Tagebuch KW 14 – Wien, Wien und Wien

Letzten Sonntag fuhren F. und ich in unseren ersten Urlaub seit vor der Pandemie, also in einem anderen Leben. Es ging nach Wien, wohin sonst, wie schon in unserem letzten Urlaub Ende 2019. Wir nahmen uns nur wenige Ausstellungen im Vorfeld vor, wollten einfach gucken, wie’s uns so ging. Ich hatte recht lange überlegt, ob Wegfahren bei den derzeitigen Inzidenzen so clever sei, aber seit letztem Sonntag (Montag? keine Ahnung) sind in Bayern fast alle Corona-Auflagen weggefallen, während Wien die Maskenpflicht wieder eingeführt hatte. Daher waren wir der Meinung, in Wien sicherer zu sein und stiegen in den Zug.

Abends hatten wir gleich unser erstes tolles Essen gebucht, wo nicht nur halb aufs Zertifikat geguckt, sondern brav gescannt wurde, weswegen ich mich gleich wohler fühlte. Und Wein hilft ja auch immer. Ein herrlicher Abend, wie immer im Mast. Einen Rotwein notierten wir uns, weil wir den dringend nochmal trinken wollen, und ich werde mich noch länger an das perfekt gebratene Onglet mit den Salzflocken darauf erinnern. Wobei mein Lieblingsgang gleich einer der vier Reinkommer war, die gemeinsam am Tisch landeten: Seeforelle mit Goldrübe und Wasabi. Würzig, frisch, leicht und doch selbstbewusst im Mund, ein Traum.

Zu Fuß ins Hotel zurück, wo wir am nächsten Morgen diesen Ausblick genossen. Ich bin zum vierten Mal dort und habe bisher immer auf die Kirche gucken können.


Montag

Der nächste Morgen war generell aber eher ein Albtraum: Ich hatte mies geschlafen und war irgendwie panisch, während F. quasi entspannt war, sobald wir die Grenze überquert hatten. Ich lüftete im Zimmer vermutlich deutlich zu lange durch, atmete beim Frühstück sehr flach und hatte schließlich verspannte Schultern, einen steifen Nacken und war nah am Wasser aus Verzweiflung, nicht schön in meiner sicheren Zuhausehöhle geblieben zu sein.

Aber: Das legte sich alles im ersten Museum. Danke, Kunst. Dort gingen meine Schultern nach unten, der Nacken bewegte sich, weil ich soviel Munch gucken musste, und so langsam fühlte es sich nach Urlaub an. Noch toller als Munch war übrigens die Kombi mit mehreren anderen Künstlern und vor allem Künstlerinnen; mir gefielen die Werke von Marlene Dumas und Tracey Emin am besten, der olle Baselitz fiel so richtig schön ab.


Nichts geht mehr ohne Selfie Wall.


F. so: „Wegen dir kann ich keine Straßenarbeiter mehr …“ Ich so: „WO?!?“ (Edvard Munch, Straßenarbeiter im Schnee, 1920, Öl auf Leinwand.)

Ebenfalls gesehen in der Albertina: den Fotografen Michael Schmidt, der mir kein Begriff war, aber dessen Arbeiten mich sehr beeindruckten. Könnte an der Pubertät in den 1980er Jahren gelegen haben und dem Sonderstatus Berlins vor 1989.

Wir liefen außerdem im Schnelldurchgang durch die Sammlung Batliner, „von Monet bis Picasso“, und fühlten uns kurz wie im Lenbachhaus, wo auch ein Pferd von Marc hängt und alles, was halt zeitlich drumrum gruppiert ist.

Lieblingsbeschäftigung Museumshopgucken.

Unsere Füße wurden platter, aber die Albertina Modern war neu und nicht ganz so weit weg. Wir sahen Ai Weiwei und ich bin zum Fan geworden. Bisher hatte ich den Künstler immer als so richtig und ordentlich und auf die 12 wahrgenommen, aber nie seine ganzen Nuancen. Es läuft gerade die größte Retrospektive von ihm und falls ihr in Wien seid, solltet ihr euch das anschauen.

Dann auch noch die Karlskirche, weil ich den Chorraum da so mag. Ich hatte befürchtet, dass der nur bei Sonnenschein überwältigt, aber nee, ging auch bei bedecktem Himmel.

Spätes Mittagessen beim scharfen Rene. Ich wollte nur irgendwo sitzen, aber Wurst ist auch gut.

