Mittwoch, 17. April 2024 – Arizona

Ich blogge nicht mehr über die USA, ich habe nicht für jede brennende Müllhalde geistige Kapazitäten. Aber über einen der stets informativen Newsletter von Heather Cox Richardson aus der vorletzten Woche bin ich immer noch nicht hinweg.

Richardson, die in Boston Geschichte lehrt, schreibt auf Substack „Letters from an American“ und kommentiert fast jeden Tag aktuelle politische Debatten. Am 9. April schrieb sie über das neue bzw. uralte Abtreibungsgesetz, das in Arizona wieder Anwendung findet. Worum geht es?

„In a 4–2 decision, the all-Republican Arizona Supreme Court today said it would not interfere with the authority of the state legislature to write abortion policy, letting the state revert to an 1864 law that bans abortion unless the mother’s life is in danger. “[P]hysicians are now on notice that all abortions, except those necessary to save a woman’s life, are illegal,” the decision read.“

Richardson ordnet diese Entscheidung historisch ein:

„The Arizona law that will begin to be enforced in 14 days was written by a single man in 1864.

In 1864, Arizona was not a state, women and minorities could not vote, and doctors were still sewing up wounds with horsehair and storing their unwashed medical instruments in velvet-lined cases.

And, of course, the United States was in the midst of the Civil War.

In fact, the 1864 law soon to be in force again in Arizona to control women’s reproductive rights in the twenty-first century does not appear particularly concerned with women handling their own reproductive care in the nineteenth—it actually seems to ignore that practice entirely. The laws for Arizona Territory, chaotic and still at war in 1864, appear to reflect the need to rein in a lawless population of men.“

Richardson beschreibt, dass es dem einsamen Gesetzesautoren vor allem darum ging, Duelle unter Strafe zu stellen, sowie Vergiftungen – die auch dazu genutzt wurden, Fehlgeburten einzuleiten. Das Gesetz sollte dazu dienen, (weiße) Männer vor Verletzungen zu schützen, und schwangere Frauen waren mitgemeint.

„Written to police the behavior of men, the code tells a larger story about power and control.

The Arizona Territorial Legislature in 1864 had 18 men in the lower House of Representatives and 9 men in the upper house, the Council, for a total of 27 men. They met on September 26, 1864, in Prescott. The session ended about six weeks later, on November 10.

The very first thing the legislators did was to authorize the governor to appoint a commissioner to prepare a code of laws for the territory. […]

The second thing the legislature did was to give a member of the House of Representatives a divorce from his wife.

Then they established a county road near Prescott.

Then they gave a local army surgeon a divorce from his wife. […]

These 27 men constructed a body of laws to bring order to the territory and to jump-start development. But their vision for the territory was a very particular one.

The legislature provided that “[n]o black or mulatto, or Indian, Mongolian, or Asiatic, shall be permitted to [testify in court] against any white person,” thus making it impossible for them to protect their property, their families, or themselves from their white neighbors. It declared that “all marriages between a white person and a [Black person], shall…be absolutely void.”

And it defined the age of consent for sexual intercourse to be just ten years old (even if a younger child had “consented”).

So, in 1864, a legislature of 27 white men created a body of laws that discriminated against Black people and people of color and considered girls as young as ten able to consent to sex, and they adopted a body of criminal laws written by one single man.

And in 2024, one of those laws is back in force in Arizona.“

Hier nochmal der Link zum gesamten Text (er ist nicht viel länger als dieser Blogeintrag).

Dienstag, 16. April 2024 – Sütterlin

Das Stadtarchiv München bietet einmal (zweimal?) im Jahr einen zweiteiligen Sütterlin-Lesekurs an. Bisher habe ich die Anmeldefrist immer verschlafen, aber als der Kurs im letzten Newsletter auftauchte, notierte ich mir den Anmeldetag im Kalender und war morgens um 7 am Rechner, um mich einzutragen – und ich war nicht einmal die erste. Der Kurs war ratzfatz weg, und gestern war die erste Sitzung.

Ich war überrascht davon, wieviel es hilft, wenn mich jemand auf Kleinigkeiten aufmerksam macht, an denen ich bisher bei längeren Quellen immer gescheitert bin. Ja, natürlich habe ich mir die Tabelle zu den einzelnen Buchstaben auch schon runtergeladen, aber die hat mich nie komplett weitergebracht, wenn ich irgendwo mitten im Wort und damit im Text hängenblieb.

Bei den meisten Quellen konnte ich den Inhalt grob erfassen, aber ich würde gerne etwas wissenschaftlich-korrekter zitieren als „sinngemäß sagte Maler X vermutlich folgendes“. Meine Mutter unterstützt meine Bemühungen total und gab mir beim letzten Heimatbesuch einen Stapel alter Postkarten eines ehemaligen Kollegen mit, der immer Sütterlin schrieb. Die gehen schon ganz gut, wobei Urlaubspostkarten inhaltlich jetzt nicht ganz so herausfordernd sind: Wetter, Essen, liebe Grüße. Aber hey, das kann ich schon lesen!

Montag, 15. April 2024 – Notre Dame et Le Monde

Gestern vor fünf Jahren brannte Notre Dame, ich bloggte, noch mitten in der Promotion, ziemlich verzweifelt darüber.

Diese Verzweiflung wich dann relativ schnell einer gewissen Genervtheit, weil Twitter, Sie erinnern sich, es war ja nicht alles gut da, mal wieder den Bodensatz von Quatsch-Argumenten hervorspülte. In einem weiteren Blogeintrag schrieb ich etwas gefasster darüber, warum man über eine kaputte Kirche einen Hauch traurig sein könnte.

„Trotzdem darf man über die alten Bauteile weinen, ja meiner Meinung nach muss man das sogar. Denn auch wenn man alte Dachstühle durch neue ersetzen kann: Was unwiederbringlich verloren ist, ist das Material. Man konnte es datieren, teilweise lokalisieren, also feststellen, wo die Eichen gefällt wurden, mit denen gebaut wurde, man konnte anhand von Schlagspuren Werkzeuge rekonstruieren, Baugeschichte erfahren, die anders nicht überliefert war. Das ist, zumindest was den Dachstuhl angeht, alles verloren. Aber: Es ist, danke Wissenschaft, immerhin dokumentiert. Notre Dame wurde in den letzten Jahren, soweit ich weiß, komplett digital vermessen. Und dazu ist es als meistbesuchtes Baudenkmal Frankreichs von Millionen Tourist*innen fotografiert worden. Hat Instagram doch mal was Gutes. (Gotik-Influencer! Das wär’s!)

