Tagebuch Donnerstag, 28. September 2023 – Gelöscht

Schreibtischtag, viel gelesen, wie immer.

Die neue Dauerausstellung auf dem Obersalzberg ist seit gestern geöffnet. Hier drei Minuten des Bayerischen Fernsehens.

Es gibt zwei neue Bücher zu Ilse Koch.

„Die sich bis heute um Ilse Koch rankenden Horror-Geschichten verstellten oft den Blick auf die historische Person. Wie schwierig es ist, ein Urteil über sie zu fällen, spiegeln die gegen sie geführten Gerichtsverfahren wider, die mal mit langen Haftstrafen, dann wieder mit Freispruch endeten. Welche Rolle besonders ihr Geschlecht bei der historischen Bewertung und Einordnung ihrer Person spielte, untersuchen die beiden hier besprochenen Bücher.“

Rezension beider Werke bei hsozkult.

Ich wollte gerade die Literatur in der Wikipedia nachtragen, aber die steht natürlich schon drin. Gestern wollte ich die NSDAP-Mitgliedsnummer von Fritz Todt eintragen, die mir im Buch „Builders of the Third Reich. The Organisation Todt and Nazi Forced Labour“ über den Weg gelaufen ist, aber die passte vom Datum her überhaupt nicht in die Reihe. Seitdem frage ich mich natürlich, woher diese Info im Buch kommt und wie sehr ich dem Rest trauen kann. Das ist leider des Öfteren so, wenn ich zu diesem Thema Details finde, die nicht so recht stimmig zu sein scheinen – ich kann meistens nicht einfach in 17 anderen Büchern nachschlagen, weil es diese 17 Bücher nicht gibt.

Der einmillionste Kriegstote wurde identifiziert.

„Ein Anwohner hatte den Sanitätsgefreiten und zwei weitere Soldaten gefunden und begraben. Seine Familie umzäunte die Grabstätte und pflegte sie bis heute.“

Gelacht, wenn auch unter Schmerzen, von Henrik Solf auf Mastodon:

(Referenz, falls die unklar sein sollte.)

Tagebuch Mittwoch, 27. September 2023 – Meh

Eine Sonderausgabe des RIHA Journals, dem Onlinejournal der International Association of Research Institutes in the History of Art, befasst sich mit „The Fate of Antiquities in the Nazi Era“. Alle Artikel sind offen zugänglich und lesbar.

Amnestie von NS-Tätern – Das “Dreher-Gesetz” von 1968

Die BPB schreibt:

„In Justiz und Ministerien der jungen Bundesrepublik konnten schon wenige Jahre nach dem Krieg viele NS-belastete Staatsanwälte, Richter und Beamte ihre berufliche Laufbahn fortsetzen. In Leitungspositionen des Justizministeriums waren beispielsweise 1963 55 Prozent des Personals ehemals Mitglied der NSDAP und 22 Prozent der SA gewesen. Mehr als 15 Prozent waren vor 1945 im nationalsozialistischen Reichsjustizministerium selbst tätig gewesen. Inwiefern diese persönlichen Verstrickungen bei der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen eine Rolle gespielt haben, untersuchte 2012 ein Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Auftrag des Bundesjustizministeriums. […] Federführend bei der Änderung des § 50 Abs. 2 StGB war im Bundesjustizministerium der Unterabteilungsleiter Eduard Dreher, der als Staatsanwalt im NS-Regime für einige Todesurteile mitverantwortlich war. Inwiefern zumindest Dreher sich über die Konsequenzen der Neufassung im Klaren war, lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht mehr gänzlich rekonstruieren.“

Ansonsten ein eher doofer Tag. Zuerst ewig unkonzentriert, weil ich auf einen Anruf gewartet habe, dann traurig, weil der Anruf kam, aber nicht den Inhalt hatte, den ich mir gewünscht habe. Ihr könnt das Daumendrücken kurzfristig wieder einstellen. Ich werde leider nicht für drei Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg tätig werden.

Tagebuch Dienstag, 26. September 2023 – Alles gesagt

Mely Kiyak reißt in ihrer Kolumne fürs Gorki-Theater so viele Themen an, dass ich mich kaum für eins entscheiden kann. Das hier war beim Posten auf Masto mein Favorit:

„Gegen Radikalisierung von Rechts in diesem Stadium hilft nur Radikalisierung von Links. Man muss den Faschisten das Leben so schwer machen, dass sie die ganze Zeit damit beschäftigt sind, sich anzubiedern und Naziforderungen in demokratische Programmatik umzuwandeln. Es funktioniert aber genau andersherum. Die demokratischen Parteien suchen die parteipolitische Anschlussfähigkeit an die Faschisten.“