Damit war der Tag dann auch fast rum. Wir ruhten uns und die Füßchen aus, dann besorgte F. was von den Five Guys, wir tafelten im Hotelzimmer und fielen übermüdet und (ich) überfordert von so vielen Menschen und Eindrücken nach zwei Jahren Einsamkeit ins Bett.

Was wir bemerkten: Wir sind nach zwei Jahren Pause echt kein Rumstehen mehr gewohnt. Die wenigen Museumsbesuche in den letzten 24 Monaten, wenn sie überhaupt stattfanden, erledigten wir im Schnelldurchlauf, um möglichst bald wieder an der frischen Luft sein zu können. Wir stehen nicht mehr im Stadion oder der Bahn, wir sind nur noch zuhause. Da waren über fünf Stunden Gehen, Stehen, Gucken und Schlendern schon eine Herausforderung. Netterweise haben sich meine Füße daran erinnert, wie das ging mit dem Gehen, Stehen, Gucken und Schlendern und waren am nächsten Tag wieder einsatzbereit.

Dienstag

Bisher hatten wir schöne Ausstellungen, jetzt kamen die nicht ganz so schönen, aber die wollte ich dringend sehen. Die erste lief im Wien-Museum, hieß „Auf Linie“ und befasst sich mit der Reichskammer der bildenden Künste in Wien nach dem sogenannten „Anschluss“. Die anderen Ausstellungen übernahm F., „die hier zahlst du.“ Hätte ich auch, aber die Kassen waren ausgefallen, wir durften umsonst rein, ha!

Für mich spannend waren einige Quellen, die ich so noch nicht kannte; ich kannte die Inhalte, hatte aber noch nie die Quelle an sich vor Augen gehabt (Fragebögen an die Künstler zur Aufnahme in die RKK). Die Namen waren mir fast alle unbekannt, das Prozedere an sich natürlich nicht, das war im „Altreich“ ähnlich. Ich hatte im Vorfeld ein bisschen schlechte Laune wegen der Hängung gehabt, die in der Vorschau auf der Website abgebildet ist. Ich verstehe, dass die Gitter als Depotpräsentation sagen sollen, dass alle Museen bergeweise systemkonforme Kunst aus der NS-Zeit im Keller haben und sich diese Ausstellung auch fragt, ob der Kram da nicht bleiben sollte, aber für mich nimmt diese Art der Präsentation den Arbeiten ihren Nimbus als Kunst. Das habe ich garantiert schon mal geschrieben, aber ich wiederhole das gern: Diese Werke müssen uns heute nicht gefallen, aber sie sind als Kunst angefertigt, ausgestellt und gehandelt worden. Sie verdienen daher auch das Minimum an Ausstellungsnormen wie eine vernünftige Auszeichnung (Werktitel, Künstler*in, Entstehungszeit, Maße etc.). Das hat diese Ausstellung netterweise geliefert, und deswegen verzeihe ich dir die in meinen Augen etwas unfaire Hängung.

Hier im Bild im Hintergrund war dann aber eine hervorragende Idee: An der leeren Gitterwand hing als Schrifttafel ein Verweis auf diese bewusst gesetzte Leerstelle. Sie steht stellvertretend für die vielen Künstler und Künstlerinnen, die durch die NS-Kunstpolitik nicht arbeiten, ausstellen und verdienen konnten oder sogar verfolgt und ermordet wurden.

Die Autobahn war natürlich auch da, und immer, wenn ich dazu etwas lese und sehe, überprüfe ich innerlich, ob ich womöglich eine wichtige Quelle in der Diss vergessen oder übersehen habe. Bisher noch nicht. F. wiederholt gebetsmühlenartig, dass Forschung nie aufhört und ich nie ALLES erfasst haben kann, aber sowas beruhigt mich nie. Herrn Huber und diese Ausstellung kannte ich, ich habe sogar ein Werk von ihm abgebildet.

Dem ganzen Hasskram mussten Kaffee und Schokolade entgegengesetzt werden, wir kauften massenhaft bei unserem liebsten Kakaohöker ein und setzten uns dann für einen Flat White bzw. Espresso vor das Café nebenan, wo auch beim simplen Draußensitzen der Impfnachweis kontrolliert wurde.

Gestärkt luden wir unsere Schätze im Hotel ab und machten uns auf den Weg zur zweiten, thematisch passenden Ausstellung auf: Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum im österreichischen Haus der Geschichte, zu dem wir eine gewisse Zuneigung haben, weil wir in der Eröffnungswoche dabei gewesen waren. Von der Ausstellung hatten wir uns nicht viel erwartet, aber sie war halt da, also guckt man sie sich an. Und dann war sie über alle Maßen spannend und aufschlussreich und wir blieben um die zwei Stunden, um wirklich jedes Kärtchen zu lesen, das die Ausstellenden uns getextet hatten.

