with Chuck Wendig & Stephen Blackmoore

Lela Gwenn vom Whack! Magazine hat zwei männliche Autoren mal das gefragt, was sonst weibliche Autoren gefragt werden. Via Anne Schüsslers quote.fm.

„W: Your beard gets a lot of attention. Do you ever feel like you are using your beard to get people to pay attention to you?

CW: Yes. I exploit my beard like a Bangladeshi climate change refugee. My beard makes Apple iPhones. It is a lush, rich, robust beard and I work it, work it. I twerk it, twerk it. EYES UP HERE, LADIES. Jeez. The female gaze, am I right?“

Kunst gucken: Hamburger Kunsthalle (Klassische Moderne)

Der erste Besuch in der Kunsthalle führte mich ins 19. Jahrhundert, der nächste ins Mittelalter bzw. die frühe Neuzeit, und Dienstag war endlich mal die klassische Moderne dran. Der Link zum 19. Jahrhundert vom März 2012 ist mir schon fast peinlich in seiner Unkenntnis, aber ich mag den Satz „Bei solchen Bildern frage ich mich immer, warum sie im Museum hängen und wünsche mir ein Kunstgeschichtsstudium, um sie zu würdigen.“ Ha!

Die letzten beiden Male habe ich gar nicht um Ermäßigung beim Eintritt gebettelt, denn die Website behauptet, ich kriege eh keine, aber dieses Mal dachte ich, da stelle mer uns janz dumm und fragen. Ich geriet an eine Dame an der Kasse, die eine weitere Dame fragte, in einem Berg Papiere blätterte, „Wie war das mit Leuten über 27, die Kunstgeschichte studieren, aber nicht in Hamburg?“ und die mir schließlich einfach eine ermäßigte Karte für 6 Euro anstatt für 12 verkaufte. Dankeschön. (Ich. Will. UMSONST. Ins. Museum!)

Das Putzige an der Kunsthalle: Man kommt nicht direkt zur klassischen Moderne, sondern muss dafür durch die Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Ist also quasi wie bei Ikea, wo man auch nicht direkt zu den Köttbullar kommt, sondern erst durch die Möbel muss.) Den Umweg nehme ich aber gerne, denn dort hängen die Drei Frauen in der Kirche von Wilhelm Leibl. Immer noch mein Lieblingsbild. Ihr müsst euch das bitte mal vor Ort angucken; keine Abbildung und schon gar nicht mein iPhone-Foto können die Feinheit wiedergeben, mit der das Bild gestaltet wurde.


Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche (1881)

Nach einem Jahr Studium ist das 19. Jahrhundert nicht mehr ganz so reizvoll für mich wie vorher, aber es steht immer noch ziemlich weit oben auf der Liste – wobei ich in jeder Vorlesung und in jedem Seminar meine Vorlieben neu justiere. Nach dem ersten Semester fand ich auf einmal die Romanik toll, die mir vorher völlig verschlossen war, und die Gotik hatte sich einen Platz im Kopf erobert; den im Herzen hatte sie schon. Im zweiten Semester vertiefte ich meine Faszination mit der christlichen Ikonografie der Niederländer im 15. Jahrhundert, auf die ich durch mein Memling-Referat im ersten Semester aufmerksam gemacht wurde. Außerdem bekam ich im absoluten Schnelldurchlauf Kunst von 1500 bis 2000 präsentiert, und ich beschäftigte mich erstmals ernsthaft mit Skulpturen, mit denen ich vorher auch eher nur gefühlt was anfangen konnte, aber nie wusste, was ich eigentlich mag und warum.

Im Skulpturen-Seminar besprachen wir auch Bildwerke, die mit der Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert was zu tun hatten; wir hörten allein vier Referate zu Picasso, unter anderem eins zu den Demoiselles d’Avignon von 1907 (das Bild gilt als der Urknall der Moderne, könnt ihr euch für Partysmalltalk mal merken) und ein weiteres zu seinen Absinthgläsern, an denen toll ist, dass sie von Picasso erstellte Plastik und bereits vorhandenes Material kombinieren (den Löffel), was aus der Plastik eine erste Assemblage macht (auch das ein hervorragender Smalltalkbegriff). Kurz gesagt: Ich fühlte mich etwas besser gewappnet für die Neuzeit als bei den letzten Besuchen und begann mit dem Raum, der mein neuer Lieblingsplatz in Hamburg ist: ein Raum mit Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck und Bildern von Paula Modersohn-Becker.

