Freitag, 5. April 2024 – Aluminium
Den Band von Brigitte Reimanns Tagebüchern und Briefen aus der Zeit von 1947 bis 1972 durchgelesen, hier schon mal erwähnt. Empfehlung! Meine Ausgabe ist von 1984, wo viele der in den Texten angesprochenen Menschen vermutlich noch lebten; ich ahne, dass daher so gut wie alle Anreden fehlen, selbst bei Briefen, bei denen man sich daher zusammenreimen kann oder muss, an wen sie gingen. Es gibt inzwischen neue Ausgaben, einige liegen hier schon, die auch einen immerhin kleinen editorischen Apparat mitbringen. Und wie ich bei der Ausleihe von „Franziska Linkerhand“ in der Stadtbibliothek sah: Der Roman wurde erst 2023 erneut aufgelegt.
Reimanns letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch war „Das grüne Licht der Steppen“, in dem sie über eine kurze Sibirienreise im Auftrag des Zentralrats der FDJ in die Sowjetuntion berichtete. Auch in ihren Tagebüchern und Briefen wird diese Reise natürlich erwähnt. An einer Stelle blieb ich hängen:
„Irkutsk, 15.7.64, abends
Mittags besuchten wir das Wasserkraftwerk von Irkutsk. Unvergeßlicher Anblick, aus der Höhe des achten Stockwerks, auf die wildweißen Wasserfälle und den glasklaren grünen Strom. … Aber später, nachmittags im Aluminiumkombinat von Schelechow, empfand ich zum erstenmal, daß ich nichts mehr speichern konnte – als sei die Fähigkeit, aufzunehmen, zu staunen, sich zu freuen, erschöpft. Zwei Stunden, in denen hundert neue Gesichter vorüberziehen, Zahlen und technische Daten auf uns niederprasseln …, nein, das zerflattert, ich kann nichts mehr festhalten, höre imponierende Zahlen, aber es sind eben nur Zahlen, mit denen sich für mich keine Bilder, Geschichten, Namen verknüpfen.
Die Aluminiumwerker in ihren Schutzanzügen betrachteten uns flüchtig, ohne Neugier; ihre Arbeit ist hart, trotz moderner Technik, in dieser Luft, die einem die Lungen ausdörrt, und wenn man als Delegierter mit Schlips und Kragen und Notizbuch an ihnen vorüberwandert, überfällt einen das fatale Gefühl eines müßigen Spaziergängers, der nicht dazu gehört und eigentlich stört.
Einmal, einen Augenblick lang, war ich wieder bewegt: als der Werkleiter Panschuk jedem von uns einen kleinen Barren des ersten in Sibirien geschmolzenen Aluminiums überreichte, in den das Datum des festlichen Tages eingeprägt ist: 10.2.1962. (Bald wird Sibirien ein Drittel der Weltproduktion an Aluminium liefern.) Ich erinnere mich lebhaft, wie bei uns in Schwarze Pumpe die ersten Briketts gepreßt und – lackiert und mit Datum versehen – verschenkt wurden und wie mir die Veteranen, die in der Lausitzer Heide Bäume gefällt hatten, erzählten, daß ihnen die Tränen gekommen seien, als sie zum erstenmal aus den Schornsteinen Rauch aufsteigen sahen …“
Brigitte Reimann: Die geliebte, die verfluchte Hoffnung. Tagebücher und Briefe 1947–1972, herausgegeben von Elisabeth Elten-Krause und Walter Lewerenz, Darmstadt 1984, S. 217.
Der Satz „Bald wird Sibirien ein Drittel der Weltproduktion an Aluminium liefern“ ließ mich nämlich nach dem Ende des Absatzes sofort zum Handy greifen, wo ich mich dann in der Liste von Aluminiumproduzenten verlor, um diese Behauptung zu überprüfen. Wie habe ich eigentlich früher gelesen, ohne alles nachschauen zu können? Vermutlich etwas konzentrierter.