Daher bin ich auch immer noch wimmerig, was jetzt aus den Fensterrosen geworden ist. Klar kann man die neu basteln, es ist nur Glas und Blei. Aber zu wissen, dass da eventuell etwas verloren gegangen ist, das teilweise die Französische Revolution, zwei Weltkriege und alle Touristenhorden dieser Welt überstanden hat, macht mich halt traurig. Genau wie es mich traurig machen würde, wenn Raffaels Sixtinische Madonna in Flammen aufginge, auch wenn wir die kleinen Putten auf fünf Milliarden Kaffeetassen abgebildet haben.“

Das Datum hatte ich überhaupt nicht mehr im Kopf, aber „Le Monde“ hatte auf Insta eine clever zusammengestellte Reel mit Aufnahmen von damals und heute, die gestern in meiner Timeline landete.

Dass ich „Le Monde“ folge, ist noch relativ neu. Ich erwähnte vor einigen Monaten, dass ich mit Duolingo versuchte, Hebräisch zu lernen. Das habe ich inzwischen zu den Akten gelegt; die App ist für diese Sprache leider äußerst suboptimal. Hebräisch wird ohne Vokale geschrieben, das heißt, ich lese nur die Konsonanten. Bei vielen anderen, deutlich weiter verbreiteten Sprachen wie Französisch, bekommt man so ziemlich jeden Satz und jedes Wort in verschiedenen Aussprachen irgendwann mal vorgelesen, was gerade beim Vokabellernen nett ist. Genau diese Funktion fehlt aber bei Hebräisch, was die App für mich schlicht unbenutzbar macht. Oder mindestens sehr unkomfortabel.

Um meinen Streak nicht abreißen zu lassen, klickte ich daher Anfang Februar spaßeshalber mal auf Französisch, wofür ich die App 2015 oder so mal geladen hatte. Und seitdem lerne ich jeden Tag Französisch, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass das jetzt der vierte Versuch ist, diese Sprache zu lernen.

In der Schule hatte ich zwei (oder sogar drei?) Jahre Unterricht als dritte Fremdsprache nach Englisch und Latein. In meinen Zwanzigern belegte ich mit Papa mal einen Volkshochschulkurs; Papa sprach Englisch und ein bisschen Spanisch. Das war aber für uns beide nichts. Der letzte Versuch fand Ende des Bachelorstudiums statt, also 2015, als ich noch für zwei Semester einen Sprachkurs belegen musste; das behauptet jedenfalls mein eben ergoogelter Blogeintrag, ich hatte schon wieder vergessen, warum ich in diesen Übungen saß. Der erste Versuch war Italienisch:

Cum tempore ist eine Erfindung der GöttInnen, die aber anscheinend nicht für die Volkshochschule zuständig sind. Da findet nämlich um 8 Uhr morgens (pünktlich!) mein Sprachkurs statt, den ich im 4. und 5. Semester in Kunstgeschichte belegen muss. Den hätte ich mir ersparen können, wenn ich mir im 1. Semester meine 25 Jahre alten Lateinkenntnisse hätte anerkennen lassen, aber ich motiviertes Mäuschen dachte mir damals(TM), ach, wenn die Uni mir schon einen Sprachkurs bezahlt, wäre ich ja doof, wenn ich das Angebot nicht annehmen würde. Ich verfluche das motivierte Mäuschen, als mein Wecker um 6 klingelt.“ (Blogeintrag vom 11. April 2014, mein viertes Semester.)

Im Wintersemester belegte ich dann lieber Französisch, wie mein Stundenplan anklingen lässt. Über den Blogeintrag musste ich eben sehr grinsen, denn dort kam auch die Vorlesung bei meinem späteren Doktorvater vor, die der Grund dafür war, dass ich mich mit dieser Zeit deutlich intensiver beschäftigen wollte als vorher:

„Dienstag, 12–14 Uhr: Kunst in Deutschland 1925–1960

Und ich kleines Ding dachte, da kriege ich brav den Kanon vorgebetet, aber nein, das hatte sich der Dozent anders vorgestellt: Er erzählt uns lieber was über KünstlerInnen, die noch nicht so recht im Kanon sind, deren Werke sich selbst in unseren kunsthistorischen Datenbanken nur sehr spärlich finden (mein Riechsalz!), aber deren Namen wir dringend kennenlernen sollten. Nebenbei kriegen wir natürlich trotzdem den Kanon mit und ich bin sehr zufrieden mit meiner Kurswahl.“

Und einen zweiten Blogeintrag ergoogelte ich, denn an den erinnerte ich mich gut. Dort beschrieb ich, wie begeisternd und emotional uns die Dozentin eine Fremdsprache beibringen wollte, im Gegensatz zu der Dame, die ich im letzten Halbjahr im Grundkurs hatte:

„Bei der Kursbelegung für dieses Semester achtete ich darauf, nicht wieder die gleiche Lehrerin zu bekommen und habe es bisher keine Sekunde bereut. Ich twitterte und facebookte gestern schon begeistert ein paar Sätze meiner neuen Lehrerin: „Sie müssen emotional an eine Fremdsprache gehen! Kaufen Sie sich das schönste Vokabelheft und tragen es bei sich. Sie müssen da gerne reingucken wollen! Hören Sie Chansons oder Radio, schreiben Sie auf, was Sie verstehen – das ist immer ein Erfolgserlebnis! Und wenn’s nur mittendrin zwei Worte sind. Egal, aufschreiben und lernen. Überlegen Sie sich, was Sie Wichtiges über sich sagen wollen – das übersetzen Sie und lernen es auswendig. Finden Sie Wörter, die Sie gerne mögen und bilden Sie Sätze damit. In meinen Aufsätzen kam immer (Wort x, nicht verstanden, ähem) vor.“ […]

Schon ist aus meiner negativen Haltung eine sehr positive geworden, und innerlich denke ich über Sätze nach, die ich dann locker-flockig in Frankreich sagen werde können, wenn ich mir endlich mal alle Kathedralen angucke. Erster Satz (muss ich noch übersetzen): „DAS HIER IST NE KIRCHE, KÖNNT IHR EURE BLÖDE BROTZEIT BITTE DRAUSSEN MACHEN?“ (Vom letzten Notre-Dame-Besuch in Paris inspiriert.)“

Durch das dauernde Nutzen von Duolingo ist mir endlich mal aufgefallen, wie mich irgendwas dazu bekommt, mich länger mit einer Sprache auseinanderzusetzen, die nicht Englisch ist: der kleinstmögliche Widerstand. Ich hänge eh den ganzen Tag am Handy und neuerdings fast nur noch auf Instagram (Bluesky nur für Fußball, Masto fast nur noch als Linkschleuder). Ich hatte schon seit Längerem den Account von Schloss Versailles abonniert, weil Schloss Versailles halt. Die posten auf Französisch und Englisch, weswegen ich den französischen Teil immer übersprang und den englischen las.

