Tagebuch Mittwoch/Donnerstag, 30./31. Januar 2019 – ZI und Klangtexturen

Da ich im Moment auf weitere Textvorlagen bzw. Briefings warte, hatte ich am Donnerstag entspannt Zeit, endlich mal wieder ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte zu gehen. Ich war anscheinend recht lange nicht mehr dort – mich überraschten neue Schließfächer im Vorraum der Bibliothek, und der praktische Tisch in der Mitte, auf dem man sonst sein Zeug schnell ablegen konnte, um Jacke und Rucksack ins Schließfach zu stopfen, war nicht mehr da. Jetzt balanciert man anscheinend alles auf der Fensterbank und hofft, dass der Laptop nicht herunterfällt, während man nach dem 1- oder 2-Euro-Stück sucht, das man zum Schließen braucht. (Habe ich natürlich immer in der Hosentasche.)

Meine geplante Diss hatte sich leider zerschlagen, seit mir die Erben Grossbergs im August mitteilen ließen, dass sie niemand in den Nachlass gucken lassen wollen (ich war nicht die erste, die nachfragt). Das warf mich doch länger aus der Bahn als ich dachte, dann kam der Umzug, dann musste ich gefühlt drei Monate Lampen aussuchen, dann Kekse backen und plötzlich ist es Ende Januar und ich habe seit Monaten nichts für die Diss gemacht. Jetzt aber!

Ich habe inzwischen eine deutlich veränderte Fragestellung im Hinterkopf, weiß aber noch nicht, ob sie trägt. Daher bin ich jetzt wieder beim, wie mein Doktorvater es so schön nennt, „ergebnisoffenem Forschen“ angekommen; ich suche erstmal alles zusammen, was ich so finde und gucke dann, welche Frage sich daraus ergibt. Oder auch nicht. Momentan weiß ich nicht, ob ich mit Protzen alleine eine Diss bestreiten kann, wenn ich mehr will als nur ein kommentiertes Werkverzeichnis zu erstellen – das ginge nämlich halbwegs mit seinem Nachlass und den Archivdokumenten, die ich bisher durchgewühlt habe. Aber das ist natürlich total langweilig, auch wenn es für die Nachwelt bestimmt nett wäre, so eine Übersicht zu haben. In meinem Hinterkopf wird das ein dicker Anhang, aber mehr nicht.

Daher fing ich am Mittwoch wieder einmal von vorn an, indem ich mir ein paar Ausstellungskataloge zur NS-Kunst raussuchte – so viele gibt’s ja nicht – und die Aufsätze las, die ich bisher ignoriert oder nur überflogen hatte. Gerade den Katalog von der problematischen Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ in Weimar 1999, wo NS-Kunst relativ unkommentiert neben DDR-Kunst hing, wollte ich komplett lesen. Der war dann auch deutlich ergiebiger als ich gedacht hatte, gerade weil bei mir im Kopf eben nur die Kontroverse war, aber nicht die eigentliche Intention: die Zeitläufte deutscher Kunst am Beispiel von Weimar abzubilden. Im Katalog klappt das deutlich besser als es vermutlich in den Ausstellungsräumen gelungen ist, auch wenn hier die Zeit vor 1933 ein deutliches Ãœbergewicht hat. Aber genau die fand ich spannend.

Irgendwie landete ich bei der Kulturpolitik der 20er Jahre, die Justus H. Ulbricht in einem Aufsatz gut zusammenfassen konnte, hier ein Ausschnitt. (Das verlinkte Wort musste ich googeln, kleiner Service für alle, denen es vielleicht genauso geht.)