Gestern (?) meinte jemand dort drüben, dass wir schon wieder damit beschäftigt seien, uns selbst in die Depression zu schreiben. Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, weil ich beim Beginn auf Masto erstmal alles abonniert hatte, was nach guter Laune aussah: die Hashtags mastoart und bloomscrolling, zum Beispiel. Mastoart ist inzwischen wieder de-abonnniert, weil mir da zu viele, äh, Heimarbeiten ankamen, die aussehen wie meine eigenen halbgaren Versuche mit Wasserfarben und von denen muss ich nicht mehr anschauen als die, die vor mir auf dem Block ineinanderlaufen. Blümchen gehen gerade saisonbedingt irgendwie zur Neige, und daher fiel es mir gestern auch erstmals deutlich auf: Meine Timeline ist schon wieder arg schlecht gelaunt und zynisch. Ich versuche, das wenigstens an meinen Posts mal wieder zu ändern, aber gleichzeitig macht mir das politische Klima halt große Sorgen. Können die bitte mal von der Politik ernstgenommen werden?

Ansonsten war gestern Schreibtisch- und Bratkartoffeltag. Aber: Mich erreichte eine äußerst unerwartete Mail von jemandem, den ich seit über 30 Jahre nicht gesehen habe. Er saß gerade im Zug und hatte, warum auch immer, meinen Namen ergoogelt und mir das gleich mal gemailt. Das war nett.

In der Datenbank der Hamburger Kunsthalle die Sammlung für ausgesonderte („vergangene“) Werke entdeckt. Nachdem ich mich über die latent unkomfortable Sortierung aufgeregt hatte (jedes Jahr einzeln anklickbar anstatt vielleicht erstmal Jahrhunderte oder Dekaden), lungerte ich bei den Werken rum und klickte durch die Gegend. Dabei gefiel mir eine Bildbeschreibung besonders: „Eine Jungfrau mit Diadem auf einem Einhorn sitzend kommt aus der Tiefe des Tannenwaldes nach vorn. Rechts Blick in die Ferne.“ Natürlich.

Tagebuch Montag, 25. September 2023 – Disziplin

Ich lese gerade Ina Seidels „Das Wunschkind“, in dem mir eine für mich neue Formulierung unterkam. Wir befinden uns gerade in Mainz, kurz nach der Französischen Revolution, und die Hauptfigur Cornelie, so halb adelig, aber mindestens begütert, denkt über ihre Verantwortung den Armen gegenüber nach:

„Wie sie es von ihren eigenen Untergebenen zu erwarten gewohnt war, so nahm sie von allen Armen der Welt an, daß sie irgend jemand untertan und zu Gehorsam und Leistung verpflichtet seien, wie brave Kinder ihren Eltern, auch wenn diese von gerechter Strenge waren. Bibel, lutherischer Katechismus, preußische Staatsräson und fritzische Disziplin waren die Pfeiler dieser Überzeugung, die sich bisher restlos bewährt hatte. Daß nun auf einmal eine andere Anschauung der Weltordnung, daß eine Beleuchtung von unten her sich durchsetzen wollte, ohne daß Gottes Weisheit den rebellischen armen Leuten sogleich mit Blitz und Donner kräftig die Köpfe klärte, dies war verwirrend.“

Ina Seidel: „Das Wunschkind“, Stuttgart 1955 (Erstausgabe 1930), S. 67.

„Fritzische Disziplin“ war mir neu und ist mir sofort unsympathisch.

Das Buch strengt etwas an, aber ich werde es mit fritzischer Disziplin weiterlesen, denn ich bin doch neugierig, wo es noch mit mir hinmöchte. Und meist mag ich die vielen Adjektive von Frau Seidel. Ihre Formulierungsfreude, die Themen gerne über mehrere Seiten ausführt, erinnert mich an Thomas Mann, bei dem ich mich auch des Öfteren nach 30 Sätzen frage, wann Er denn mal zum Punkte kommen wolle, aber Seidel schreibt, zumindest in den ersten Kapiteln, eher über duftende Kinder, die Natur und Zuneigung zu anderen Menschen, während Mann weltmännisch (see what I did there?) vor sich hinphilosophiert, und momentan finde ich duftende Kinder interessanter, auch überraschend für mich.

Eben habe ich die Aussprache der Hauptperson gegoogelt: Auf den ersten 50 Seiten hatte ich sie im Kopf immer CorneLIE ausgesprochen, bis mir einfiel, dass es ja auch CorNElie wie Cornelia ausgesprochen werden kann. Das nehme ich jetzt. „Cornelie“ war mir auch neu. Ich lerne so viel in diesem alten Ding!