Aber vor Kurzem merkte ich: Ich kriege den Großteil des Textes auch mit, wenn ich französisch lese. Also abonnierte ich noch das Museé Picasso, Louvre hatte ich eh schon, Musée d’Orsay auch, und begann, brav die französischsprachigen Texte zu lesen. Vor einigen Wochen kamen dann Le Monde und L’Équipe dazu, seit gestern folge ich ein, zwei Verlagen, die Comics verlegen – die kannte ich aus einem Artikel in der „Écoute“, von der ich mir mal ein Probeheft gönnte. Da merkte ich auch sofort, dass Insta für mich deutlich sinnvoller ist: In der „Écoute“ stehen zwar Artikel, die vermutlich eher auf meinem Sprachniveau liegen, die mich aber thematisch null interessieren. Was Museen posten, interessiert mich aber total, also lese ich es freiwillig.

Ich ahne, dass auch diese Sprachbegeisterung wieder nur kurz hält, aber momentan ist das ganz nett, nicht nur Deutsch und Englisch im Feed zu haben. Ich nehme gerne Hinweise auf französischsprachige Köche, Köchinnen und Foodblogs entgegen, die keine hektischen Videos machen, sondern schön altmodisch Fotos posten, zu denen ich Text in Zeitlupe entziffern kann. Merci!

Sonntag, 14. April 2024 – Blaufränkisch und Vanillecroissants

Der Konzertabend am Samstag war recht lang, wir standen erst um kurz nach halb elf an der U-Bahn-Station und überlegten: Noch in die Bar Tantris, wie sich es gehört? Oder doch lieber nach Hause? Wir hatten beide ein winziges Hüngerchen und wussten, in der Bar gibt’s um diese Zeit nur noch Nüsse und Oliven. Nett, aber nicht wirklich eine Mahlzeit. Also fuhren wir zu mir, ich holte die Notfall-Gyoza aus dem Tiefkühlschrank, rührte schnell ein bisschen Nuoc Cham an, während die Teigtaschen dämpften, und schraubte den Rosé vom Grassl auf, den ich fürs Anspargeln geöffnet hatte.

Gespräche am Küchentisch sind bekanntlich die besten, und so kamen irgendwann noch Brot, Käse und ein Blaufränkisch dazu, weswegen wir erst gegen halb vier im Bett waren, weswegen diese Inhalte auch noch schön in den Sonntagseintrag passen.

Morgens wollte ich Croissants vom Bäcker holen, die aber noch im Ofen waren. Aus mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen wollte ich keine vier Minuten auf sie warten und erstand deshalb Vanillecroissants. Wir lungerten erneut am Küchentisch rum, dieses Mal mit Flat White und Coke Zero, bis F. sich am frühen Nachmittag auf den Heimweg machte.

Ich schaute Leverkusen beim Gewinn der ersten Meisterschaft zu (well played, Jungs, nehmt den DFB-Pokal und die Europa League auch gerne noch mit), las ein bisschen, räumte ein bisschen rum, saß ein winziges bisschen am Schreibtisch und versackte dann abends bei den ersten beiden Folgen von „Elsbeth“. Die Figur der Elsbeth Tascioni mochte ich in „The Good Wife“ und „The Good Fight“ immer sehr gern, mit ihrer eigenen Serie fremdele ich noch etwas. Die fühlt sich ein Hauch wie gutes, altes Columbo-Fernsehen an, und ich hätte es gerne etwas düsterer. Aber mal sehen, wie es weitergeht.

Samstag, 13. April 2024 – Beethoven und Schostakowitsch

Wir waren mal wieder in der Isarphilharmonie. Immer wenn ich mit den richtig guten Klamotten unterwegs bin, werde ich bei Kindern nervös (hat das Mädchen hinter mir auf der Rolltreppe etwa ein Eis in der Hand?) und bei betrunkenen Herren (deutlich öfter in der Öffentlichkeit anzutreffen als betrunkene Damen. Ausnahme: Oktifest). Gestern stand im Bus zur Philharmonie ein angeheiterter Herr mit offener Bierdose neben mir, die ich argwöhnisch beobachtete. Er schaute sich im Bus um, sah reihenweise rausgeputztes Volk, das auch neben dem im Schritttempo vorankommenden Bus von der U-Bahn-Haltestelle zum Konzerthaus wandelte.

„Heute ist Konzert, wa?“
Ich wartete, ob sich jemand anders rührte, tat aber niemand, also antwortete ich freundlich mit Ja.
„Was gibt’s denn?“
„Unter anderem Beethoven.“
Pause.

„Meine Freunde sagen ja immer, [Name vergessen], du musst da mal hin, das musst du dir anschauen. Lohnt sich das?“

Und ehe ich antworten konnte, grätschte die ältere Dame von hinten rein: „Ja, auf jeden Fall! Das ist ein toller Saal! Machen Sie das mal!“

Wir plauderten mit dem Mann noch über Kartenpreise und ob man sich die im Internet kaufen könne … „da kann ich dann einfach so mit dem Handy …?“ „Ja, genau“ … dann war der Bus da. Der Herr wünschte uns allen viel Spaß, wir ihm einen schönen Abend, und ich kam ohne Flecken an meinem Sitzplatz an.

Der Herr Buchbinder spielte mit dem Philharmonic Orchestra aus London Beethovens Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5, Es-Dur, op. 73. Falls Sie sehr entspannt in den Sonntag kommen möchten, hören Sie doch mal in den zweiten Satz rein. Im verlinkten Konzert dirigierte Buchbinder vom Flügel aus die Wiener Philharmoniker (2020).

