Samstag, 22. Juni 2024 – Besuch im Ostpreußischen Landesmuseum

Das Mütterchen stammt aus Ostpreußen, verließ 1947 mit ihrer Mutter, ihrer Tante und deren zwei kleinen Kindern das nun polnische Gebiet und kam in die SBZ. 1951 siedelten sie alle nach Westdeutschland über. 1981 besuchte sie mit ihrer Tante erneut das ehemalige Heimatdörfchen in der Nähe von Bartenstein (Bartoszyce), legte Fotos von der Reise in einem dicken Ordner ab und schrieb ihre Gedanken dazu auf.

Das Ostpreußische Landesmuseum wurde 1958 als Jagdmuseum gegründet. Auf seiner Website steht mehr zur Geschichte und auch, warum es ausgerechnet in Lüneburg ist:

„Niedersachsen wird nach dem Zweiten Weltkrieg Hauptansiedlungsgebiet von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den damals deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße. In der Lüneburger Region sind Anfang der 1950er Jahre so viele Ostpreußen ansässig, dass man hier zeitweilig vom ‚Klein-Ostpreußen in der Lüneburger Heide‘ spricht.“

Die derzeitige Dauerausstellung wurde erst 2018 eröffnet, was man merkt: Sie ist didaktisch ziemlich weit vorn. Ich zitiere erneut die Website:

„Auf 2.000 qm ist, über drei Etagen verteilt, eine abwechslungsreiche, vielfach zum Ausprobieren und Mitmachen einladende Ausstellung entstanden, die sich an Familien und Touristen richtet. Neben einer möglichst vollständigen Darstellung der faszinierenden Kulturgeschichte und einzigartigen Landschaft Ostpreußens sind eine eigenständige Deutschbaltische Abteilung sowie ein großes Modul über das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 hinzugekommen.“

Schwester, Schwager, das Mütterchen, F. und ich besuchten das Museum am vergangenen Wochenende und schwärmten auf der Rückfahrt recht ausführlich davon, wie gut alles aufbereitet und betextet war. Ich nehme die Pointe der folgenden vielen Zeilen schon mal vorweg, wir haben ja alle keine Zeit: Fahrt da mal vorbei, das lohnt sich. Nicht von der etwas trutschigen Website abschrecken lassen.

Nachdem wir unsere Eintrittskarten hatten und vor dem ersten Raum standen, fragte uns eine freundliche Dame, die uns Flyer mit Stockwerkübersichten und Sonderausstellungen in die Hand drückte, warum wir denn hier seien. Schwager meinte, dass das Mütterchen aus Ostpreußen stamme, woraufhin der Satz kam: „Das ist hier aber kein Heimatmuseum.“ Wir wussten also schon von Anfang an, dass es hier nicht darum ginge, die gute, alte Zeit, die eh keine gute war, wieder aufleben zu lassen, womöglich noch revisionistisch geschönt. Das gefiel.

Wir begannen im Erdgeschoss, wo es historisch losging: Wer waren diese Prußen denn überhaupt, was war der Deutsche Orden bzw. dessen Staat und was gab’s noch so in der langen Geschichte des Landstrichs. Dem Deutschen Orden war ich schon in der Diss begegnet, weil die Marienburg ein Motiv war, das Protzen in seiner unrühmlichen Serie „Deutscher Osten“ mehrfach gemalt hatte. Ich zitiere die eben verlinkte Wikipedia: „Ab 1933 ideologisierte der Nationalsozialismus den Deutschen Orden und damit auch die Marienburg, ähnlich wie das Tannenberg-Denkmal.“ Ostpreußen war auf einmal schon immer deutsch, obwohl es, soweit ich es bisher überblicken kann, eher ein wildes Gemisch an Kultur, Sprache und Menschen war.

Gleich im zweiten Raum sah ich zum ersten Mal eine sogenannte Schrein-Madonna (1400/1401) und ab da hatte der Laden gewonnen. Die Madonna kann man auch im ersten der virtuellen Rundgänge gleich zu Beginn gut sehen.