Tagebuch Donnerstag bis Sonntag, 21. bis 24. September 2023 – I’m on a train

Eigentlich wollte ich vier Tage im Norden verbringen, aber aus Gründen musste ich die Zeit dort verkürzen. Ich kam also Donnerstag abend nach guten fünf Stunden im immerhin gemütlichen und nicht übervollen ICE in Hannover an, kaufte ein, kochte dem Mütterchen Abendessen und öffnete spätabends eine Sektflasche (und nippte immerhin daran, aber der ganze Burgunder hat mich endgültig von Discounter-Alkohol entwöhnt). Dazwischen zupfte ich drei Wassereimer voll Weintrauben von ihren Rispen, damit wir davon Marmelade kochen konnten. Nachts lag ich in Papas altem Bett (dort schlafe ich seit Jahren, mein Kinderzimmer nervt) und hörte bei offenem Fenster dem Rauschen der riesigen Bäume zu, das fehlt in der Stadt doch ein bisschen oder wird von Autos übertönt.

Freitagvormittag spülte und trocknete ich 50 Marmeladengläser, wusch anderes Zeug ab, saugte ein bisschen Staub, wo ich welchen sah und kochte Mittagessen, als langsam klar war, dass ich früher wieder abreisen musste. Ich erwischte noch den ICE um 17.26, jedenfalls buchte ich den, sah aber dann den von 16.26 noch im Gleis stehen, der halt Verspätung hatte, wie auch meiner, von dem die App sagte, dass er frühestens 17.50 fahren würde, ich ignorierte also die Zugbindung und nahm Platz in einem fast völlig leeren Wagen der 1. Klasse, während die App mir die 2. Klasse als „außergewöhnlich hoch ausgelastet“ angezeigt hatte. Bis München wollte mich niemand kontrollieren (schön), aber einen Keks gab’s halt auch nicht (Hunger!).


(Screenshot am Samstag morgen gemacht, schon auf Masto gepostet. Daher das „gestern“.)

Auf dem Heimweg noch Kunst geguckt.

Den Koffer, den ich gerade erst eingepackt hatte, also nach nicht mal einem Tag wieder ausgepackt. Mit dabei: zwei weitere Wiecherts, die noch beim Mütterchen im Regal standen. In der „Passion“ liegt eine Karte von „den Kollegen“ zu ihrem Geburtstag von 1963.

Außerdem lache ich seit Tagen über Mark.

I Was Wrong About the Death of the Book

Jeff Jarvis über Bücher.

„Fifteen years ago, in What Would Google Do?, I called for the book to be rethought and renovated, digital and connected, so that it could be updated and made searchable, conversational, collaborative, linkable, less expensive to produce, and cheaper to buy. The problem, I said, was that we so revered the book, it had become sacrosanct. “We need to get over books,” I wrote. “Only then can we reinvent them.”

I recant.

Umberto Eco was right when he said, “The book is like the spoon, scissors, the hammer, the wheel. Once invented, it cannot be improved.”“

Diesen Absatz fand ich sehr auf mich zutreffend, was ich vor dem Studium und der Bibliothek als Bällebad aber auch noch nicht wusste:

„In What We Talk About When We Talk About Books, the founder of the Initiative for the Book at Rutgers University noted that in the years after the book had been declared dead, sales of printed books rose as those of electronic books drooped. “When we mourn the book, we’re really mourning the death of those in-between moments,” she wrote. Worry for the book is a proxy for other fears. “We may be seeking refuge from technological and commercial upheavals, from the people and places that crowd in on us, or from our own sickness and weakness.“

Und das hier noch, denn natürlich sind das Internet und eBooks und Open Access genauso super wie Papierstapel. Nur halt anders:

„We do not yet know what the internet can or will be. But we do know what the book is. We have it as our standard to judge against. Let the book be the book.“

Tagebuch Mittwoch, 20. September 2023 – Wildt, Friedländer

„Als [Saul Friedländer] 2007 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, erklärte [er] am Schluss seines Vortrags, in dem er vor allem auf persönliche Dokumente seiner eigenen Familie Bezug genommen hatte: ‚Sechzig Jahre sind vergangen, seit diese und zahllose ähnliche Stimmen zu vernehmen waren. Und doch berührten sie uns, mag auch lange Zeit verstrichen sein, mit einer ungewöhnlichen Stärke und Unmittelbarkeit, die weit über die Grenzen der jüdischen Gemeinschaft hinaus fortwirkt und die große Teile und mehrere Generationen der abendländischen Gesellschaft bewegt hat. Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun, und wir werden auch nicht durch kommerzielle Darstellungen des Geschehens manipuliert. Vielmehr erschüttern uns diese individiuellen Stimmen infolge der Arglosigkeit der Opfer, die nichts von ihrem Schicksal ahnten, während viele rings um sie das Ergebnis kannten und manchmal an seiner Herbeiführung beteiligt waren. Vor allem jedoch bewegen uns die Stimmen der Menschen, denen die Vernichtung bevorstand, bis auf den heutigen Tag gerade wegen ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Die Stimmen der Menschen bewegen uns unabhängig von aller rationaler Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von Neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen.‘