Schon den Reinkommer fand ich gut und vertwitterte ihn auch: Man stand vor einer Stellwand mit gezeichneten NS-Objekten (Eisernes Kreuz, ein Dolch, ein Teller mit einem Hakenkreuz drunter, wenn ich mich richtig erinnere, eine Ausgabe von „Mein Kampf“) und konnte auf einer Postkarte markieren, was man damit machen würde, sollte einem ein derartiges Objekt unterkommen: bewahren, zerstören, verkaufen? An drei weiteren Wänden wurden dann diese Möglichkeiten erörtert und man konnte lesen, was Besucher*innen so als Begründung für ihre Entscheidung geschrieben hatten. Eine für „bewahren“ war natürlich immer: einem Museum geben, damit Nachkommende davon lernen können.

Und damit beschäftigte sich dann der Rest der Ausstellung, hier der Anblick im Katalog, ich habe komischerweise selbst kein Foto vom Raum gemacht. An 13 Tischen standen Dinge, die dem Museum einst übergeben wurden, gerne mit der jeweiligen Originalverpackung – Bananenkisten, eine Aktentasche, ein anonymer Großbrief. Das Museum machte deutlich, was an diesen Exponaten so wichtig war, dass man sie aufheben sollte. Textkarten ordneten ein und gaben Hintergrund zu Details des NS-Staats. Das klingt superlangweilig und pädagogisch, aber wie gesagt, wir lasen alles durch. Und während F. sich die Kataloge zu Munch, Ai Weiwei und Schmidt kaufte, kaufte ich die zu den beiden heutigen Ausstellungen. War klar.

F. so: „Auf den ganzen Nazischeiß brauche ich viel Wein.“ Wie praktisch, dass wir abends die zweite Reservierung hatten. Wir gönnten uns ein ewig langes und teilweise völlig irres Menü im Steirereck. Ein unbeschreibliches Erlebnis. Mit Speisekärtchen für jeden Gang, damit der Service nicht zwei Minuten reden muss. Ich wollte nicht fotografieren oder filmen, ich wollte mir nicht mal was fürs Blog merken. Es war wundervoll.

Mittwoch

Ratet, was wir Mittwoch gemacht haben. Genau: EINE AUSSTELLUNG ANGEGUCKT. Eigentlich sogar mehrere, denn im Mumok läuft ja immer auf allen Stockwerken irgendwas. Ich habe mir Wolfgang Tillmans hart erarbeitet, denn genau wie bei Ai Weiwei stand ich mit ihm immer etwas auf Kriegsfuß. Aber das Foto von Ruth Amberly (2021) mit seinen dutzend Verweisen auf die Kunstgeschichte und die gefühlt unendliche Fotosammlung „Book for Architects“, die als mehrkanalige Dauerschleife lief, versöhnten mich sehr. Und wenn die beknackte Holzbank ohne Lehne im Raum der Installation ein bequemer Stuhl gewesen wäre, hätte ich alle 400 Architekturbilder angeschaut. So tat mir aber irgendwann der Rücken weh, was ich sehr bedauerte. Gut, dass wir Blue Elephant schon vorher angesehen hatten und den Rest des Hauses nur noch durchschlenderten.

Eine WhatsApp-Nachricht kündigte ein mögliches Treffen mit meiner Lieblingskochbuchautorin an; wir müssten uns allerdings testen lassen. Das hatten wir Sonntag vor der Fahrt gemacht, aber ein frischer Test schadet ja nie. Wir ergoogelten uns erstaunt – und gewohnt an die gefühlt drei Teststationen pro deutscher Großstadt für PCR-Tests – ungefähr 700 Orte rund ums Hotel, bei denen man spontan vorbeischauen konnte, entschieden uns für die Apotheke 30 Meter von der Hoteltür weg, zeigten unsere Ausweise, zahlten je 25 Euro, bekamen ein Stäbchen in Nase oder Rachen gesteckt und hatten gute vier Stunden später unsere negativen Ergebnisse auf dem Handy. Sätze wie „So geht das also in zivilisierten Ländern“ wurden ausgesprochen.

Abendessen an einer weiteren Wurstbude.

Donnerstag

EINE AUSSTELLUNG! Dieses Mal waren wir im Künstlerhaus und sahen „Whiteness as property“. Auch toller als erwartet! Der dort ausliegende dicke Flyer ist auch als PDF auf der Website abrufbar und bietet viel Theorie zu den einzelnen, durch die Bank spannenden Arbeiten.