Im geschlossenen Zustand sieht man eine Madonna, die ein Jesuskind im Arm hält. Im geöffneten Zustand „drängen sich Frauen und Männer verschiedener gesellschaftlicher Stände, König, Papst, Bischof, Adelige, Bürger, Geistige“ unter den „goldenen Mantel, den Maria mit ihren Armen aufzuhalten scheint. […] Alle knien anbetend vor dem Bild des thronenden Gottvaters, der den gekreuzigten Christus präsentiert.“ Schon hier spürbar: gute Texte, kein Geschwafel, nicht zu lang, auf den Punkt und informativ.

Im nächsten Raum wartete das Gold der Ostsee auf uns: der Bernstein. Ich hatte erwartet, dass man ein bisschen Schmuck rumliegen lässt, aber stattdessen gab es schönstes Kunsthandwerk, unglaublich toll ausgearbeitet, dazu die Story vom Bernsteinzimmer per Foto und eine riesige Wand mit lauter einzelnen Steinen, die man per Lupe genauer betrachten konnte. Außerdem hing dort ein Gemälde, das einen Bernsteinfischer zeigte. Generell gab es nicht nur Vitrine, Text, Vitrine, Text, schnarch, sondern alles wurde immer durch besondere Exponate um etwas Fassbares, Nahbares erweitert.


Heinrich Rudolf Krauskopf: „Bernsteinfischer“ (1920er Jahre).

Im Nebenraum konnte man sich über Flora und Fauna des Ostseeraums informieren, da schlenderte ich nur durch, nutzte aber die Gelegenheit, Felle von Elchen, Schafen und noch mehr Tieren anzufassen, die dort für Kinder bereit lagen (und für neugierige Ankes). Überhaupt war, soweit ich mich erinnere, in so gut wie jedem Raum irgendwas für Kinder. F. meinte im Nachhinein, dass er sich gerade zu den Themen NS und Flucht immer die Kindertexte durchgelesen habe. Das hätte ich auch machen sollen, er fand sie alle sehr gut. Das glaube ich ihm mal.

In einem abgetrennten Raum konnte man sich selbst an einem Glockenspiel versuchen – mit „Noten“ anbei, also 1, 3, 5 oder so für die Tonfolge der fünf kleinen Glocken. Mit einem Gummiklöppel durfte man auch auf etwas größeren Glocken rumdengeln. Erneut: schon gewonnen. Über all dem Spaß habe ich natürlich vergessen nachzulesen, auf was ich gerade rumdengele.

Im Erdgeschoss gab es außerdem noch eine kleine Ecke zu Literaten (weiß gerade nicht, ob auch Frauen dabei waren) aus Ostpreußen; natürlich war auch Ernst Wiechert vertreten, von dem ich im letzten Jahr mehrere Bücher gelesen hatte. Ihn kannte ich aus dem mütterlichen Bücherregal, sie hat einige Werke von ihm.


Leo von König: „Der Schriftsteller Ernst Wiechert“ (1939).

Im ersten Stock ging es für mich gleich mit Kunst weiter. Ein Wandtext wies darauf hin, dass es nicht viele bekannte ostpreußische Künstler*innen gäbe, was auch damit zusammenhinge, dass viele durch Krieg und Flucht ihre Werke verloren hätten. Das lasse ich mal so stehen, auch wenn ich behaupte: Wenn es welche gegeben hätte, hätten wir heute ein paar Ausstellungskataloge, Auktionsergebnisse oder simple Presseberichte. Die bekanntesten Künstler*innen aus dieser Ecke sind vermutlich Lovis Corinth und Käthe Kollwitz, von der auch eine tolle Pieta zu sehen ist: Sie stammt aus dem Nachlass von Wiechert.


Käthe Kollwitz: „Pieta“, Zinnguß von 1942.