Die Geschichte der Shoah ist auch eine Geschichte des Verlustes an Gewissheit. Mit Auschwitz zerstob die Verheißung der Moderne auf historischen Fortschritt und Selbstvervollkommnung und wurde offenbar, wozu Menschen in der Lage waren und sind. All die zivilisatorischen Standards, auf die die bürgerliche Gesellschaft zu Recht stolz war, wie Recht, Vernunft, Moral, Autonomie, Selbstbestimmtheit haben in dem Moment, in dem es im 20. Jahrhundert darauf angekommen wäre, versagt. Nicht eine einzige zivilisatorische Grenze hat dem Massenmord eine Schranke setzen können; allein die Schwierigkeiten, die die Nationalsozialisten selbst schufen, sorgten hier und da einmal für eine Verlangsamung der Radikalisierung. Nicht einmal mehr die Religion war imstande, in der Apotheose der Rassetäter eine ungeheuerliche Gotteslästerung zu erkennen, die entschlossenen Widerstand geradezu zur Christenpflicht gemacht hätte.“

Michael Wildt: „Raul Hilberg und Saul Friedländer – Zwei Perspektiven auf den Holocaust“, in: Ders.: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019, S. 387–404, hier S. 402/403.

Betroffenen von Gewalt, Ausgrenzung und ihrer Aufarbeitung wird gerne der Vorwurf gemacht, dass sie nicht objektiv über die sie betreffenden Themen schreiben könnten. „Warum, fragte [Friedländer], sollten Historiker, die zur Gruppe der Verfolger gehören, befähigter sein, distanziert mit der Vergangenheit umzugehen als diejenigen, die zur Gruppe der Opfer gehören?“ (S. 395)

Generelle Leseempfehlung für den Band.

Tagebuch Dienstag, 19. September 2023 – 500 miles

Okay, es waren nur 500 Kilometer, aber ein Lied namens „500 kilometers“ kenne ich halt nicht.

Ich hatte einen Termin, der gute 250 Kilometer von München weg war, und aus Gründen (zweimal umsteigen, wenige Verbindungen, zu wichtiger Termin) buchte ich nach Ewigkeiten mal wieder einen Mietwagen anstatt mich gemütlich in den Zug zu setzen.

Ich bestellte das Fahrzeugmodell, das das Mütterchen fährt, denn so, dachte ich, wüsste ich immerhin halbwegs, wie die Karre funktioniert. Aber weil man ja weiß, dass das Leben kein Wunschkonzert ist, guckte ich ernsthaft am Vorabend ein paar YouTube-Videos über Navigationssysteme der verschiedenen Hersteller – wie gehen die an, wo ist das Radio, muss man den Autoschlüssel irgendwo einstecken oder liegt der nur rum; halt den ganzen modernen Schnickschnack, von dem ich keine Ahnung habe. Wir erinnern uns: Das neueste Auto, das ich je selbst besessen habe, war ungefähr Baujahr 1992, weiß ich nicht mehr genau, und mein letztes, das ich immer noch vermisse, war sogar noch älter.

Es kam wie erwartet: „Mein“ Wagen war nicht da und so erhielt ich einen, dessen Marke ich nicht mal kannte. Ich bin noch weiter raus aus der ganzen Autogeschichte als mir bisher bewusst war. Vom letzten Mal Mietwagen hatte ich mir immerhin gemerkt, dass das Navi erst funktioniert, wenn ich nicht mehr in der Parkgarage stehe. Also ließ ich die gefühlt riesige Karre todesmutig an, erschrak ob es äußerst hässlichen Displays (Star Trek für Arme in der chinesischen Fake-Version), erklomm die Auffahrt zur Ausfahrt sehr entspannt (ich hatte neben den YouTube-Videos auch „Anfahren am Berg Automatik“ ergoogelt, weil ich wusste, dass mein Zielgebiet quasi nur aus Hügeln besteht) und fuhr draußen sofort wieder rechts ran, um das Navi anzuwerfen.

Es kannte natürlich die Adresse nicht, aber ich wusste eine, die reichen würde, um in die Nähe zu kommen. Das Radio fand ich eher durch Raten und wildes Rumtippen und weil die Göttinnen nett sind, war schon eine 80er-Jahre-Station eingestellt, die mir die Fahrt versüßen würde. Beim Losfahren merkte ich dann, dass das Navi englisch mit mir sprach, aber das war okay, ich hatte keine Lust, mich in die Tiefen der Bedienung zu stürzen, um auf Deutsch umzustellen.

Ich war nervöser wegen der Fahrt als wegen des Termins an sich, weil ich schlicht schon ewig nicht mehr lange Strecken gefahren bin. Aber das ging alles wunderbar, das Körpergedächtnis wusste noch, wie sich eine Autobahn anfühlt, und ich behaupte, die Leute rasen nicht mehr so wie früher. Ja, es gab die wenigen Fahrzeuge, die sehr plötzlich sehr nahe hinter mir waren, aber ansonsten zuckelte ich mit 120 bis 130 vor mich hin und alle anderen taten das auch. Geht doch. Tempolimit jetzt, hallo FDP, es scheinen nicht viele Menschen etwas dagegen zu haben.

