Sonntag, 10. März 2024 – Lisa und Marta

F. und ich saßen in der Premiere der Oper „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg. Das Libretto stammt von Alexander W. Medwedew nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman „Pasażerka“ von Zofia Posmysz, einer polnischen Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebenden. Die Oper wurde bereits Ende der 1960er Jahre fertiggestellt, kam aber erst in den 2000er Jahren zur Aufführung. Die Inszenierung in München ist die erste nach dem Tod der Autorin, wie Regisseur Tobias Kratzer erwähnt:

„Posmysz war bei der konzertanten Uraufführung 2006 in Moskau anwesend, bei der szenischen Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen 2010, und sie war es bei den Produktionen in Frankfurt, Gelsenkirchen und Graz. Die Geschichte, die so sehr auf ihren autobiografischen Erlebnissen beruht, konnte an all diesen Orten auf eine Art und Weise „mit ihr“ rezipiert werden.“

Die Handlung lässt sich in der oben verlinkten Wikipedia gut nachlesen, kurz zusammengefasst schreibt die Bayerische Staatsoper: „Die Handlung umfasst zwei Zeitebenen: Die Rahmenhandlung ist auf einem Transatlantikschiff um 1959/60 angesiedelt; Rückblenden führen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz 1943/44. […] Lisa ist Passagierin auf einem Schiff. Zusammen mit ihrem Ehemann Walter, einem deutschen Diplomaten, überquert sie den Atlantik. Beide sind froh, ihre Heimat Deutschland und damit die Vergangenheit der Kriegsjahre hinter sich lassen zu können. […] In einer Passagierin glaubt Lisa Marta wiederzuerkennen, eine ehemalige Insassin im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Lisa war ebenfalls in Auschwitz – als Mitglied der SS und Aufseherin. Lisa hat Walter bis zu diesem Zeitpunkt ihre Taten im KZ verschwiegen.“

Wenn ich die Werkgeschichte richtig verstanden habe, wurde bisher das KZ Auschwitz auch auf der Bühne gezeigt. In der Neuinszenierung wurde darauf verzichtet und den zwei Zeitebenen noch eine dritte, nämlich die heutige, hinzugefügt. Dieser Blogeintrag wird keine ausführliche Rezension, ich sammele mich immer noch, möchte euch aber schon dringend einen Besuch der Oper ans Herz legen. Auch wenn es schwierig wird, danach noch irgendeine andere Oper anzuschauen, wie F. gestern meinte: „Was soll jetzt noch kommen?“ Das frage ich mich seitdem auch. Klar kann man entspannt im „Rigoletto“ sitzen und sich zupuscheln lassen, aber was politische Inszenierungen angeht, liegt die Messlatte jetzt sehr hoch.

Es war äußerst seltsam, sich dem Thema Holocaust musikalisch und auf einer Opernbühne zu nähern. Ich wusste natürlich, worum es geht, bevor wir im nicht ausverkauften Saal Platz nahmen (was geht, München?!? Sonst kriegt man doch nie Premierenkarten!). Aber ich zuckte trotzdem ziemlich zusammen, als mir das Wort „Auschwitz“ erstmals gesungen unterkam. Zum zweiten Mal zuckte ich, als die Lebenslüge der jungen Bundesrepublik (und in Teilen der DDR) gesungen wurde: Lisa gesteht ihrem Mann Walter, einem Diplomaten der Bundesrepublik, dass sie als Mitglied der SS Aufseherin in Auschwitz gewesen war. Seine Reaktion, ich paraphrasiere launig, um das Thema mal kurz von mir wegzuschieben: „OMG wenn das rauskommt, meine Karriere ist im Eimer.“ So wenige Zeilen und so auf den Punkt – die Opfer sind egal, aber was ist denn mit uns, den braven Tätern, die ja nur Befehle ausgeführt haben? Uns geht’s doch auch nicht gut!

Es klingt im letzten Absatz an: Das ging mir alles deutlich näher, als ich erwartet hatte, weil es bei mir gerade sehr weit geöffnete Türen einrennt. Auch deswegen fand ich die Inszenierung extrem gelungen, denn das hätte ein moralinsaures Lehrstück werden können. Wurde es aber wegen des guten Bühnenbilds und vieler kleiner Details nicht.