Ich gucke bei Kunst ab 1933 ja generell kritisch auf alle Schildchen an den Werken; bei einem weiblichen Akt am malerischen Ostseestrand von 1939 wurde immerhin der von der „nationalsozialistischen Kunstpropaganda bevorzugte Stil“ sowie der „im ‚Dritten Reich‘ propagierte Typ des ‚arischen‘ Menschen“ erwähnt. Bei den meisten anderen Landschaften oder Gebäudeansichten wurde mir etwas zu oft der neusachliche Malstil erwähnt, der diese Werke elegant verbal von der offiziellen Kunst abgrenzt, ohne dass sie es wirklich waren. Aber wir sind hier ja nicht in einem Kunstmuseum, und dafür fand ich den Bereich sehr ordentlich und ausführlich.

Der erste Stock beschäftigt sich nämlich vor allem mit der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, Weimar und der Zeit des Nationalsozialismus. Was ich nicht wusste: dass Menschen bereits im Ersten Weltkrieg schon einmal aus Ostpreußen fliehen mussten. Wie ein Wandtext richtig sagte: Bei WWI denke ich eher an die Westfront und Verdun, aber nicht an die Angriffe der russischen Armee im Osten des Deutschen Reichs. Die Geflohenen konnten bereits nach relativ kurzer Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren, was nach 1945 die Hoffnung aufrecht erhielt, erneut wiederkehren zu können. Das war mir nicht klar, dass diese Hoffnung durch etwas bereits Erlebtes verstärkt wurde und nicht nur irrationale Sehnsucht war.

Für mich ebenfalls faszinierend: ein Exemplar des Versailler Vertrags. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass dieses Dokument natürlich erst einmal etwas ist, was auf Papier vor mir liegt. Für mich ist „Versailles“ durch die ganze Beschäftigung mit dem NS ein blödes Schlagwort geworden. Und so stand ich etwas länger vor der Vitrine, wo genau dieser Vertrag lag, in englischer und französischer Antiqua sowie in deutscher Fraktur.

Das Thema NS begann mit einer riesigen Karte, die die Verluste der Zivilbevölkerung sowie der Armeen der jeweiligen Länder visualisierte. Das fand ich sehr clever, gleich von Anfang an klarzumachen, welches Unheil von Deutschland und den Achsenmächten über die Welt gebracht wurde. Keine Ausrede für das zweite Stockwerk möglich, in dem es dann um die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten ging. F. merkte allerdings kritisch an, dass zum Beispiel einige Opfer Japans nicht aufgeführt waren wie die Philippinen. Ich meine, auch Korea war nicht erwähnt, das von Japan (bereits vor 1933) besetzt war; das erfuhr ich übrigens erst durch den Roman „Pachinko“, das wusste ich vorher nicht, ich hatte immer nur China als besetztes Land wahrgenommen. Ja, man kann nicht alles wissen, aber mir wurde wieder einmal klar, wie eurozentriert meine Bildung war und vermutlich immer noch ist.

Bisher waren wir alle in unserem eigenen Tempo gegangen, ich hatte auch schon den zweiten Stock halb durch, als das Mütterchen und meine Schwester die Treppe hochkamen. Ab da an blieben wir zusammen, weil ich Mama mit dem Thema Flucht und Vertreibung nicht alleine lassen wollte. Es gab einige Hörstationen, teilweise mit einer Art Hologramm der Erzählenden, die von ihrer Flucht aus Ostpreußen berichten. An einer Hörstation war auch eine heutige Perspektive zu hören, weil Fluchterfahrungen ja anscheinend nie aufhören. Das fand ich sehr gut, das so simpel klarzumachen. Es gab Schaukästen mit Daten und Zahlen, zum Beispiel die oben angesprochenenen Flüchtlingszahlen, die unterbrochen wurden mit Objekten aus der Zeit, Dinge, die mitgenommen wurden, Dinge, die nun neu hinzukamen und jahrzehntelang aufbewahrt wurden. Mit hat besonders eine weitere Hörstation gefallen, an der man ostpreußische Dialekte hören konnte, die inzwischen vermutlich so gut wie ausgestorben sind. Meine Omi hat so eine Art Plattdeutsch gesprochen, aber ich habe das immer irgendwie an die westdeutsche Nordseeküste verortet, nie in den Osten, wie mir ernsthaft erst im Museum auffiel. Wenn sie ihren Dialekt sprach, konnte ich sie nicht mehr verstehen. An der Station war auch die inoffizielle Hymne zu hören, „Land der dunklen Wälder“. Das erwischt mich leider immer, nicht weil ich mich auch nur im Ansatz irgendwie ostpreußisch fühle, sondern weil es ein fieser Tränendrücker ist.