Mir fiel auch wieder auf, wie wenig moderne Autos mir als Fahrerin übermitteln, wie schnell ich gerade bin, ich musste dauernd auf den Tacho gucken. Für mich fühlten sich 80 und 120 nicht großartig anders an, was mich etwas unruhig machte. Das ist zwar nett, wie wenig man Geschwindigkeit spürt, aber eben auch sehr verführerisch und gefährlich. (Oma Gröner möchte wieder in ihren ICE, wo sie bewundernd auf die Anzeige „300 km/h“ guckt.)

Die Autofahrt hatte noch andere Vorteile neben der kürzeren Fahrtzeit verglichen mit ICE, Regio und Bus, die meine Alternative gewesen wären, sowie der Flexibilität: Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als die Fahrt (und die Texte der 80er-Songs, die ich mitsang). Daher war ich halbwegs entspannt beim Termin, aber abends dann auch komplett platt. Nach Zugfahrten bin ich nicht so matschig, wobei mich da allerdings die anderen Menschen im Waggon stressen könnten. Private Salonwagen jetzt, hallo FDP, das müsste doch genau euer Ding sein.

(Sie dürfen gerne Daumen drücken für das Ergebnis des Termins.)

Tagebuch Samstag, 16. September 2023 – Editiert

Bov Bjergs „Der Vorweiner“ durchgelesen und gemocht. (Perlentaucher-Rezensionen)

Mich vor der Arbeit gedrückt und einen Hauch in der Wikipedia editiert. Der Eintrag zu Ignacio Zuloaga müsste mal komplett überarbeitet bzw. übersichtlicher werden, meiner bescheidenen Meinung nach. Mache ich, wenn ich mich vor größeren Aufgaben drücken will.

Bei Überarbeitungen und Neuanlagen von kunsthistorischen Themen hilft das Kuwiki-Handbuch.

F. per DM durch Wiener Ausstellungen begleitet – und abends dann bei der Rückfahrt nach München, die von Oktoberfestbesucher*innen unfreiwillig verlängert wurde; er hing zeitweilig in Rosenheim fest, weil der Münchner Hauptbahnhof komplett gesperrt war, Personen im Gleis, wer kennt es nicht.

Äußerst kochfaul gewesen, Pizza bestellt, musste auch mal wieder sein.

Tagebuch Freitag, 15. September 2023 – Wegzehrung

Schwesterchen und Schwager haben sich gestern wieder auf den Heimweg gemacht. Morgens waren sie noch bei mir, um erstens sich selbst und dann ihre Thermobecher mit meinem herrlichen Espresso plus Milchschaum aufzufüllen. Doch alles richtig gemacht mit der Reparatur (aka Entkalkung) meiner Siebträgermaschine.

Gelesen, geschrieben, gelernt.

Eben rief das Schwesterchen an und hatte eine Frage zu den Arolsen Archives. Ich hatte den beiden von #EveryNameCounts erzählt, und seitdem geben sie auch Namen in die Datenbanken ein. Auch eine Methode, irgendetwas, verdammt nochmal, irgendetwas gegen die Normalisierung des Faschismus zu tun, die gerade umgeht.

Ein fatales Signal

Ein Kommentar von Sabine Henkel:

„Natürlich kann keine Partei in keinem Parlament verhindern, dass die AfD einem eigenen Vorhaben zustimmt. Aber es sehenden Auges und bewusst in Kauf zu nehmen, dass nur mit Rechtsextremen eine Mehrheit zustande kommt – das ist erbärmlich, und es ist angesichts der deutschen Geschichte unverzeihlich.“

Auf Keeping Memories den Maler Richard Grune kennengelernt, der 1934 wegen des Paragrafen 175 verurteilt und inhaftiert wurde – und 1948 in der Bundesrepublik nochmal, wegen desselben Vergehens, das ja nicht mal eines ist. Deshalb wurde er auch nicht als Opfer des NS anerkannt. Seine Ausstellung 1948 in Kiel mit Zeichnungen aus dem KZ Flossenbürg wurde von Unbekannten zerstört.

Dieses Land macht mich an manchen Tagen einfach nur fertig.

Tagebuch Donnerstag, 14. September 2023 – Zuloaga

Auf der Suche nach zwei wissenschaftlichen Büchern überraschend bei der Stadtbibliothek gelandet. Die Unibib hatte sie nämlich nicht, bei der Stabi dauert alles viel zu lange, aber die gute, alte Stadtbibliothek lieferte mir die beiden Bände innerhalb von 20 Stunden an die Ausleihstelle bei mir um die Ecke. Toll. Da kann ich also noch mehr leihen als nur Romane und Comics.

