12. Januar 2024 – Schaubuden-Ausrufer und Taschenspieler
„Im ersten Drittel dieses Jahrhunderts wurde ein großes und begabtes Volk das Opfer eines bedauernswerten Irrtums. Ein Mann aus dem Nachbarland, ein Abenteurer, ein Habenichts, der sich an der Menschheit für sein verpfuschtes Leben rächen wollte, hatte aus bestimmten, bisher noch nicht ganz geklärten Gründen eine bis an die Zähne bewaffnete Anhängerschaft um sich zu versammeln gewußt, die entschlossen war, den Kampf um die Macht mit der Rücksichtslosigkeit einer einfallenden Armee durchzuführen. Unterstützt durch Verbündete in allen Lagern, die in ihm das Werkzeug ihrer eigenen, oft einander widersprechenden und bekämpfenden Ansprüche und Interessen sahen, war es ihm gelungen, sich das Vertrauen der Masse unter falschen Versprechungen zu erschleichen und das Land, das noch unter den Nachwirkungen eines verlorenen Krieges litt, durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich einzunehmen. Ihr habt Hunger, sagte er. Gut, ich werde euch zu essen geben. Ihr seid machtlos, sagte er. Gut, ich werde euch Macht geben. Ihr seid arm, sagte er. Gut, ich werde euch Reichtum bringen. Er versprach jedem das Seine: dem Bauern die Kuh, dem Winzer den Weinberg, dem Soldaten das Gewehr. Er versprach auch die Kühe und Weinberge und Gewehre aller andern Länder der Welt.
»Heil!« rief die Menge. »Heil!« riefen die Hungrigen und die Satten im Chor, die Reichen und die Habenichtse, die Mächtigen und die Machtlosen. Der Mann reiste durch das Land, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf. Er sprach eine Sprache, die man bisher noch nicht auf öffentlichen Plätzen gehört hatte, die Sprache all derer, die zu kurz gekommen waren und die nun ihren Selbsthaß, ihren Zorn auf das Bestehende, ihre Lust an der Zerstörung zur Würde einer Religion erhoben sahen. Er trug keinen Zylinderhut und keine weißen Handschuhe. Er stand im Regenmantel auf Fabrikhöfen und in Bierkellern, sein Gesicht war rot vor Zorn, seine Stimme überschlug sich, und sein rollendes Auge begegnete Blicken, die in ihm ein Spiegelbild ihrer eigenen Erniedrigung, aber auch ihrer Sehnsucht nach Größe und Auferstehung sahen. »Erlöse uns!« schrien sie ihm entgegen. »Erlöse uns von uns selbst!« – »Ja, ich werde euch erlösen!« sagte der Mann. »Von nun an wird sich niemand mehr seiner Schlechtigkeit zu schämen brauchen.
Es gab aber viele im Lande, die nicht an den Erfolg des Mannes im Regenmantel glaubten. Ihre Vorstellungen von Macht und geschichtlicher Größe waren den Lesebüchern eines Jahrhunderts entnommen, das die Helden vergangener Epochen im Licht magischer Verklärung zu sehen gewohnt war. Sie hatten verlernt, noch an jene Magie zu glauben, die den Betrogenen an den Betrüger, den Unterdrückten an seinen Unterdrücker fesselt, die Magie der Zirkusdompteure, der Schaubuden-Ausrufer und Taschenspieler. Sie lachten über den Regenmantel und verstanden nicht, daß es die Uniform einer neuen Klasse von Enterbten geworden war, die sich anschickte, die Welt nach ihrem Ebenbild umzuformen. »Laßt sie nur lachen!« schrie der kleine Mann im Dialekt des Nachbarlandes. »Ich werde ihnen die Maske vom Gesicht reißen. Ich werde eine Religion des Bösen verkünden wie Christus eine Religion des Guten. Ich werde zeigen, daß die Schlechten schlecht und die Korrupten korrupt sind, und die Guten und Gerechten werde ich erschlagen. Ich werde euch alle zu Mitwissern meines Anschlages machen, und selbst wenn mein Plan scheitern sollte, wird niemand mehr da sein, der sich rühmen könnte, besser zu sein als ich …« »Heil!« riefen die Regenmäntel. »Wir wollen sein wie du. Segne uns, erlöse uns. Wir warten. Unsere Zeit wird kommen! UnsereZeit wird kommen!«“
Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit, Frankfurt am Main 1959, S. 69/70.
