Es geht uns gut
„Vielleicht sollte er einfach versuchen, das Beste daraus zu machen, und die naturwissenschaftlichen Interessen, die er als junger Mensch hatte, wieder mehr pflegen. Die perfide Mischung aus Ehrenämtern und nichts als Privatleben ließe sich mit etwas trockener Materie vielleicht entschärfen. Zum Beispiel könnte er endlich der Frage nachgehen, ob bereits jemand herausgefunden hat, warum Wasser zuweilen vergißt zu gefrieren. Er hat in der Schule davon gehört, das Phänomen ist ihm nie ganz aus dem Sinn gegangen. Damals hieß es, der vergessene Vorgang werde bei der geringsten Erschütterung nachgeholt, und zwar innerhalb von Sekundenbruchteilen. Das imponierte ihm. Wäre interessant zu wissen, woran das liegt. Das heißt, eigentlich ist es ihm egal, mal abgesehen davon, daß darin ein Keim jener Hoffnung steckt, ein Nachholen von Dingen, die man irgendwann versäumt hat, könnte möglich sein.
Ob auch Zeit vergessen kann zu vergehen, liegengebliebene Zeit, die man berühren muß, um sie zum Verstreichen zu bringen? Hundert Jahre, die in einem kurzen Moment vergehen, ganz schmerzlos?“
Es geht uns gut, Arno Geiger, Deutscher Buchpreis 2005, eine schlichte Geschichte, ebenso schlicht, manchmal spröde, vorsichtig, tastend, erzählt, nie aufdringlich, melancholisch, all das Leben, all die Worte, die zuviel waren, die zuwenig waren, leise, behutsam, schön. Ein schönes Buch. Ein wirklich schönes Buch. (In alter Rechtschreibung.)
Klingt lesenswert. Woher holst du dir deine Buchtipps?
tim am 24. November 2005
Wie alle anderen auch: rumhören, Kollegen fragen, Freunde fragen, Rezensionen lesen, Zeitung lesen, Salon.com lesen (für englischsprachige Buchtipps). Und natürlich Weblogs lesen, in denen andere von Büchern schwärmen. Der Geiger wurde mal im Spiegel besprochen im Zusammenhang mit Familiengeschichten, die ich generell gerne lese (mit den Buddenbrooks angefangen). Klang gut, sah in der Buchhandlung gut aus, erste Sätze haben gefallen, gekauft, fertig.
Anke am 24. November 2005
Ein richtig schönes Buch. Den Deutschen Literaturpreis hätte trotzdem Daniel Kehlmann verdient gehabt, für seine “Vermessung der Welt”. Arno Geigers Erzähltalent ist bemerkenswert; die Bilder, die er zeichnet, sind eine Wucht, aber Kehlmann schafft etwas, das mir wirklich imponiert: Die Erzählung auf den Punkt bringen, mit wenigen Worten.
Benjamin am 24. November 2005
Schöner Ausschnitt. Mir ist so etwas ähnliches schon mal mit einer Bierflasche passiert, die in einer kalten Nacht wohl vergessen wurde. Die stand mitten im Eis und war noch ganz flüssig und man konnte sie sogar leicht schütteln. Einmal geöffnet, bildeten sich sofort Kristalle und in Sekunden war der komplette Flascheninhalt ein Eisklumpen. Da werden wohl Alkohol und primär die Kohlensäure mit im Spiel gewesen sein, aber es sah im Sonnenlicht einfach phantastisch aus. DANKE für diese Erinnerung.
Gonzales am 24. November 2005
Na toll, ich hab’s gerade vor einer Stunde nicht gekauft. Kann ich ja noch nachholen. Und am 6.12. ist Arno Geiger übrigens im Literaturhaus.
isabo am 24. November 2005
Und das hier schrieb Bob Dylan in seiner Autobiografie „Chronicles Vol. 1â€, eine berührende Hommage an New Orleans vor der großen Flut, von mir etwas komprimiert:
„Die Nacht kann einen verschlucken, aber das berührt einen nicht. Hinter allen Ecken warten Verheißungen des Gewagten und Vollendeten, und alles kommt gerade erst in Schwung. Hinter jeder Tür findet entweder irgendetwas obszön Vergnügliches statt, oder jemand stützt den Kopf in die Hände und weint. Ein träger Rhythmus liegt in der traumgeschwängerten Luft, und die Atmosphäre pulsiert von vergangenen Duellen, entschwundenen Liebschaften. Man sieht es nicht, aber man spürt es. Irgendwer geht immer gerade unter. In New Orleans ist alles eine gute Idee. Es gibt dort nur einen einzigen langen Tag, dann kommt die Nacht, und morgen ist es wieder heute. In den Bäumen hängt chronische Melancholie. Hierher kommt der Teufel, um zu seufzen.“
Wunderwunderbar.
Matt am 24. November 2005
@Anke
Magst Du Familiengeschichten, magst Du bestimmt Jonathan Coe’s “What a carve up”, “The Rotter’s Club” und “The Closed Circle” (Britain in the 70s, 80s and 90s) – nein, ich kann das nicht oft genug empfehlen!
Agathe am 24. November 2005