Abends eine hervorragende Kuratorenführung durch „Mythos Spanien. Ignacio Zuloaga“ in der Kunsthalle erhalten. Ein Werk kannte ich sogar schon aus der Reina Sofia und habe mich sehr gefreut, es wiederzusehen.

Die Ausstellung lege ich euch hiermit schon mal ans Herz und werde vermutlich noch ausführlicher darüber bloggen, aber jetzt bin ich gerade mit anderen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel zwei Bücher aus der Stadtbibliothek zu lesen.

Gerade noch schnell F. einen Ausschnitt aus der Biografie Zuloagas im Katalog per Foto geschickt:

„1938: Zuloaga wird der Gran Premio Mussolini der Biennale von Venedig verliehen.
1939: Francisco Franco schenkt Adolf Hitler drei Gemälde Zuloagas zum Dank für die Unterstützung durch die Legion Condor.“

F. so: „Mussolini, Franco und Schicklgruber in zwei Zeilen? Faschismus-Triple!“

Mich interessiert jetzt natürlich eher, was für Gemälde das waren und wo sie heute sind. Muss ich den Katalog halt auch noch speedlesen.

Tagebuch Mittwoch, 13. September 2023 – Gedenkstätte

Wenn Schwester und Schwager schon mit dem Auto in der Stadt sind, kann man sie gleich kapern, damit sie einen zu einer KZ-Gedenkstätte fahren. Das kostete nämlich mindestens eine Stunde weniger Fahrtzeit, und ich konnte schön hinten rumsitzen, Erdnüsse knabbern und aus dem Fenster gucken.

Den Besuch der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg kann ich hiermit empfehlen. Mir hat die Ausstellung sehr gefallen, sofern einem Ausstellungen in ehemaligen Konzentrationslagern gefallen können. Die Texte waren ausführlich genug, schwafeln dich aber nicht zu. Der Rundgang ist chronologisch aufgebaut und handelt gleichzeitig unterschiedliche Themen ab, das fand ich sehr clever gelöst. Mich haben besonders die vielen Quellen interessiert, die integriert wurden: Es gab viele Briefe zu lesen und Fotos anzuschauen, die meinen Wissensstand zu diesem Thema sehr erweitert haben.

Und natürlich ahnte ich, dass auch ein Gemälde zu sehen war, nämlich von Erich Mercker, dessen Wiki-Eintrag ich dringend überarbeiten muss, denn der Mann hat in meiner Diss ein kurzes Kapitel bekommen. Er ist mir nicht nur dadurch bekannt, dass er Autobahnen malte wie Protzen, sondern auch die Granitsteinbrüche in Flossenbürg. Ich kannte nur diese eine Ausführung des Motivs, das 2017 auf der Ausstellung „Kunst und Politik im Nationalsozialismus“ in Regensburg hing, aber in der Gedenkstätte hängt noch ein zweites Werk mit dem gleichen Inhalt, das ich noch nicht kannte. Auch dort sind natürlich keine Arbeiter in gestreiften Häftlingsanzügen zu sehen, was die wahren Arbeitsbedingungen verfälscht.

Abends mit F., Schwester und Schwager im Obacht abgestiegen, den Tag bei Hellem verdaut und Doppelkopf gespielt. Verloren.

Tagebuch Dienstag, 12. September 2023 – Dips

Den halben Tag in der Küche verbracht, um das gemeinsame Abendessen mit Schwester und Schwager vorzubereiten. F. war anderweitig vergeben, also ließen wir uns ohne ihn Salate, Dips und Brantner-Brot schmecken. Und so halbwegs die Brezn, die, ich mag es kaum sagen, nicht ganz so meins sind. Alles, was Brantner sonst im Shop hat, ist großartig, aber bei den Brezn bin ich anscheinend innere Schwäbin – ich mag die eher weich und weniger knusprig, was hier anscheinend angesagt ist. Doch noch nicht ganz assimiliert.

Tagebuch Montag, 11. September 2023 – Backhendl und Karfiol

Abends mit F. Schwester und Schwager ins charmante Waltz ausgeführt, wo man uns auch schon kannte und sich mit uns darüber freute, dass noch ein paar Lafarges auf der Karte waren, die wir noch nicht ausgetrunken hatten. Geplant waren zwei Flaschen Wein, es wurden dann drei, wir genossen Rehbratwurst, Krauthäuptl, Backhendl und Karfiol, und ausnahmsweise fuhr auch mal die U2. F. und ich waren erst zweimal im Waltz gewesen und an beiden Abenden hatte die MVG gestreikt, weswegen wir ein Taxi nahmen anstatt uns ohne umzusteigen von mir zum Lokal chauffieren zu lassen. Aber gestern dann endlich!

Erneut ein netter Abend. Die Woche geht vermutlich auch so weiter. Hach!