Im Programmheft schrieb Buchbinder selbst über seine Arbeit an Beethoven, das fand ich schön:

„Ich werde oft gefragt, woran ich bei der Interpretation eines Beethoven-Stückes denke. Meine Antwort ist simpel: Das Denken muss lange im Vorfeld stattgefunden haben. Sobald man die erste Note anschlägt, befindet man sich bei Beethoven in professionellen Händen, dass man gut beraten ist, ihm einfach nur noch zu folgen. Kaum ein anderer Komponist navigiert uns mit seinen konkreten Spiel-anweisungen so sicher über die weiten Meere seiner Kreativität wie Beethoven. Alles, was er von uns verlangt, ist: Wissen und Vertrauen! […]

Die Musik Ludwig van Beethovens begleitet mich ein Leben lang, und ist zu einer Art Spiegel meiner musikalischen Entwicklung geworden. Bei mir zu Hause in Wien steht eine Beethoven-Büste auf dem Flügel. Und immer, wenn ich übe, schaue ich diesen mir so nahen Menschen an, seinen grimmigen Blick, seine wilden Haare und seine neugierigen Augen – und danke ihm leise dafür, dass er mir schon so lange zuhört und Verständnis für all meine Irrungen und Wirrungen hat, mit denen ich voller Verehrung durch sein Werk treibe.“

Nach der Pause war der Saal merklich leerer; leider war auch die Familie mit dem kleinen Kind hinter uns weg, das einen Stoffkoala dabei hatte. Ein essentieller Konzertbegleiter! Will auch Stofftiere mit in Konzerte nehmen können, ohne für bekloppt gehalten zu werden.

Es wurde dann auch etwas herausfordernder als vor der Pause, und ich sah einige Zuschauer*innen mitten im Stück den Saal verlassen. Vielleicht mussten sie die letzte Bahn kriegen, aber das irritierte mich doch sehr. Ja, Schostakowitsch ist einen Hauch anstrengender als der gute alte Ludwig van, aber das weiß man doch vorher.

Jedenfalls: Wenn Sie Lust auf ein Stück habe, das ich noch mindestens zehnmal hören muss, bevor ich nicht dauernd denke „Huch, was? Wo kommt das jetzt her? Was machen wir jetzt? Wo geht’s hin? Hilfe!“, dann hören Sie mal in seine Sinfonie Nr. 10 e-moll, op. 93 (1953) rein. Hier das Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Georg Solti (1993). Auch hier als Einstieg der zweite Satz, ist am kürzesten. (Aber der erste ist am spannendsten!)

Wo wir gerade beim Thema sind: Die SZ hofft, dass der Staat Bayern, das alte konservative Ding, die Verträge mit Staatsintendant Serge Dorny und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski an der Bayerischen Staatsoper verlängern möge. Ich hoffe das auch. Verkack das nicht, Bayern!

„Unter den vielen offenen Fragen, die den Kulturbetrieb in Bayern betreffen, ist die derzeit größte: Wer leitet in Zukunft die Bayerische Staatsoper? Staatsintendant Serge Dorny und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski traten ihre Stellen 2021 an, ihre Verträge laufen zu derzeitigem Stand im Sommer 2026 aus. Im Opernbetrieb auf diesem Niveau hat man für künstlerische Planungen eine Vorlaufzeit von vier, fünf Jahren. Regie- und Gesangsstars muss man rechtzeitig anfragen, sonst sind sie verplant. Die Zeit drängt also.

Während der bayerische Kunstminister Markus Blume den Vertrag eines anderen Münchner Staatsintendanten, den von Josef E. Köpplinger vom Gärtnerplatztheater, im Februar dieses Jahres ohne besondere Dringlichkeit bis 2030 verlängerte, schweigt er bislang öffentlich zur Zukunft der Staatsoper. Ein Argument für Köpplingers Verlängerung war für Blume die gute Auslastung dessen Hauses, 94 Prozent, das sei beeindruckend, so der Minister. Die der Bayerischen Staatsoper unter Dorny lag im ersten Quartal 2024 bei 96 Prozent. Ob Blume das auch beeindruckend findet, ist bislang nicht überliefert. […]

Aber eben: Jurowskis größte Erfolge sind bislang eine Mahler-Symphonie, Opern von Prokofjew (neben “Krieg und Frieden” auch “Der feurige Engel”) und Weinberg, überhaupt Musik des 20. und 21. Jahrhunderts (da leitet er auch mal ein Kammerkonzert in der freien Szene). Doch München und das Staatsorchester haben ihre Hausgötter – und die sind alt. Mozart, Verdi, Puccini, Richard Strauss (gut, nicht so alt). Gerade Mozart ist nicht Jurowskis Domäne. Oder, wie es ein Orchestermusiker sagt: “Er ist der richtige Mann am falschen Ort.” […]

Jene Einflüsterer, die bei Blume insinuieren, in der Staatsoper sei Feuer unterm Dach (im Probengebäude residiert die Leitungsabteilung im obersten Stockwerk), sehen die Veränderungen, die Dorny mit- und selbst machte, nicht. Opernhaus des Jahres, diverse andere Auszeichnungen, Ausbau des Streaming-Angebots, spürbare Verjüngung des Publikums. Doch dann hört man von jenen selbsternannten “Beratern”, in der Oper laufe nur noch seltsames Zeug.“

(Archive-Link, falls Paywall.)

Jurowski war auch gerade in der NY Times, vielleicht ist das ein Argument: „A Conductor Who Believes That No Artist Can Be Apolitical.“

„Now in his third season as the opera house’s music director, Jurowski, 52, is attracting the kind of adoration from the Munich public that was routine under Kirill Petrenko, who left in 2021 to lead the Berlin Philharmonic. But Jurowski is not merely winning over audiences; he has maintained the Bavarian State Opera’s reputation as one of the finest — if not the finest — companies in Europe while pushing its repertoire in new directions and rooting his artistry in political awareness.

“We classical musicians tend to keep ourselves way from politics,” Jurowski said over lunch in March. “We always say that the music should be apolitical. Music can be, and art can be, but people who are making art should not be apolitical. At a certain point it becomes not about politics, but about ethics.” […]

When Jurowski started at the Bavarian State Opera, there were grumblings among audience members that his changes to the repertoire would come at the cost of the classics. But he has led new productions of standards like “Der Rosenkavalier,” “Così Fan Tutte” and “Die Fledermaus,” and will embark on Wagner’s “Ring” beginning this fall. And the audience hasn’t resisted: Attendance, as usual, continues to hover around 95 percent, which is extraordinary for opera.“

Freitag, 12. April 2024 – Böhler theoretisch zum dritten

Ich hatte mich am letzten Vormittag der Tagung für den heimischen Schreibtisch entschieden und verfolgte sie per Zoom, denn die DHL-App hatte mir freudig mitgepiepst, dass ein Paket für mich um 4.47 Uhr dafür vorbereitet werde, ins Transportfahrzeug verladen zu werden. Ich wusste auch, was für ein Paket das ist: mein Belegexemplar (oder gar Exemplare?) vom Bayerlein-Buch, in dem mein neuester Aufsatz steht. Das wollte ich sofort in den Händen haben und blieb daher zuhause.