Lehmbrucks Gestürzter war für mich der Höhepunkt der El-Greco-Ausstellung in Düsseldorf, die ich sonst eher so meh fand, und während der Beschäftigung mit Alexander Archipenko bin ich ihm immer wieder begegnet. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, ihn in Hamburg wiederzusehen.


Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (1918)

Dieser eigentümlichen Stimmung, in die mich Lehmbrucks Skulpturen in ihrer Fragilität und Einsamkeit versetzen, kann ich mich nie entziehen, und ich finde die Zusammenstellung mit den Bildern von Modersohn-Becker sehr passend. Sie zeigen ausnahmslos Menschen, so dass der ganze Raum die Möglichkeit bietet, mit verschiedenen Persönlichkeiten in Kontakt zu treten, die für mich aber alle irgendwie zusammengehörten. Wundervoll. Und melancholisch. Melancholisch-wundervoll.

An dem Bild Alte Moorbäuerin fand ich folgende Information: „Erworben 1920. Beschlagnahmung durch die Kommission für „entartete“ Kunst 1937. Erneut erworben 1951“. Wenn ich richtig geguckt habe, war das das einzige Bild, an dem der Hinweis auf die „entartete“ Kunst stand; umso wichtiger finde ich ihn.

Im nächsten Raum versank ich in drei Bildern von Munch, unter anderem in der Madonna, und entdeckte den mir vorher unbekannten Georg Minne. Bei Munch habe ich gemerkt, dass ich inzwischen anders gucke als vor einem Jahr. Ich lasse zwar immer noch zunächst im Raum den Blick schweifen und konzentriere mich dann auf die Bilder, die mich spontan faszinieren, aber bei denen versuche ich sofort zu ergründen, was sie aus kunsthistorischer Sicht auszeichnet. Ich überlege nicht mehr, was mir an ihnen gefällt – die Farben, die Komposition, das Motiv –, sondern ich rufe meine bisher im Kopf gesammelten Bilder ab und ordne das vor mir hängende Werk ein. Oder versuche es zumindest, was nach zwei Semestern natürlich noch eher ein Rumstochern im Nebel ist, aber der wird mit jedem Buch, jedem Bild und jedem Kurs lichter. So erstaunte mich bei der Madonna die rote Gloriole und das schwarze Haar; mir fiel bei Minnes Drei Heiligen Frauen (ich hoffe, ich habe mir den Titel richtig gemerkt) auf, dass sie keine Gesichter haben, was ihnen ihre Menschlichkeit raubt, und ich überlegte bei einem Winterbild Munchs, welche Farbschicht wohl zuerst kam und ob das Absicht war, seine Signatur per Weiß einzuschneien.

Im nächsten Raum warteten Picasso, Brancusi und Gris auf mich, und hier hatte ich ständig die oben erwähnten Demoiselles sowie Picassos Gitarrenbilder im Hinterkopf: Sehe ich Entwicklungen oder Abstufungen in der Abstraktion? Ich fühlte mich in jeder Minute um so viel reicher als noch vor einem Jahr, weil ich mich den Werken anders nähern konnte – aber trotzdem meine übliche emotionale Rangehensweise noch nicht von Fakten verschüttet wurde.


Constantin Brancusi, Der Kuss (1907/08)

Der nächste große Raum war mein zweitliebster auf dem Rundgang: Hier versammelten sich unter anderem Feininger, Belling, Schlemmer, von Jawlensky und Klee. Ich twitterte schon den Satz, der mir erstmals beim Rundgang durchs Lenbachhaus in München bei meiner immer noch nicht verbloggten Privatführung rausrutschte: „Ach, das hängt HIER?“ Damals ging es um das Porträt von Alexander Sacharoff von Alexis von Jawlensky, das ich sehr mag und von dem ich wirklich keine Ahnung hatte, dass es sich in meiner Nachbarschaft befindet. In Hamburg ging es mir bei Bellings Skulptur 23 so; auch hier der Querverweis zum Lenbachhaus: Dort steht nämlich der Dreiklang, über den wir im Skulpturenseminar sprachen. In meinem Kopf klickt es seit einem Jahr dauernd.