Photo ban lifted on Picasso’s Guernica after 30 years

Man darf jetzt Selfies vor der „Guernica“ machen. Darauf hätte ich verzichten können, aber ich kann jedes Museum verstehen, dass einsieht, dass heute halt alle Fotos machen wollen, weil halt alle Fotos machen können.

(via @musermeku)

Mir hat das Anschauen gereicht, ich hätte kein Foto machen wollen.

A Sacred Task

2021 veröffentliche „Elle“ Berichte von Fotografinnen und Journalistinnen, die 9/11 erlebt hatten.

„Ruth Fremson, New York Times staff photographer: It just was this whoosh of grit and dust. I opened my eyes, and it felt like somebody was grating sandpaper across them. Instead of crashing, things started landing softly all around us—thud, thud, thud—because of all the dust. As things settled, we made our way to a deli. We started helping ourselves to the water in the deli case and just spitting out mouthfuls of mud. I started taking pictures of the people who were stumbling in. When I made my way back outside, one of the firemen said to me, “I wouldn’t go too far. The other one might come down, too.” All I saw through this white haze was this one tower shining in the sun. […]

Amna Nawaz, PBS NewsHour chief correspondent: I was the only Muslim in the newsroom, and I had a lot of older, white colleagues asking me all kinds of questions about my faith, like: What does this word mean? Were you ever taught about jihad? Does the Quran really say this? There was such a lack of understanding, and that led to suspicion and scrutiny and animosity. I saw how necessary it was for someone like me to be in this conversation. My parents are originally from Pakistan. We spent a lot of time there growing up, so I’m deeply connected to the region. We had a meeting in the newsroom at one point where people were casually talking about war and dropping bombs and casualty numbers. I thought, that’s my family over there. I was so upset, I had to leave the meeting. Ted Koppel called me into his office later that day and asked if I was okay. I just started to cry. I was so scared and upset, and I didn’t know what was going on. All I kept thinking was, I can’t believe I’m crying in front of Ted Koppel.“

Gestern landete ein Tweet in meiner Mastodon-Timeline, den ich nicht ganz abnicke, aber zwei Sätze daraus auf jeden Fall. Bitte nie vergessen.

„When you study the Holocaust on an academic level, you learn two things: First, yes, however bad you thought the Nazis were, they were worse. And second, they were totally average, ordinary people.“

Tagebuch Sonntag, 10. September 2023 – Biergarten

Der erste Biergartenbesuch im Jahr 2023 und das auch gleich mit Besuch aus dem Norden; Schwesterchen und Schwager sind in der Stadt. Das war schön.

Tagebuch Samstag, 9. September 2023 – Taschenkontrolle

Gestern saß ich in gleich doppelter charmanter Begleitung schon wieder in der Isarphilharmonie. Ich konnte mich allerdings nicht sofort auf Beethoven und Brahms konzentrieren, denn der Einlass hatte mich etwas mehr verstört als ich dachte.

Igor Levit war zu Gast, gemeinsam mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Lahav Shani, der ab 2026 die Münchner Philharmoniker übernehmen wird. Das Konzert begann etwas unüblich erst um 20.30 Uhr – nach Sonnenuntergang halt, es war noch Sabbat. Es fielen einem schon ein paar kräftig gebaute Herren mit Ohrstöpseln auf, die vor allem neben, wenn wir richtig geguckt hatten, der neuen Generalkonsulin des Staats Israel ein paar Reihen vor uns Platz nahmen.

Am Eingang zum Gebäude wurde ich freundlich gefragt, ob man mal in mein Handtäschchen gucken dürfe. Das kannte ich von einem klassischen Konzert noch nicht. Aus Fußballstadien, logisch, und leider auch aus Jüdischen Museen oder beim Besuch von Synagogen, wo man durch einen Metalldetektor geht, seinen Rucksack durchleuchten lässt und den auch nochmal inspizieren lassen muss. Der St.-Jakobsplatz hier in München ist mit versenkbaren Pollern gesichert, damit kein Fahrzeug ans Museum oder die Synagoge fahren kann. Es kotzt mich so an, dass diese Mittel anscheinend notwendig sind, und es hat mich doch mehr beunruhigt als ich gedacht hatte. Die ersten fünf Minuten Beethoven waren jedenfalls verschenkt, aber als Levit zum ersten Mal die Tasten berührte, war alles wieder in Ordnung. Ich habe keine Ahnung, was seine Spielweise so besonders macht, aber mich hat er immer sofort in der Tasche.

Bei der Zugabe war ich mir nicht sicher: Beethoven? Brahms? Hatte er nicht gerade auf Insta mal wieder Brahms gespielt? Ein Zuschauer, der zur Pause hinter mir entlangging, verriet seiner Begleitung, dass es der zweite Satz der Pathétique gewesen war. Danke, unbekannter Wissender.