Nachdem die Tagung beendet war, ich einen Wischmopp erstanden und Backwerk eingekauft, die halbe Wohnung gesaugt und gewischt sowie für heute einen Fensterputzplan erstellt, schöne Dinge gekocht und gegessen sowie den abendlichen Sieg vom FC Augsburg vom Sofa aus verfolgt hatte, schaute ich zum zweihundertsten Mal in die App, wo das Paket immer noch auf irgendwas vorbereitet wurde, das arme Ding.

Heute wurde es angeblich ins Zustellfahrzeug verladen, halleluja! Ich habe schon den Fensterputzplan erledigt und trinke den ersten Kaffee. Wir warten.

Ach ja, Tagung war gut. Von den gestrigen Vorträgen mochte ich den der Kunsthistorikerin vom Nelson-Atkins Museum of Art sehr gern; sie begann: „We have Travis Kelce und the Chiefs, that’s where you know us from.“ Am gespanntesten hörte ich aber einem Doktoranden aus Dresden zu, der über die Villa Hügel promoviert; nach seinem Vortrag wollte ich sofort ein Ticket nach Essen buchen. Well played.

Donnerstag, 11. April 2024 – Böhler zum zweiten

Fast den ganzen Tag im ZI gewesen und einer Konferenz zugehört.

Demnächst beginnt wieder meine Uni-Übung „Besser (akademisch) schreiben“, wo ich Studis mit Schreibgepflogenheiten aus dem Journalismus, der Wissenschaft und, immer die unterhaltsamste Stunde, aus der Werbung vertraut mache. Ich würde gerne eine weitere Übung anbieten: „Bessere Powerpoint-Folien basteln – auch für Profis, die seit 20 Jahren im Job sind“. Unterpunkte wären „Niemand mag Times New Roman, erst recht nicht in 48 Punkt“, „Die erste Folie: WORUM GEHT’S ÜBERHAUPT?“ und „Abbildungen: Wenn du nur schlechte hast, lass es; wenn du gute hast, lass sie solange stehen, bis das Publikum sie erfasst hat“.

Aber ansonsten war’s toll.

Mittwoch, 10. April 2024 – Böhler

Den halben Tag im ZI bei einer Tagung verbracht, die mich heute noch ganztägig und morgen vormittag weiterhin beschäftigen wird. (Ihr könnt per Zoom folgen.) Ich trage nichts vor, höre mir aber aufmerksam an, was die Kolleg*innen zur Kunsthandlung Julius Böhler bzw. der Datenbank böhler:research zu sagen haben.

(Bisher wird in der Datenbank noch von „Betreiber:innen“ gesprochen: „Ach ja, das müssen wir noch ändern, wir sind ja eine bayerische Datenbank.“ Gelächter und Gemurre im Saal.)

Das war gestern bereits sehr spannend und wie immer bei diesem Thema sehr deprimierend. Es ist toll zu sehen, was schon geht im Bereich der digitalen Quellen, und es ist obernervig zu sehen, was alles noch fehlt oder wo es noch knirscht. „Das kennen Sie ja sicherlich“ und der halbe Saal nickt.

Gleichzeitig fiel mir aber erneut auf, warum mich die Wissenschaft so begeistern kann. Bisher habe ich jeden Job in meinem Leben irgendwann aufgegeben – weil ich ihn konnte. Weil er mich nicht mehr forderte. Weil ich jetzt nur noch meine eigenen Fähigkeiten verwalte. In der Wissenschaft werde ich zwar nicht mehr lernen, wie ich noch besser tippen kann, aber dort hört die Arbeit nie auf und sie bleibt immer herausfordernd. Vor allem, wenn man sich in einem Feld spezialisiert hat, wo 60 Jahre lang niemand in den Akten gewühlt hat. Das kann ich alles noch machen, solange mich jemand lässt (oder dafür bezahlt, HALLO!). Ich lese jeden Tag etwas Neues oder erweitere das Wissen, das ich bisher habe.

Und da sind wir wieder beim Thema „spannend und deprimierend“. Dieses Thema ist nun einmal deprimierend, das wird auch nicht aufhören. Auch hier merke ich, dass ich nie abstumpfe oder mir Dinge egal werden, ganz im Gegenteil. Deswegen tut der Austausch mit Kolleg*innen so gut, die einem erzählen, dass es völlig normal ist, plötzlich im Archiv heulen zu müssen. Es ist halt ein Drecksthema. Ich bin jedesmal wieder davon verwirrt, wieviel Spaß mir dieser Mist macht, auch wenn er mich manchmal zum Weinen bringt.

Dienstag, 9. April 2024 – Angespargelt

Montag, 8. April 2024 – Barfuß

Gestern verbloggt, dass ich vorgestern noch nicht den ganzen Tag barfuß rumlaufen konnte – gestern ging’s dann. Ich musste nicht vor die Tür, sondern blieb am eigenen Schreibtisch, und an dem saß ich barfuß. Das war schön.

An zwei Baustellen gearbeitet, Orgakram erledigt, was halt so anfällt.

Mittags das nächste neue Rezept vom Meal Plan gekocht. Ich bedauere jetzt schon die Tage, an denen ich nicht mehr im Home Office sitze, weil mir das sehr gut gefällt, mittags den Kopf komplett aus der Arbeit zu kriegen, weil ich mich auf ein neues Rezept konzentrieren muss. Gefühlt tut das meinem nachmittäglichen Output und der Motivation dazu sehr gut.

Am frühen Abend dann ein bisschen im NASA-Livestream rumgehangen und hibbeligen Wissenschaftler*innen dabei zugeschaut, wie sehr sie sich für die Sonne begeistern.

Die NYT in einem Op-Ed (Gift Article) zur Sonnenfinsternis über den USA: „A Moment of Unity, on Earth as in Space.

„For this atheist, it was the closest thing to a religious experience, a kind of monolithmoment. Here we were, just a bunch of primates, seemingly so advanced in intelligence and power, yet awed in the face of the profound.“

Zurück auf die Erde, leider: „Wagt es nicht.“

Die SZ überlegt, was passiert, wenn nach der nächsten Wahl die AfD in Thüringen stärkte Kraft sein könnte und besucht die Gedenkstätte Buchenwald. (Archive-Link ohne Paywall.)