Mir gefiel ein Film von Danica Dakić mit am besten: Er konstrastiert die Geschichte eines Mannes, der seit 20 Jahren zur Dialyse muss, mit der seines Bruders, der stets eine Plastiktüte dabei hat, in die er Müll stopft, der eine bestimmte Stelle eines Parks verschmutzt, in dem er gerne spazierengeht. „The Cleaner“ (2019) spielt im bosnischen Zenica, das, laut Ausstellungstext, „auch architektonisch ein Musterbeispiel einer modernen Großstadt“ war, seit dem Bosnienkrieg aber mit „extremer Umweltverschmutzung und kollektiver Resignation die Schattenseite der Moderne“ erfährt.

Optisch gefiel mir die Installation „Lawn“ (2008) von Lungiswa Gqunta am besten, hier im Ausschnitt zu sehen: In einer hellen Holzplatte stecken mit der Öffnung nach unten zerbrochene Flaschen, in denen grüne Flüssigkeit einen Rasen imitiert. „Während der Rasen als Symbol der besitz-individualisierten Privilegien in der Vorstadt fungiert, sind zerbrochene Flaschen mit verschiedenen Formen des Protests assoziiert (etwa als Molotowcocktail oder wenn sie an Gartenzäune montiert werden).“ Um das „Rasenstück“ war eine Umzäumung gesetzt, die laut eines Aushangs die Besucher*innen schützen sollte. Kuratorin und Künstlerin waren damit überhaupt nicht einverstanden, wie im Aushang zu lesen war: „Die Installation ist nicht dazu gedacht, eingezäunt zu werden, sie thematisiert den Zaun.“

Wir verdauten die Ausstellung mit einem erneuten Besuch beim Kakaohöker, man möchte ja ein kleines Gastgeschenk überreichen. Und für sich selbst noch ein weiteres Kilo Trüffel kaufen, falls das erste nicht reicht. Nach einer kurzen Pause setzten wir uns in die U-Bahn, erwarben noch ein bisschen Gebäck und ließen wir uns von der Gastgeberin herrlichen Earl Grey servieren. Ich bekam außerdem ein Buch geschenkt, aus dem ich seit der Rückkehr schon zwei Rezepte zubereitet habe, die – natürlich – hervorragend waren. Ich bin ein Fangirl.

Abends gab’s erneut sehr gute Wurst, dieses Mal sogar mit Pommes und Chipotle-Majo, und wir wurden immer wimmeriger, weil der Abschied von der Lieblingsstadt nahte. Wir hatten doch kaum was gesehen!

Freitag

Aber man kann ja nochmal IN EINE AUSSTELLUNG gehen. Im Prunksaal (!) der österreichischen Nationalbibliothek (!!) weinte ich innerlich ein wenig über acht Millionen Bücher und schaute dann interessiert eine Ausstellung, deren Flyer wir irgendwo gesehen und seitdem Witze darüber gemacht hatten: „Haha, Tierbilder aus der Sammlung der Habsburger, ist klar.“ Und dann war das, natürlich, aufschlussreich und interessant und schön, vor allem, weil ein bisschen Stadtgeschichte mitschwang, was mir sehr gefiel. Gelernt: Schönbrunn ist der erste Zoo der Welt und die Elefanten hießen früher alle Pepi.

Wir widerstanden der Versuchung, ein drittes Mal Schokolade zu kaufen, holten uns aber noch einen Abschiedskaffee, kauften dann noch Speck auf dem Biomarkt, weil uns der empfohlen wurde, und wir machen ja alles, was uns schlaue Menschen empfehlen. F. schwärmt schon, mein Stück ist noch eingeschweißt und wird vermutlich Teil einer Carbonara werden.

Dann rollkofferten wir zur U-Bahn und zum Bahnhof, ich nieste weiter, wie schon die ganze Woche, verdammte Fiaker oder verdammte Pollen, keine Ahnung, nutzten ausgiebig das Desinfektionsmittel für die Hände, was gratis im Hotel zum Mitnehmen rumgestanden hatte und ließen uns dann wieder nach Deutschland fahren. Dieses Mal mit Grenzkontrolle direkt auf deutscher Seite, was den Zug um 42 Minuten verspätete und uns noch nöliger ankommen ließ als eh schon.

Seufz. Aber seufz mit vollgestopftem Kopf und Gutem für den Bauch im Gepäck. Immerhin das. Und wieder nicht im Stephansdom gewesen, das ist unser Running Gag. Armer Dom.