Rudolf Belling, Skulptur 23 (1923)

Was mich in diesem Raum so fasziniert hat: Ich mag auf einmal Feiniger. Den fand ich bisher immer so ja ach okay, aber dieses Mal erwischte er mich total. Ich ahne, dass es was mit der Beschäftigung mit Architektur zu tun hat, denn auf einmal konnte ich sein Liniengewirr nachvollziehen, sah Strukturen statt Dekoration und war begeistert davon, wie er einen Domchor auf Grundformen runterbrechen konnte.

Bei Klee bin ich stets überfordert, aber bei Klee ist mir das egal. Den mag ich einfach. Alles von ihm. In Hamburg hängen unter anderem (?) der Goldfisch (oh so pretty) und die Revolution des Viadukts. Vor dem Bild stand ich gerade, als hinter mir eine Schulklasse sich vor Franz Marcs Affenfries aufbaute und rumquatschte. War mir aber egal, ich starrte auf dekonstruierte Viadukte und war glücklich.

Dann erlahmten meine Augen aber auch schon so langsam. Ich nahm noch alle Kirchners mit – auch auf ihn bin ich erst im Skulpturenkurs aufmerksam geworden –, ignorierte Nolde aber schon so ziemlich; der kam mir auf einmal viel zu kleinteilig-nervig vor, nachdem Kirchner doch so schön flächig malte. Der vorletzte Raum gehört Max Beckmann, und hier konnte man wunderbar die Entwicklung nachvollziehen. Man beginnt Anfang des Jahrhunderts, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, bestaunt ein hellfarbiges Selbstporträt, ahnt seinen Lebenslauf und den des Jahrhunderts anhand der sich ändernden Bilder und Skulpturen und endet bei dunklen, zerfahrenen Bildern, die kurz vor seinem Tod entstanden.

In den letzten Kabinetten entdeckte ich dann noch zwei Frauen, von denen ich noch nie gehört hatte. (Vielleicht sollte ich doch das blöde Blockseminar im nächsten Semester belegen, das sich nur mit Künstlerinnen beschäftigt. Ich hasse Blockseminare.) Die Damen heißen Anita Rée und Elfriede Lohse-Wächtler, und gerade den Wikipediaeintrag zur letzteren sollte man sich nicht gönnen, wenn man sowieso schon schlecht gelaunt ist. Eine kleine Lesebitte. Kann nicht schaden. Und geht mal wieder ins Museum. Kann auch nicht schaden.

Über Cézanne

„Bei Cézanne begann sich die Aufgabe der Malerei zu erweitern. Zu dem „biologischen“ Auftrag, etwas Sichtbares wiederzugeben, gesellte sich der neue geistige Auftrag, etwas überhaupt erst sichtbar zu machen. (…) Vermöge eines engen Zusammenwirkens von Auge und bildnerischer Intelligenz: „beim Malen gibt es zwei Dinge – das Auge und das Gehirn. Beide müssen sich gegenseitig unterstützen. Man muß an ihrer wechselseitigen Entwicklung arbeiten – am Auge mittels des optischen Studiums der Natur, am Gehirn mittels der logischen Entwicklung und Ordnung der künstlerischen Erlebnisse – sie schafft die Ausdrucksmittel.“ (…)

Cézanne verfügte sich in das Werk hinein. Er tat das mit einem ergreifenden Einsatz seines ganzen Menschentums. Von Anlage und Temperament ein ungestümer, ganz barocker Geist von einer erschreckend sinnlichen Wildheit, verfügte er sich unter die unerbittliche Disziplin seines Konstruierens; daraus kommt die zitternde Kraft seines Formgefüges. Er wob sein ganzes eigenes Sein dem Bildleib ein. Fortab sitzt das „Bild des Menschen“ im Bilde selbst, da hat er sich hineinverfügt, dort ist er aufzufinden. Die heute so beliebte Frage nach dem Menschenbild in der modernen Kunst, wenn man darunter das Erscheinungsbild, das Ikonographische versteht, zeugt von einem hilflosen Mißverstehen dieses Grundgedankens.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 38/39.