„Was hier an Verbrechen geschehen ist, welche Dynamiken dazu geführt haben, dass es geschehen konnte – diese Fragen sind für die Bildungsarbeit der Gedenkstätte wichtig. Julia Treumann arbeitet in der Jugendbegegnungsstätte. Auch sie ist im Halbrund der früheren Kasernen der SS untergebracht. Hier können Gruppen die hoch begehrten Studientage buchen, um in tiefere Schichten der Auseinandersetzung mit diesem Ort einzutreten. Die Folgen der Pandemie spüren sie auch hier. Wie viel Geschichtsunterricht hatten die Jugendlichen denn überhaupt? Eine Stunde in der Woche? „Das Wissen wird einfach weniger“, sagt sie, trotzdem gibt es viele Anknüpfungspunkte, macht es ihr immer noch Freude, wenn sie merkt: „Ah, da ist jemandem ein Licht aufgegangen.“

Sie führt einen durch das Lagertor hinein in die schreiende Leere des Appellplatzes. Barackenfundamente. Schotterwege. Das Krematorium. Hinten rechts die frühere Effekten- und Kleiderkammer, wo heute die Ausstellung „Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945“ zu sehen ist. Ausgrenzung ist überhaupt ein gutes Stichwort für die Bildungsarbeit.

Denn „wir reden hier ja nicht über Schuld, sondern über Verantwortung“, sagt Julia Treumann.

Es gehe immer um die Bezüge zur Gegenwart in der Arbeit mit den jungen Menschen. Verantwortung – das sei jetzt doch extrem relevant bei alledem, was gerade im Land passiere. Welche Folgen hat es denn, wenn man Grundrechte außer Kraft setzt, wenn man Menschen ausgrenzt oder kategorisiert? Wird es dann nicht auch leichter, Gewalt auszuüben? Solche Fragen bedenken sie. Es sei erstaunlich, zu welchen Erkenntnissen Menschen an diesem historischen Ort kämen.“

Sonntag, 7. April 2024 – Sommer

Nachtrag zum Samstag: Das war der erste Tag im Jahr, an dem ich meine Wäsche auf dem Balkon trocknen konnte. Für das ganztägige Barfußlaufen war es aber in der Wohnung noch zu kühl (das einzige, das ich am Sommer mag: barfußlaufen).

Noch ein Nachtrag: Der Abend im Waltz fand fast komplett vor dem Waltz statt, weil wir draußen sitzen konnten. Ich postete die erste Flasche der herrlichen Getränke auf Insta auch mit der Caption „Sommer in der Stadt“, und es fiel mir viel zu spät auf, dass wir noch Anfang April haben.

Gestern ging der gefühlte Sommer weiter: Nach einem Museumsbesuch stellten wir uns in die lange Schlange vor dem Lieblings-Eisladen, ich genoss Mango-Maracuja und Karamell. Wir unterhielten uns über Kugelpreise, ganz wie so Rentner*innen. Die App zeigte 27 Grad.

Danach holte ich den Balkontisch und den Quasi-Liegestuhl aus dem Keller, wischte beides ab und genoss dort heute schon den Morgenkaffee. Auch der erste in diesem Jahr draußen.

Samstag, 6. April 2024 – Lafarge-Fans

Einen schönen Abend zu dritt im Waltz verbracht. Wir begannen mit Champagner, wie wir das halt so machen, und dann kam ein Rotwein auf dem Tisch, bei dem F. später dem Sommelier sagte, dass er sich über dessen glückliches Gesicht gefreut habe, als er am Korken gerochen hatte. Der Sommelier bedankte sich dann ernsthaft bei uns, dass wir diesen „großen Wein“ bestellt hatten, damit er immerhin den Probeschluck genießen konnte.

Der war aber auch toll. Ein Volnay von 2020, Clos de Chênes, von Michel Lafarge. An der Bar im Tantris wurde uns neulich gesagt, dass wir vermutlich die größten Lafarge-Fans Münchens seien. Gibt schlechteres.

Freitag, 5. April 2024 – Aluminium

Den Band von Brigitte Reimanns Tagebüchern und Briefen aus der Zeit von 1947 bis 1972 durchgelesen, hier schon mal erwähnt. Empfehlung! Meine Ausgabe ist von 1984, wo viele der in den Texten angesprochenen Menschen vermutlich noch lebten; ich ahne, dass daher so gut wie alle Anreden fehlen, selbst bei Briefen, bei denen man sich daher zusammenreimen kann oder muss, an wen sie gingen. Es gibt inzwischen neue Ausgaben, einige liegen hier schon, die auch einen immerhin kleinen editorischen Apparat mitbringen. Und wie ich bei der Ausleihe von „Franziska Linkerhand“ in der Stadtbibliothek sah: Der Roman wurde erst 2023 erneut aufgelegt.

Reimanns letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch war „Das grüne Licht der Steppen“, in dem sie über eine kurze Sibirienreise im Auftrag des Zentralrats der FDJ in die Sowjetuntion berichtete. Auch in ihren Tagebüchern und Briefen wird diese Reise natürlich erwähnt. An einer Stelle blieb ich hängen:

„Irkutsk, 15.7.64, abends

Mittags besuchten wir das Wasserkraftwerk von Irkutsk. Unvergeßlicher Anblick, aus der Höhe des achten Stockwerks, auf die wildweißen Wasserfälle und den glasklaren grünen Strom. … Aber später, nachmittags im Aluminiumkombinat von Schelechow, empfand ich zum erstenmal, daß ich nichts mehr speichern konnte – als sei die Fähigkeit, aufzunehmen, zu staunen, sich zu freuen, erschöpft. Zwei Stunden, in denen hundert neue Gesichter vorüberziehen, Zahlen und technische Daten auf uns niederprasseln …, nein, das zerflattert, ich kann nichts mehr festhalten, höre imponierende Zahlen, aber es sind eben nur Zahlen, mit denen sich für mich keine Bilder, Geschichten, Namen verknüpfen.

Die Aluminiumwerker in ihren Schutzanzügen betrachteten uns flüchtig, ohne Neugier; ihre Arbeit ist hart, trotz moderner Technik, in dieser Luft, die einem die Lungen ausdörrt, und wenn man als Delegierter mit Schlips und Kragen und Notizbuch an ihnen vorüberwandert, überfällt einen das fatale Gefühl eines müßigen Spaziergängers, der nicht dazu gehört und eigentlich stört.

Einmal, einen Augenblick lang, war ich wieder bewegt: als der Werkleiter Panschuk jedem von uns einen kleinen Barren des ersten in Sibirien geschmolzenen Aluminiums überreichte, in den das Datum des festlichen Tages eingeprägt ist: 10.2.1962. (Bald wird Sibirien ein Drittel der Weltproduktion an Aluminium liefern.) Ich erinnere mich lebhaft, wie bei uns in Schwarze Pumpe die ersten Briketts gepreßt und – lackiert und mit Datum versehen – verschenkt wurden und wie mir die Veteranen, die in der Lausitzer Heide Bäume gefällt hatten, erzählten, daß ihnen die Tränen gekommen seien, als sie zum erstenmal aus den Schornsteinen Rauch aufsteigen sahen …“

Brigitte Reimann: Die geliebte, die verfluchte Hoffnung. Tagebücher und Briefe 1947–1972, herausgegeben von Elisabeth Elten-Krause und Walter Lewerenz, Darmstadt 1984, S. 217.