Nach der Pause plüschten die ersten beiden Sätze von Brahms’ 1. Sinfonie ebenfalls ein bisschen an mir vorbei, aber der dritte Satz hatte mich dann, und spätestens im vierten wollte ich, dass das Konzert noch ein bisschen länger dauern könnte. Dauerte es auch, weil es noch einen Mendelssohn als Zugabe gab und danach noch eine Runde lustiges Pizzicato des Orchesters, womit man sehr beschwingt und gut gelaunt aus dem Saal ging – und mir erst dann wieder die blöde Taschenkontrolle einfiel. Well played (haha).

Im vierten Satz kam plötzlich ein Motiv, das ich kannte und seitdem war mein Kopf ein bisschen zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, aus welcher Fernsehsendung ich dieses Stückchen Melodie wohl kennen könnte. Google half in der U-Bahn nach dem Konzert: Es ist die Titelmusik des Hamburg-Journals. Wie passend. (Brahms Erste war das erste Stück, das in der Elbphilharmonie aufgeführt wurde. Hier das Motiv des vierten Satzes.)

In den ersten Sätzen, die, wie erwähnt, etwas an mir vorbeigingen, dachte ich über einen kleinen Absacker nach dem Konzert nach. Das Lokal direkt an der Isarphilharmonie würde überlaufen sein, alles auf dem Weg zur U-Bahn sprach mich auch nicht an, aber: Wir sitzen ja eh in der U3, von wo man entspannt in die U6 umsteigen kann, und die fährt einen bis fast vor die Tür des Tantris. Die dortige Bar hat bis 2 Uhr geöffnet. F. war leicht zu überzeugen, wir fuhren, traten ein, wurden begrüßt wie alte Freunde – „Sie waren jetzt aber schon mindestens ein halbes Jahr nicht mehr hier!“ –, was stimmte, denn im Februar hatten wir es uns hier zum letzten Mal gut gehen lassen. „Ich erinnere mich: Sie waren im DNA und wollten eigentlich schon gehen, sind dann aber doch noch auf einen Drink geblieben.“ Ich meine, es waren zwei, und auch gestern sollte es nur einer werden, aber es wurden drei. Und noch ein halbes Gläschen Chardonnay, der vermutlich gestern im Tantris in der Weinbegleitung des Menüs gewesen war. Denn der Sommelier kam kurz vorbei, begrüßte uns und brachte dann einfach was an den Tisch: „Mal sehen, ob euch das Spaß macht.“ Es ist nach Tohru anscheinend jetzt auch im Tantris so weit, dass wir geduzt werden und hier noch ein Gläschen und dort noch ein Gläschen angereicht bekommen, die nicht auf der Rechnung auftauchen.

Wir waren die letzten Gäste – „Keine Eile!“ –, ich gönnte mir ein Taxi, während F. noch einen Bus fand, der ihn nach Hause brachte, und ich war wieder halbwegs mit der Welt versöhnt. Es könnte alles so schön sein. Herrliche Musik, nette Menschen, ein freundlicher Umgang miteinander. Und stattdessen muss man über Attentate nachdenken, wenn man Beethoven hören möchte, der von einem Orchester aus Israel gespielt wird. Erneut: Es kotzt mich so an. Cocktails helfen zeitweilig, aber das scheint mir auch keine optimale Lösung zu sein.

Igor Levit: „Wo sind die Demos gegen Faschisten?“

Aus dem Merkur:

„Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder öffentlich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen geäußert und mich klar positioniert. Gegen Menschenhass und deren Verursacher. Und was ist die Realität heute? 21 Prozent der Deutschen wollen Faschisten wählen. Also müssen wir irgendetwas falsch gemacht haben. Wir haben zu viele Menschen ganz offensichtlich nicht erreicht. Ich stimme mit dem Salzburger Festspielintendanten Markus Hinterhäuser vollkommen überein, der vor „Empörungsritualen“ warnt. Die Auseinandersetzung zum Beispiel mit der AfD muss eine andere werden. Wenn Sie so wollen, eine erwachsenere. Abgesehen davon setzt ein fataler Gewöhnungsprozess ein. Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD über 13 Prozent bekam, stand ich auf dem Berliner Alexanderplatz und habe mitgerufen „Wir sind die 87 Prozent“. Heute sind wir laut Umfragen die 79 Prozent. Gibt es überhaupt eine Demo dagegen, dass 21 Prozent der Deutschen Faschisten wählen wollen? In Israel zum Beispiel stehen Hunderttausende wöchentlich auf der Straße und demonstrieren für Rechtsstaat und Demokratie – das wären in Deutschland umgerechnet über zwei Millionen. Wo sind sie? Deshalb habe ich immer weniger Lust darüber zu reden, ob wir Künstler, wie Sie es hier formulieren „die Klappe aufmachen müssen“ – in einem Land, das in seinem Phlegma so viel toleriert.“