Ich verlinke mal nicht die unvermeidliche Heino-Version. Die YouTube-Kommentare sind da besonders aufschlussreich: von „Wir sollten es wieder heimholen“ bis „Das ganze Deutschland soll es sein.“ Herrgottnochmal.

Die Ausstellung endet mit dem Ankommen in Niedersachsen, der Vertriebenenpolitik in Bundesrepublik und DDR sowie der heutigen Erinnerungskultur. Eine Tafel wies darauf hin, dass die übernächste Generation sich der Heimat der Vorfahren unbefangener nähern kann und schlichtes Interesse am heutigen Polen bzw. an Litauen zeigt. Hätte ich bis zum Lesen der Heino-Kommentare auch abgenickt. Eines meiner liebsten Exponate war ein Kochbuch, das ewig beim Mütterchen im Schrank stand und heute bei mir wohnt sowie ein paar Rezeptkarten zum Mitnehmen, nach denen ich jetzt ostpreußisch kochen kann. Das Rezept mit Pansen lasse ich einfach mal weg.

Abends beim gemeinsamen Grillen sprachen wir weiter über das Gesehene, das Mütterchen hatte in der Ausstellung natürlich auch schon erzählt, aber so konnten wir nochmal über alles in Ruhe reden. Sie bedankte sich quasi alle fünf Minuten für den schönen Tag. Sie meinte auch, natürlich wusste man im Erdgeschoss schon, was oben für ein Thema kommt, aber sie konnte vorher beide Stockwerke interessiert mit uns begehen und hat sich gefreut, dass wir oben bei ihr waren und Fragen gestellt haben.

Ich blätterte danach noch einmal den Ordner durch, in dem sie ihre Reise von 1981 nicht nur in Fotos, sondern auch in kurzen Texten festgehalten hatte. Auf der ersten Seite schrieb sie vom Beginn der Reise, auf der fast alles Menschen im Alter meiner Tante waren, also die Jahrgänge um 1920, meine Mutter gehörte zu den Jüngsten, und fast alle hatten Flucht oder Vertreibung hinter sich. Daher waren die ersten Gespräche auch alle eher traurig, man berichtete von schlimmen Ereignissen. Im Laufe der Tage in Polen wich das aber anscheinend einfach der Erinnerung an Orte und Personen. Hier ein paar Sätze von der letzten Seite im Ordner:

„Abschließend kann man über unsere Reise nach Ostpreußen wohl sagen, dass wir manchmal die Tränen nicht zurückhalten konnten, oft wehmütig gestimmt waren, dass wir aber selten enttäuscht und nie verbittert, dass wir vielmehr oft fröhlich waren und viel gelacht haben, so dass es weniger ‚eine Reise in die Vergangenheit‘ war als vielmehr eine Reise zu Stätten, die für uns Vergangenheit und Gegenwart sind, für die dort lebenden Menschen jedoch Stätten der Gegenwart und der Zukunft.“

Da hat das Mütterchen mal eben einen für mich sehr großen Satz runtergeschrieben.

Aus dem Museumsshop nahm ich mir von Andreas Kossert „Ostpreußen. Geschichte und Mythos“ mit. Vom Verfasser las ich vor zwei Jahren „Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“, das ich sehr empfehlen kann.

Ich sag das nochmal zur Sicherheit, die Erwähnung ist ja schon ein paar Zeilen her: Besucht doch mal das Ostpreußische Landesmuseum.