Der erste Akt spielt komplett auf dem Kreuzfahrtschiff. Im Buch steht, copypaste aus der Wikipedia:

„Zweites Bild [des ersten Akts[. Appell in Auschwitz. – In Auschwitz beklagen sich SS-Führer über die Langeweile im Lager und die Schwierigkeit, die ihnen die Beseitigung der anfallenden Leichen bereitet. Sie trösten sich mit der Gewissheit, den Willen des Führers zu erfüllen: „Wir säubern die Erde für das große Deutsche Reich. Hier in Auschwitz machen wir Geschichte“.“

Wir sehen Auschwitz aber nicht, auch nicht angedeutet. Die SS-Leute sind hier Touristen in heutiger Kleidung, die entspannt auf dem Sonnendeck ein Bierchen zischen. Allein der Text (als deutsche und englische Übertitel lesbar) macht deutlich, wo wir sind und um was es gerade geht. Und diese Regieentscheidung fand ich hervorragend. Ich muss keine mehrstöckigen Betten sehen oder gestreifte Kleidung, die Chiffre „Auschwitz“ reicht schon, um Bilder in meinem Kopf zu aktivieren. Wir alle haben diese Bilder im Kopf. Dass die Herren heutige Kleidung tragen, hat für mich deutlich gemacht, dass Unmenschlichkeit, auch in diesem Ausmaß, jederzeit wieder passieren kann und dass jede*r zu einem Unmensch werden kann. Eine simple Umsetzung, aber ich fand sie gelungen.

Als der Vorhang zur Pause fiel, wollte ich nicht klatschten, ich war zu erschlagen von der Stunde eben. Was mir in der Oper noch nie passiert ist: Mir fiel die Musik kaum auf. Ich war so mit dem Text, dem Inhalt und den Bildern auf der Bühne beschäftigt, wo sich gut gekleidete Menschen über den Abgrund unterhalten, dass ich die Musik nur als Untermalung wahrnahm. Damit tue ich Weinberg vermutlich Unrecht, aber auch das überraschte mich beim Nachdenken. Ich war auf anstrengende Zwölftonmusik vorbereitet, fand die Musik in ihrer Spannung aber genau passend. Dass sie – für mich! – so unterging, irritiert mich immer noch.

Im zweiten Akt war sie aber deutlicher. Ich befürchtete die ganze Pause, dass auf der Bühne nun doch das Konzentrationslager zu sehen war, aber nein, das geht auch subtiler: Die Bühne stand mit weißgedeckten Tischen voll, alle schön in einer Reihe, gnadenlos in die Tiefe der Bühne hinab. Ich musste an die Schienen denken, die nach Auschwitz führen. Auf den Tischen standen perfekt ausgerichtet Teller und Gläser, die bei manchen Beleuchtungssituationen fast unangenehm strahlten; sie erinnerten mich in ihrer starren Ausrichtung an die Morgenappelle, die die Häftlinge teilweise stundenlang über sich ergehen lassen mussten. Ich stellte mir die Tische auch von oben vor und sah den Grundriss des Lagers vor mir mit seinen vielen Baracken, schön brav rechtwinklig, alles in Reih und Glied.

In diesem angedeuteten Ballsaal des Schiffes findet der komplette zweite Akt statt. Ich kam wieder aus dem Zucken nicht heraus, sowohl beim Text als auch bei inszenatorischen Details. Ein SS-Mann singt:

„Unser Kommandant ist ein großer Musikkenner, er hat die beste Geige angefordert. In meinem Trupp haben sie einen berühmten Musiker entdeckt und ihm befohlen, den Lieblingswalzer des Komponisten einzuüben. Er soll spielen, bevor er sich in Rauch auflöst. So ist er noch zu was nütze.“

Im Programmheft der Staatsoper steht das komplette Libretto, einschließlich der herausgekürzten Passagen, die eingegraut abgedruckt sind. Guter Job. Ich zuckte: Als die SS-Mannschaft, nun als Bordcrew des Dampfers kostümiert, zum Captain’s Dinner eine Torte mit auf die Bühne bringt, auf der eine Kerze steckt. Den Rauch der Kerze sieht man von links auf die Bühne wallen, bevor die Truppe hereinkommt. Zufall? Ich glaube nicht.

Ein weiteres Mal zuckte ich aus anderen Gründen: Lisa erniedrigt Marta, indem sie deren blaues Kleid zerreißt (die Lagerinsassinnen tragen alle schlichte, blaue Kleider). Darstellerin Elena Tsallagova singt daraufhin mehrere Minuten mit nacktem Oberkörper, und bei weiblicher Nacktheit auf der Bühne bin ich immer sofort aus dem Stück raus, weil ich darüber nachdenke, ob das jetzt sinnvoll ist oder wieder nur Scheiß eines männlichen Regieteams. Ist es hier immerhin. Lisa drängt Marta und Tadeusz, der „berühmte Musiker“, der zugleich Martas Verlobter ist, zu sexuellen Handlungen und spiegelt damit eine Szene aus dem ersten Akt, wo sie und Walter sich einander körperlich zuwenden. Das geschieht natürlich deutlich liebevoller und zärtlicher und insofern kann ich diese Nacktheit abnicken. (Nervt mich trotzdem immer, aber das ist mein persönliches Problem.)