Der Satz „Bald wird Sibirien ein Drittel der Weltproduktion an Aluminium liefern“ ließ mich nämlich nach dem Ende des Absatzes sofort zum Handy greifen, wo ich mich dann in der Liste von Aluminiumproduzenten verlor, um diese Behauptung zu überprüfen. Wie habe ich eigentlich früher gelesen, ohne alles nachschauen zu können? Vermutlich etwas konzentrierter.

Donnerstag, 4. April 2024 – Dachau und Flossenbürg

Den Vormittag verbrachte ich im ZI und las über Dachau. In einem Bildband begann die Einleitung mit der Klage, dass der Ort heutzutage (das Buch war aus den 1990ern) eher mit dem KZ bzw. der Gedenkstätte in Verbindung gebracht werde anstatt mit der schönen Kunst. Nun ja. Doof für euch, müsst ihr jetzt aber durch. Nach dem, was ich gestern unter anderem recherchierte, kann sich – totale Überraschung – auch die Kunst nicht ganz von den Ereignissen freisprechen, wegen derer der Ort heute einen seltsamen Klang hat.

Muss gerade an ein Spiel des FC Bayern denken, dessen Fangruppen gerne Banner mit dem Namen ihres Clübchens oder eben des Heimatortes über die Banden hängen. Bei einem Champions-League-Spiel in Spanien (könnte auch Italien gewesen sein, muss F. fragen) musste der Fanclub Dachau sein Banner einholen, weil der Ort nun mal mit Dingen in Verbindung gebracht wird, an die beim Fuppes keiner denken will. Was natürlich auch Blödsinn ist, ich verweise mal wieder auf das sehr lesbare Buch zum FC Bayern im Nationalsozialismus.

Wo wir gerade beim Thema sind, ich habe ja sowieso kein anderes mehr:

Hölle aus Stein

Teasertext der SZ: „79 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg endet der Granitabbau am früheren KZ-Steinbruch. Viele Häftlinge starben bei der unmenschlichen Arbeit. Über den langwierigen Kampf, einen historischen Ort zu schützen.“

Hier der Archive-Link ohne Paywall.

„Auf dem harten Granit, in den Augen der Nazis ein “deutscher” Stein, wollten sie ihr “tausendjähriges Reich” erbauen. Der Stein ist der Grund, warum das Konzentrationslager 1938 in Flossenbürg gebaut wurde. Er ist auch der Grund, warum es nach der Befreiung des Lagers durch die Amerikaner 79 Jahre gedauert hat, bis der kommerzielle Betrieb am Wurmstein endet. Am 31. März, Ostersonntag, läuft der 20 Jahre alte Pachtvertrag zwischen dem örtlichen Granitwerk Baumann und dem Freistaat Bayern aus – obwohl es Bestrebungen gab, den Abbau zu verlängern.“

Buchtipp zum „deutschen Stein“: „Beton, Klinker, Granit“. Und noch ein Buchtipp, schon mal erwähnt: „Erinnerungsort Flossenbürg“ beschäftigt sich mit dem Weg vom Lager zur Erinnerungsstätte; ich habe generell viel über den Umgang mit diesen Orten in der Nachkriegszeit bis heute gelernt.

Mittwoch, 3. April 2024 – Zuschauende und Restitution

Lesetag am heimischen Schreibtisch. Unter anderem einen Aufsatz zum „unschuldigen Zuschauer“ in der NS-Zeit sowie einen zu Raubkunst und Restitution nach 1945. Beide Zitate sind wegen der besseren Lesbarkeit nicht eingerückt.

„Als die Entnazifizierung abklang und Verstöße, die geringere Strafen nach sich zogen, nicht mehr bestraft wurden, konnten neue Verhaltensweisen eingeübt werden. Seit den 1950er Jahren unterstützte die selektive Betonung von Aspekten des Schreckensapparats der Nationalsozialisten – insbesondere in Bezug auf die SS, die von einem Historiker als »Alibi einer Nation« bezeichnet wurde – das verbreitete Narrativ von der mangelnden Handlungsfähigkeit, dem anderen entscheidenden Element der Geschichte von den »unschuldigen Zuschauern«.

Verstärkt wurde das alles durch den besonderen Charakter der »Vergangenheitspolitik« in allen drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches. Mit je nach geopolitischem Ort und den Entwicklungen des Kalten Krieges unterschiedlicher Modulation wurde der Kreis der Schuldigen immer enger gezogen; der Raum für die Behauptung, nur ein unschuldiger Zuschauer gewesen zu sein, wurde entsprechend immer größer.

Die Narrative des Nichtwissens und der Unschuld wurden in Westdeutschland unter Adenauer durch die Rehabilitation und Reintegration derjenigen gefördert, die als »nominelle« Mitglieder der NSDAP eingeschätzt wurden, und sie ermöglichten Amnestien selbst für bedeutende Täter, die Ende der 1940er Jahre langjährige Haftstrafen erhalten hatten. Ironischerweise war ein ähnlicher Prozess auch im ostdeutschen »antifaschistischen Staat« mit seinem offiziellen Mythos von unschuldigen »Arbeitern und Bauern« evident, die von der Roten Armee »befreit« worden waren. Es bedurfte des Wettbewerbs zwischen Ost- und Westdeutschland in den späten 1950er Jahren um die Frage, wer besser bei der Überwindung der Vergangenheit« war, um erneute rechtliche Aktivität zu stimulieren – im Westen gestützt durch die Einrichtung der Zentralen Stelle Ludwigsburg. Aber der Kreis der Schuldigen wurde immer enger gezogen.

Trotz der massiven Aufmerksamkeit für den »Umgang mit der Vergangenheit« in Westdeutschland war die Zahl derjenigen, die angeklagt wurden, minimal; die Urteile fielen oft schockierend milde aus. Als Oskar Gröning 2018 im Alter von 96 Jahren starb, bevor er seine Haftstrafe antrat, war er erst der 6657ste NS-Täter, der in der Bundesrepublik verurteilt wurde. Die Situation in Ostdeutschland war strenger. In der SBZ und in der DDR gab es bis 1989 insgesamt 12.890 Verurteilungen (oder 9495 ohne die Schnellverfahren der Waldheimer Prozesse). Berücksichtigt man die jeweilige Bevölkerungszahl, bedeutet das, dass in Ostdeutschland ehemalige Nationalsozialisten mit sechs- bis siebenfach höherer Wahrscheinlichkeit vor Gericht gestellt wurden als in Westdeutschland; überdies waren die Urteile strenger. Aber die Politisierung der Strafverfolgung, die die Präsenz ehemaliger Nationalsozialisten in Westdeutschland hervorhob und gleichzeitig zur politisch genehmen Verdeckung und zum Kleinreden der Kontinuitäten im Osten herangezogen wurde, befleckte dann bald den Ruf der DDR, ehemalige Nationalsozialisten konsequenter vor Gericht zu stellen.