Links vom 12. August 2013

Ab in die Arena

Sidan aus Stuttgart beschreibt ausführlich seinen ersten Besuch in der Münchner Allianz-Arena bei Bayern gegen Gladbach. Jetzt weiß ich, warum der ehemalige Mitbewohner nie, nie, nie mit dem Auto ins Stadion fahren will.

„Direkt vor mir und meiner Freundin sitzt eine kleine Familie mit interessanter Besetzung. Der Vater, ein Mann mit grauen Locken, um die Fünfzig, fiebert offensichtlich sehr mit Gladbach mit, auch wenn er keine Fankleidung trägt, die Tochter um die zwanzig trägt ein Schweinsteiger-Trikot und ist ebenfalls voll dabei, dazwischen sitzt die Frau bzw. Mutter, die immer das Familienmitglied nett anlächelt, das gerade auf eine eben stattgefundene Spielszene reagiert.“

Difficult Women – How Sex and the City lost its good name

Emily Nussbaum, die ich schon als TV-Kritikerin von Salon.com kenne und schätze, erinnert mich daran, wie bahnbrechend Sex and the City war, das ich zugebenermaßen selbst auch schon in die Schublade guilty pleasure gepackt habe. Ich sollte die DVDs mal wieder rausholen.

„But “Sex and the City,” too, was once one of HBO’s flagship shows. It was the peer of “The Sopranos,” albeit in a different tone and in a different milieu, deconstructing a different genre. Mob shows, cop shows, cowboy shows—those are formulas with gravitas. “Sex and the City,” in contrast, was pigeonholed as a sitcom. In fact, it was a bold riff on the romantic comedy: the show wrestled with the limits of that pink-tinted genre for almost its entire run. In the end, it gave in. Yet until that last-minute stumble it was sharp, iconoclastic television. High-feminine instead of fetishistically masculine, glittery rather than gritty, and daring in its conception of character, “Sex and the City” was a brilliant and, in certain ways, radical show. It also originated the unacknowledged first female anti-hero on television: ladies and gentlemen, Carrie Bradshaw.“

History.exe – How can we preserve the software of today for historians of tomorrow?

Sehr spannender Artikel, gerade für Historiker_innen, die das Problem der Quellen kennen. Bei dem Vortrag über die digitale Rekonstruktion von im Dritten Reich zerstörten Synagogen sprach der Professor auch von den Schwierigkeiten, die ihnen das gerade mal gut zehn Jahre alte Programm machte: Die ersten Daten wären schon verloren, sie könnten an ihre eigenen, ersten Versuche der Rekonstruktion nicht mehr herankommen, weil Hardware UND Software nicht mehr zugängig seien.

„I had come to Microsoft to do research for the book I am writing on the literary history of word processing. Microsoft Word, I reasoned, was the most widely used piece of writing software in the world, the No. 2 pencil of the digital age. (…) Over the course of a week spent sequestered in the remote archives building on the edge of the Microsoft campus, I came to appreciate exactly what it means to think about software as an artifact: not some abstract, ephemeral essence, not even as lines of code, but as something made, something that builds up layers of tangible history through the years, something that contains stories and subplots and dramatis personae. And I started thinking anew about how we preserve software for the future: future users, future programmers, and future historians. If, hundreds of years from now, a literary scholar wanted to run Word 97, the first consumer version to implement the popular “track changes” feature, how would she find it? What machine would accommodate this ancient artifact of textual technology?“

Warum es 2013 so schwierig ist, zu wählen

My thoughts exactly. Auch als Westkind.