Ein weiteres Detail, das mir in dem Akt aufgefallen ist: Die Insassinnen singen gemeinsam und werden dann nach und nach von SS-Schergen erschossen. Sie liegen auf und neben den Tischen, als plötzlich der komplette Chor in Ballgarderobe aus dem Hintergrund der Bühne auftaucht, alle Plätze an den Tischen besetzt und sich mit den Gläsern zuprostet. Sie steigen ungerührt über Leichen und trinken Sekt, während ein Körper zwischen ihnen liegt. Das bewusste Beschweigen und Ignorieren des Unrechts der Tätergesellschaft sowie die Machtlosigkeit der Opfer in der Nachkriegszeit und bisweilen bis heute habe ich noch nie so simpel und so überzeugend präsentiert bekommen.

Es gibt immer wieder Sätze, die mich kurz die Luft anhalten ließen: Wenn Lisa sich darüber beklagt, dass die Insassinnen sie trotz ihrer kleinen freundlichen Gesten irgendwie nicht nett fanden: „Sie waren alle blind vor Hass.“ Wer war hier blind vor Hass, verdammte Axt? F. so: „Subtil ist die Kunstform Oper ja nicht gerade.“ Nein, ist sie nicht, aber anscheinend kommen wir mit Subtilität und Gedenktagen und Geschichtsunterricht nicht weiter. So habe ich auch eine der letzten Szenen vor dem Epilog verstanden, wo einer der Ballgäste einen kleinen Fernseher auf die Bühne schiebt, auf dem Lisa, nun alleine im dunklen Saal, auf einer 30-Zentimeter-Bildschirmdiagonale Aufnahmen aus Auschwitz ansehen muss. Der Fernseher ist in Richtung Publikum gerichtet, wir sehen diese Bilder auch. Ich konnte sie aus der sechsten Reihe erkennen, und ich möchte glauben, dass auch die letzte Reihe im vierten Rang sie erkannt hat. Erneut: Wir alle haben diese Bilder im Kopf. Wir fragten uns allerdings schon, ob das ein bisschen ein Cop-out vor dem nörgeligen Publikum der Hauptstadt der Bewegung war: Man hätte das Ganze natürlich auch als Video über die ganze Bühnenbreite projizieren können. Ich behaupte, dieser kleine Fernseher, vor dem eine einzige Frau sitzt, ist genau das Gegenteil von Cop-out: Es liegt an jedem einzelnen, sich mit unserer Geschichte auseianderzusetzen. Und das ist mir inzwischen nicht genug. Es setzt sich eben nicht jede*r damit auseinander, sonst hätten wir keine 30 Prozent AfD-Wähler*innen. Es ist unsere verdammte gesamtgesellschaftliche Verantwortung, dieses Wissen in jeden einzelnen Kopf reinzukriegen. Es ist unsere Verantwortung, wieder dafür zu sorgen – oder überhaupt mal dafür zu sorgen –, dass Faschismus keine alternative Politik sein kann, dass Parolen aus dieser Zeit verachtenswert sind, dass Menschen, die diese Parolen verbreiten, keine cleveren Politiker*innen auf TikTok sind, sondern dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Mit all der Härte, die der Staat gerade für RAF-Rentner*innen aufbieten kann, ohne dass ich jetzt hier Äpfel und Birnen vergleichen oder die Taten der RAF rechtfertigen will.

Nein, die Oper macht keinen Spaß, „Turandot“ – und selbst Wagner, ausgerechnet – sind deutlich entspannender, und man ist nach den gut zweieinhalb Stunden sehr schlecht gelaunt. Auf eine seltsame Weise dann aber auch nicht, denn es hat mich sehr glücklich gemacht, diese Kunst ansehen und anhören zu können. Wie erwähnt, liegt die Messlatte nun sehr hoch für weitere tagesaktuelle Inszenierungen. Mein großer Respekt und Dank an des Regieteam, von dem ich bisher noch keine einzige schlechte Inszenierung gesehen habe. Die nächste wird eine alte sein: Wir haben Karten für den „Tannhäuser“ von Kratzer und Team im August in Bayreuth, den ich schon mehrfach gesehen habe. Im Moment fühlt es sich so an, als könnte das mein letzter Wagner sein, den ich bisher immer verteidigt habe. Aber vielleicht war die gestrige Oper das letzte Argument, von diesem Komponisten nun doch mal Abschied zu nehmen. Auch das ist für mich ein überraschendes Ende dieses Opernabends.

Die Premiere wurde von BR Klassik übertragen, ihr könnt sie noch anhören.