„Nach Kriegsniederlage und Revolution nämlich erwartete man quer durch alle politischen Lager hindurch gerade von Kunst und Kultur identitätsstiftende Impulse für die Gemeinschaftsbildung der in antagonistische Milieus, Parteien, Klassen und Konfessionen gespaltenen deutschen Gesellschaft und stritt sich in diesem Bereich folglich um die Deutungskompetenz für Werte und Normen mit kulturreformatorischem Anspruch. Die ersehnte „Wiedergeburt“ des unterlegenen Reiches als Nation schien sich allein auf dem Wege der Kulturpolitik erreichen zu lassen, glaubte man hier doch an die integrative Kraft eines gemeinsamen Erbes. Die Ankunft des ersehnten „neuen Menschen“ auf Erden versprach man sich – auf der Rechten wie der Linken – von einer ästhetischen Erziehung der Zeitgenossen, in der die mit soteriologischen Hoffnungen überfrachtete Kunst eine zentrale Rolle spielen sollte. Derartige Vorstellungen wurden gerade in der Stadt des klassischen Erbes emphatisch beschworen und zeichneten sich oftmals durch ihre programmatische Politikferne aus – eine in Zeiten beginnender Demokratie folgenschwere Hypothek des deutschen Kulturbewusstseins, die überdies in direkten Konflikt mit den dezidiert politischen Positionen einzelner Avantgardeströmungen geraten musste.“

(Justus H. Ulbricht: „‚Wir wünschen hier kein München-Schwabing‘. Das Staatliche Bauhaus im Spannungsfeld der politischen Kultur Weimars 1918–1925“, in: Kat. Ausst. Aufstieg und Fall der Moderne. Kunstsammlungen zu Weimar, Schlossmuseum Weimar/ Mehrzweckhalle Weimar, Mai bis November 1999, Ostfildern-Ruit 1999, S. 264–272.)

Beim Thema Kunsterziehung las ich Donnerstag gleich weiter, denn darüber hatte ich noch nie nachgedacht: dass natürlich nicht nur die radikale Rechte, sondern auch die Linke und das angeblich unpolitische Bürgertum jeweils eine Agenda hatten – die sie teilweise mit Kulturpolitik durchzusetzen versuchten. Ich las nur in einem Buch, denn das beschäftigte mich für Stunden: Transformation der Kunst: Ziele und Wirkungen der deutschen Kultur- und Kunsterziehungsbewegung von Peter Ulrich Hein. Ich fing im Kaiserreich an, dessen Kulturkritik bzw. die Schriften dazu eine Stoßrichtung hatten: das Anprangern der „Künstlichkeit städtischer Zivilisation, obwohl gerade sie erst die Voraussetzung für eine größere kulturelle Dispostionsfreiheit schafft. Zivilisationskritik bei gleichzeitiger Verfügung über ein romatisches Naturideal gilt als das Grundelement des sogenannten Kulturpessimismus [wie bei Fritz Stern oder Georg L. Mosse].“ (S. 32/33.)

Wir überspringen mal lustig den Ersten Weltkrieg und sind in den 20er Jahren:

„Die gesamte kulturkritische Bewegung ist beherrscht von einer Ablehnung des Parlamentarismus. Indem man um eine „wahre Bildung“, eine „echte Kunst“, eine „unmittelbare Erlebnisfähigkeit“ bemüht ist, also um Werte, vor denen jedes zivilisatorische Provisorium Stückwerk bleiben muss, sind so weitgehende Maßstäbe gesetzt, dass auch ein höchst mittelbarer, unvollkommener und mühseliger Weg politischer Beteiligung als Korrumpierung des hohen, einzig akzeptablen Anspruchs empfunden werden muss.“ (S. 35.)