„Jede Partei, die reelle Chancen hat, in den Bundestag zu kommen, wird nach allem, was wir aus der Vergangenheit über sie wissen, mitmachen. Denn das Mitmachen ist es, was die „Alternativlosigkeit“ im Kern bedeutet. Und die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass ihre Einzige Chance, die Tugend des Nicht-Mitmachens auszuleben eine Verweigerung des Gangs zur Urne ist. Oder eine ungültige Wahl. Oder die Wahl einer Splitter-Partei. Das ist das Drama, das sich auch mir im Hinblick auf den 22. September offenbart. Noch nie habe ich mich so sehr überwinden müssen zu wählen. Noch nie hat es sich so hoffnungslos angefühlt, zu wählen.“

Über van Gogh

„Von seiner Kunsthandelstätigkeit kannte er sich in der Kunst gut aus. Nur die Neuesten, die Impressionisten, die kannte er noch nicht. Er setzte also bei Millet an, dort fand er den schweren, dunklen, festen Klang der Erde und die der Erde zugewandten Gesten in den Menschen. Ihn zieht das Sein der Dinge an, das Beredte ihres stummen Daseins. Als er 1882 das Landschaftsmalen zum erstenmal versucht, da denkt er gar nicht an Bild, Dekor oder Erscheinung, da kommt es ihm an „auf die ernorme Kraft und Festigkeit des Terrains“. Das war sichtbar zu machen. Und nun stürzt er sich mit dieser wilden, religiösen Inbrunst, die ihm immer eigen war, auf die Dinge. Nichts da von peinture und sorgsamem Umgang mit den Mitteln, Hauptsache blieb die Wahrheit von den Dingen. Da drückt er „Wurzeln und Bäume direkt aus der Tube und modelliert mit dem Pinsel. Ja, nun stehen sie, wachsen, wurzeln mit Kraft“. Wunderbare Einsichten kommen ihm da, Worte von tiefster Wahrheit, „wenn man wachsen will, dann muß man sich in die Erde senken“, schreibt er 1883 an Théo. Und so gräbt er sich ein, immer auf der Suche nach den Bildern, die in den Dingen und zugleich hinter ihnen liegen, die ihr Sein bestimmen, ihre ausgeformte Wahrheit. Und wie er sich in die Dinge gräbt, so gräbt er sich in die Gesichter der Elendsbauern um ihn, zeichnet wie besessen, um, wie er sagt, den „Typus“ zu finden, das, was hinter dem Einzelnen liegt, die große Maske des menschlichen Schmerzes.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 26.

Embracing Brancusi

Seit ein paar Tagen befülle ich still und leise mein neues Drittblog. Es trägt den Titel Embracing Brancusi – erstens weil’s hübsch klingt und zweitens, weil ich viele der Skulpturen und Plastiken Brancusis gerne umarmen würde. Aber eigentlich eher, weil’s hübsch klingt.

In diesem Blog sammele ich die ganzen Zitate, die hier vielleicht einigen weniger kunstinteressierten LeserInnen auf den Zeiger gehen. Was mir natürlich relativ egal ist, aber ich lagere das trotzdem mal aus, vor allem, damit ich es selber besser im Blick habe. Ich weiß nicht, ob mir das Blog wirklich mal helfen wird, wenn ich grübelnd in der Bibliothek sitze und mir ein Buchtitel partout nicht einfällt, aber selbst wenn nicht: Ich mag diesen neuen digitalen, thematisch konsequenten Zettelkasten sehr gerne.

Ob ich weiterhin Zitate hier im Blog stehen lasse oder nur einen Link nach drüben setze – keine Ahnung.

PS: Der titelgebende Herr spricht sich übrigens ungefähr Brankuusch aus.

PPS: Die meisten Zitate sind nicht ganz anständig belegt, weil ich anfangs im Erstblog schlampig und unwissenschaftlich zitiert habe und die ganzen Bücher, aus denen die Sätze stammen, in München stehen. Die vielen fehlenden Seitenzahlen hole ich im Wintersemester nach.

PPPS: Ich hab den besten Kerl der Welt. #style_sheet_servant