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„Sinnvoll wäre ein Verbot, weil die AfD politisch nicht zu schlagen ist. All die öffentlichen Versuche der Entzauberung in Talkshows haben nur ihre Sichtbarkeit erhöht. Die AfD ist nur in der Struktur anzugreifen, sie muss zerschlagen werden. Ist sie doch vor allem Plattform und Netzwerk: Hier versammeln sich unterschiedlichste rechtsradikale Milieus, von Waffennarren und Männerrechtlern über alte Nationale bis zu jungen Marktradikalen und identitären Instagram-Kaspern. Die AfD ist eine Ansammlung von Sektierern und Selbstdarstellern, die, auf sich allein gestellt, schnell ins rechte Paralleluniversum auf Social Media verschwinden würden. Die Partei gibt ihnen Legitimität, Ressourcen, Kontakte. Diese zu erhalten und zu mehren, darauf können sich die rechten Milieus, untereinander oft spinnefeind, immer einigen. Die AfD als Partei hat fast nichts zu sagen, sie interessiert nur als Label, als Marke.“
Leo Fischer: „AfD-Verbot: Fulminante Scheindebatte“, in: Neues Deutschland, 5.1.2024.
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„Aber nur, weil wir im Prinzip von staatlicher Willkür frei sind, steht es uns noch lange nicht frei, alles zu tun, wonach uns gerade ist. Der soziale Aufstieg bleibt vielen verwehrt, weil die ökonomische Macht nach wie vor höchst ungleich verteilt ist (manche, wir etwa, sprechen deshalb von einer Klassengesellschaft). Wir müssen bei Rot an der Ampel halten, Steuern zahlen und als Kinder zur Schule gehen. Es gibt also in jeder Gesellschaft Regeln, die die Freiheit einschränken. Regeln, die einen offiziellen und formellen Charakter haben und vom Staat durchgesetzt werden, beispielsweise die Straßenverkehrsordnung. Es gibt auch Normen, die eher informeller Natur sind: Wenn eine ältere Person Sie bittet, ihr beim Überqueren der Straße zu helfen, müssen Sie das nicht tun und können weiter Ihres Weges ziehen. Sie können auch einen Döner im vollbesetzten Zugabteil verspeisen, wenn Ihnen die entgeisterten Blicke der Mitreisenden nichts ausmachen.
In der Gegenwart wird oftmals ein libertäres Freiheitsverständnis sichtbar, das gewandelte gesellschaftliche Übereinkünfte als äußere Beschränkungen betrachtet, die die eigene Selbstverwirklichung auf illegitime Weise eingrenzen. Die Anhänger*innen eines solchen Verständnisses empfinden das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder gendersensible Sprachkonventionen als Blockade, die sie in ihrer Entfaltung hemmt. Manche gehen sogar noch weiter und richten sich auch gegen die Voraussetzungen, die Freiheit ermöglichen. Sie wollen keine (oder nur sehr niedrige) Steuern bezahlen, fahren aber selbstverständlich auf den Straßen, die aus Steuermitteln finanziert werden. Sie ignorieren, dass medizinische Spitzenforschung ohne staatliche Gelder nicht denkbar wäre und dass Bildung in öffentlichen Schulen die Grundlage individueller Selbstentfaltung ist.
In heutigen Freiheitskonflikten kulminiert eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten angedeutet hat. Sichtbar wird sie mit der Rückkehr des intervenierenden Staates, der das individuelle Handeln einschneidend limitiert. Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat. Ihre zuweilen frivole Subversion und die rabiate Ablehnung anderer Ansichten zeugen jedoch zugleich von autoritären Einstellungen. Sie verneinen die Solidarität mit vulnerablen Gruppen, sind verbal martialisch und hoch aggressiv gegen jene, die sie als die Verursacher von Einschränkungen ihrer Freiheit identifizieren. Sie tragen rechte Verschwörungstheorien vor, aber den Vorwurf, rechts zu sein, weisen sie entschieden von sich. Dieser Autoritarismus, der auf der unbedingten Autonomie des Individuums beharrt, ist ein Symptom dafür, dass die etablierten politischen Koordinaten in Unordnung geraten sind.“
Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2023, S. 12/13.