Und schließlich:

„Die Sprache der Kulturkritik ist voller Andeutungen über eine Zukunft in diesem Sinne, nicht etwa mit konkreten Vorstellungen, sondern sie propagiert eine geistige Haltung als solche, die diese Zukunft gleichsam verkörpert und primär als eine „künstlerische“ begriffen wird. Die Rede ist von einem „neuen Mythos“, einem „unerlösten Gott“ und schließlich auch vom „Kommen des Dritten Reiches“. Dies alles waren nur sehr schwer positiv zu füllende Vorstellungen und weder in einem politischen noch in einem ethischen Sinne konsenstauglich. Ein solcher Konsensus war aber sehr wohl herzustellen: Auf der Ebene einer deklamatorischen Ablehnung und zugleich „genialen“ Überwindung der gegebenen Verhältnisse, die einer wahrhaft großen Nation als unwürdig erachtet wurden. Kulturkritik, Kunst und Patriotismus bildeten auf diese Weise eine ideologische Liaison.“ (S. 36.)

(Alle Zitate: Hein, Peter Ulrich: Transformation der Kunst. Ziele und Wirkungen der deutschen Kultur- und Kunsterziehungsbewegung, Köln u.a. 1991.)

Ich stolperte im Buch allerdings über eine Stelle, in der die Dissertation von ausgerechnet Armin Mohler als „viel beachtet“ bezeichnet, aber nicht weiter eingeordnet wird, nämlich als durchaus problematisches Standardwerk zur konservativen Revolution. (In diesem Zusammenhang musste ich wieder an den unseligen Artikel von Alexander Dobrindt denken, bei dem ich mir bis heute nicht sicher bin, ob er den Begriff letztes Jahr bewusst oder unbewusst benutzt hat; hier ein Faktenfinder-Artikel dazu, in dem auch Mohler erwähnt wird.) Heins Buch ist von 1991, die Diskussionen damals waren vermutlich andere als heute, allerdings hatten wir gerade den Historikerstreit hinter uns, und so lese ich jetzt etwas vorsichtiger weiter.

Abends lauschten F. und ich dann dem Münchner Kammerorchester – und waren nicht ganz so begeistert wie sonst. Es begann sehr faszinierend mit Iannis Xenakis’ Aroura für 12 Streicher von 1971. Ich überlegte die ganze Zeit, wie man diese Musik beschreiben konnte und fand im Programmheft das perfekte Wort dafür: „Klang-Textur“.

Dann kam das Stück, weswegen ich eine Karte hatte haben wollen: Kammermusik Nr. 4 op. 36/3 für Violine und größeres Kammerorchester (1925) von meinem derzeitigen Spezl Paul Hindemith. Das überforderte mich aber, warum auch immer, gegen Atonales habe ich ja gar nichts, siehe Xenakis, aber irgendwie haderte mein Kopf. Ich habe mir das Stück für den Blogeintrag noch ein weiteres Mal angehört und heute morgen komme ich damit weitaus besser klar. Vielleicht war mein Hirn vom Lesen müde.

Nach der Pause gab’s Brahms, und ich dachte im Vorfeld noch, och, Brahms, na gut, nehmen wir den halt noch mit, aber nach dem sperrigen Hindemith (der mir beim zweiten Hören gar nicht mehr sperrig vorkommt) freute ich mich dann doch auf was Braves. Brav war’s. Leider war’s auch langweilig. Die Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11 von 1860 vermochte mich im ersten Satz noch zum freundlichen Mitnicken zu bewegen, aber in Satz 2 bis 4 war ich damit beschäftigt, Scheinwerfer zu zählen (wir saßen in der letzten Reihe), mir die bunte Decke anzugucken und zu versuchen, nicht einzunicken. Die zwei letzten Sätze hüpften dann schnell und belanglos an uns vorbei und wir wollten dringend nach Hause. Dort wartete leider kein Sekt mehr auf uns, wie ich vor dem Losgehen entsetzt festgestellt hatte, als ich eine Flasche kalt stellen wollte. Ich. Habe. Nichts. Blubberiges. Im. Haus! Das ist seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr vorgekommen und ich bin darob sehr verstört. Aber wie F. abends am Küchentisch nur noch müde sagte: „Der Brahms hat dem Abend irgendwie den Stecker gezogen.“ Und so gingen wir einfach ohne Absacker und große musikalische Diskussion ins Bett.