Es lohnt sich, eine Nebenbemerkung über Österreich hinzuzufügen, das selbsternannte »erste Opfer der NS-Aggression«, wo die ursprüngliche Konfrontation mit der einheimischen Beteiligung am Nationalsozialismus bald einer massiven Entlastung von wichtigen Kriegsverbrechern Platz machte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg waren die Zahlen der Gerichtsverfahren vor dem Volksgericht für ein Land mit einer so geringen Bevölkerungszahl hoch, auch wenn es oft um relativ geringfügige »inländische« Verstöße wie die damals illegale Mitgliedschaft in der NSDAP vor 1938 ging. Aber in den Jahrzehnten nach der Abschaffung der Volksgerichte gab es nur 39 Fälle vor Gerichten, und wichtige Prozesse endeten oft mit schockierenden Freisprüchen selbst für die manifest Schuldigen.

Zu den bemerkenswerten Beispielen zählen die Freisprüche von Franz Murer 1963, dem »Schlächter von Vilnius«, von Walter Dejaco und Fritz Ertl (die die Gaskammern von Auschwitz entworfen hatten) sowie des SS-Wachmanns in Auschwitz Otto Graf 1972 in Wien und die Prozesse gegen Johann Vinzenz Gogl, ehemals Wachmann im Konzentrationslager Mauthausen und im Nebenlager Ebensee, der 1972 in Linz (unter dem Jubel der im Gerichtssaal anwesenden ehemaligen SS-Angehörigen) und 1975 in Wien freigesprochen wurde. Während dieser Prozesse wurden die überlebenden Zeugen häufig verspottet und gedemütigt.

Der westdeutsche Umgang mit der Vergangenheit war weit entfernt von einer ungetrübten Erfolgsgeschichte, wie sie die Bundesregierung manchmal präsentierte. Die Anwendung des Strafrechts zur Definition von Mord als Tat von subjektiver Motivation und übermäßiger Brutalität erwies sich als vollkommen inadäquat für den Umgang mit organisiertem Massenmord und führte zu zahlreichen Freisprüchen oder übertrieben milden Urteilen. Die Justiz, die hohe Beamtenschaft und andere Berufsgruppen (darunter namhafte Mediziner, die am Euthanasieprogramm T4 beteiligt gewesen waren) wurden überwiegend nicht zur Rechenschaft gezogen, während die entnazitizierte Anwaltschaft sich sogar für nicht schuldfähig erklärte, da sie nur die Gesetze des NS-Regimes angewande habe. Die juristische Auseinandersetzung in Westdeutschland läst sich eher als Topographie des Unrechts betrachten: die winzige Minderheit der tatsächlich verurteilten Täter, die politischen Entscheidungen über legale Praktiken, die Eliten, die sich der Justiz entzogen, und nicht zuletzt das schreckliche Ungleichgewicht zwischen dem Wohlstand vieler früherer Täter und der anhaltenden Not der Uberlebenden, die weder Anerkennung noch Entschädigung erhielten, was manche Gruppen sehr viel härter traf als andere.“

Mary Fulbrook: „‚Unschuldige Zuschauer‘ in deutscher Geschichte und Erinnerung“, in: Tim Schanetzky, Tobias Freimüller, Kristina Meyer, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß, Annette Weinke (Hrsg.): Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen 2020, S. 51–64, hier S. 58–60.

„Etwas mehr Zeit brauchten die Alliierten, um die innere Rückerstattung von Vermögenswerten, die innerhalb des Deutsches Reichs verfolgungsbedingt entzogen worden waren, anzugehen. Während die Sowjetunion kein Interesse an der Wiederherstellung privater Eigentumsverhältnisse hatte und auf diesem Gebiet entsprechend zurückhaltend agierte, konnten sich auch die Westmächte nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Die amerikanische Militärregierung erließ am 10. November 1947 unilateral das Gesetz Nr. 59, das die »Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen« regelte. Demnach konnten alle Personen, die »aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus« Vermögen verloren hatten, die Rückerstattung beantragen. Neben direkten Enteignungen durch Staat und Partei – die Bundesländer bzw. die Bundesrepublik agierten hier als Rechtsnachfolger – konnten auch private Rechtsgeschäfte angefochten werden, wenn sie dem Druck der Verhältnisse geschuldet waren. Anträge auf innere Rückerstattung mussten bis zum 31. Dezember 1948 bei einem Zentralanmeldeamt in Bad Nauheim eingereicht werden und wurden vor deutschen Behörden und Gerichten verhandelt; ein Board of Review der amerikanischen Militärregierung griff bei Streitfällen in letzter Instanz ein. Die Franzosen erließen zeitgleich eine vergleichbare Verordnung, die Briten zogen erst im Frühjahr 1949 nach.

In der deutschen Bevölkerung waren diese Restitutionsgesetze überwiegend unbeliebt. Zwar galt die Rückerstattung von Vermögen, das durch die NSDAP oder den Staat enteignet worden war, mehrheitlich als gerecht. An der Möglichkeit zur Rückabwicklung privater Rechtsgeschäfte entzündete sich hingegen scharfer Protest, auch weil sie viele Privatleute direkt betreffen konnte. In den westlichen Besatzungszonen bildeten sich Lobbygruppen, die sich 1950 zur Bundesvereinigung für loyale Rückerstattung zusammenschlossen und mit der Zeitschrift Die Restitution ein eigenes Publikationsorgan unterhielten; die teilweise scharfen Debattenbeiträge machen auch das Fortbestehen antisemitischer Ressentiments sichtbar. Die ablehnende Haltung ging aber weit über diese Interessenverbände hinaus. Sie war symptomatisch für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die an die Vergangenheit eher nicht erinnert und keine Schuld an den Verbrechen der NS-Zeit zugewiesen erhalten wollte. Die Verantwortung wurde allein Staat, Partei und oberster politischer Führung zugeschoben.“

Johannes Gramlich: „NS-Raubkunst und die Herausforderungen der Restitution. Ein Überblick“, in: Magnus Brechtken (Hrsg.): Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021, S. 584–613, hier S. 610/611.