Bücher April 2011
Jonatham Lethem – The Fortress of Solitude
Ich les ja gerne Zeug einfach weg, aber manchmal mag ich es auch sehr, mir ein Buch erarbeiten zu müssen. Fortress musste ich mir erarbeiten, aber als ich mich der letzten Seite näherte, hätte ich sehr, sehr gerne noch viel länger gearbeitet. Das Buch besteht aus zwei Teilen (mit einem winzigen Einschub in der Mitte): Der erste beschreibt die 70er-Jahre-Kindheit von Dylan, einem weißen Jungen in Brooklyn, dessen Hippieeltern ihn auf eine Schule schicken, in der er eindeutig in der Minderheit ist. Die Sache mit der Hautfarbe spielt eine große Rolle in seinem Leben, Comics, Musik, seine Freundschaft zu Mingus, einem schwarzen Jungen, Comics, Musik, Drogen, sein jugendlicher Erzfeind, der ihm konstant das Leben schwer macht, Comics, Musik, Drogen, Sex. Dieser Teil war viel schwerer zu lesen als der zweite, aber er fühlte sich viel dichter an, viel persönlicher, viel einzigartiger.
Der zweite Teil ist in der Ich-Form geschrieben, und Dylan erzählt uns, wie sein Leben so weitergegangen ist. Das ist auch toll, und er nimmt auch so ziemlich alle Fäden auf, von denen ich im Laufe der 500 Seiten geglaubt habe, sie seien einfach unter den Tisch gefallen, aber der erste Teil war fantastisch. Ich musste mich 50 Seiten lang etwas quälen, weil die Handlung nicht so schön geradeaus erzählt wird wie im zweiten Teil; sie besteht eher aus Andeutungen, popkulturellen Anspielungen, Song-Zeilen, Filmzitaten und einem sehr eigenwilligen Stil, der sich ein bisschen wie eine lange Gedankenkette anfühlt. Das Buch hat noch eine weitere Ebene, die alles eigentlich total irreal werden lassen müsste, aber das tut sie nicht, ganz im Gegenteil. Ich will nicht verraten, was es ist, weil es mich einige dutzend Seiten gekostet hat, mich mit diesem Detail anzufreunden, aber dann war ich völlig fasziniert davon.
Ich ahne, dass ihr jetzt nicht großartig wisst, was so toll an diesem Buch ist, aber mit genau diesem Gefühl habe ich es zugeklappt: Es flirrt an einem vorbei, obwohl man sehr tief darin versinkt, und es ist eins von diesen Büchern, bei denen man vergisst, aus dem Bus auszusteigen, weil es einen so sehr in den Fingern hat. Mich jedenfalls. Großartiges Ding.
(Leseprobe bei amazon.de)
Mariana Leky – Erste Hilfe
Von den beiden neueres Lekys war ich begeistert; ihren Erstling habe ich eher pflichtschuldig zu Ende gelesen. Man spürt schon, wo stilistisch die Reise mal hingehen wird, aber man ist eben noch nicht da. Klingt noch sehr bemüht, hat netterweise aber schon sehr oft diese seltsamen und schlauen Wortkombinationen, die ich in Lekys weiteren Büchern so mochte.
Maja Storch – Mein Ich-Gewicht
Wie man sein Unterbewusstsein mit ins Boot holt, wenn man sich von viel zu wenig Essen ernährt. Kann man machen. Mach ich nicht. Las sich zwar ganz okay weg, ignoriert aber natürlich trotzdem den Fakt, dass ein Großteil aller Diäten schlicht nicht funktioniert, ganz egal, wie sehr mein Unterbewusstsein eine 38 tragen will.
(Leseprobe bei amazon.de)
Paul Campos – The Obesity Myth
Versteigt sich manchmal in sehr wilde (aber hübsche) Theorien à la „Wenn Monica Lewinsky nicht so ein mieses Verhältnis zu ihrem nicht ganz schlanken Körper gehabt hätte, hätte sie sich nicht mit verheirateten Kerlen abgegeben“, räumt aber mit ner Menge Vorurteile über Dicksein und seine oh so schlimmen, SCHLIMMEN Folgen auf. *grummel*
Ulli Müller – Wahre Worte weiser Wirte
War leider nicht ganz so meins. Das Büchlein versammelt Interviews mit Wirten und Wirtinnen aus Hamburg, die von ihrem Alltag erzählen. Das ist meist das gelernte „Als Wirt ist man auch Therapeut“ und geht leider zu selten darüber hinaus. Vielleicht war ich auch irgendwann einfach genervt, weil ich selber ein paar Jahre hinter der Theke gestanden habe. Der Satz kam auch ungefähr so im Buch vor: „Man lernt nirgends mehr über die Menschen als in einer Bar.“ Und genau deswegen bin ich so froh, dass ich da nicht mehr arbeiten muss.
(Clips und Leseproben auf wwww.)
Jasper Fforde – The Eyre Affair
Schön, schön, schön. Und clever. Und schön. Thursday Next arbeitet bei LiteraTec, einer Art Polizei, die sich mit Verbrechen gegen die Literatur beschäftigt. Die gibt es natürlich nur in einem fiktiven Land; hier ist es England, 1985. Es liegt seit über 100 Jahren im Krieg mit Russland, Wales ist ein abgeschotteter Staat, der von einem Politbüro regiert wird, Thursdays Vater arbeitet bei der ChronoGuard und springt durch Raum und Zeit, und Thursday selbst hat als Kind unbeabsichtigt den Fortgang von Jane Eyre beeinflusst – sie bringt das Pferd zum Stolpern, das Mr. Rochester abwirft, woraufhin sich Jane und ihr Mister zum ersten Mal begegnen. The Eyre Affair dreht sich um einen Manuskriptdiebstahl und einen wie üblich verrückten Meisterdieb, der arme Charaktere aus Charles-Dickens-Büchern kidnappt und nun Frau Eyre bedroht. Klar, dass Thursday in Aktion tritt.
The Eyre Affair ist ein charmantes Konglomerat aus Krimi, Science Fiction, Literatur- und Weltgeschichte und hat so viele wunderbare Details, die mich jedesmal, wenn ich über ein besonders gelungenes gestolpert bin, zum Lächeln gebracht haben. So habe ich das erste Mal gedacht, hm, irgendwas ist anders, als ich von Shakespeares Love’s Labour’s Won gelesen habe. Ich habe mich über eine Aufführung von Richard III. gefreut, die völlig selbstverständlich mit Publikumsbeteiligung abläuft – so wie wir es von der „Rocky Horror Picture Show“ kennen. Und ich habe die pupsenden Bücherwürmer geliebt, die als Fäkalie’n die wohlbekannte’n grocer’s apostrophe’s absondern.
Und das beste an dem Buch: Es ist das erste in einer ganzen Reihe. Sofort weiterlesen. Aber erstmal ein bisschen „Sekundärliteratur“.
(Leseprobe bei amazon.de)
Charlotte Brontë – Jane Eyre
Das musste jetzt sein, nachdem ich Jane als eine so freundliche, intelligente und zupackende Frau kennengelernt habe. Über den Inhalt brauche ich wohl nichts mehr zu sagen, dafür gibt es schließlich die Wikipedia. Vielleicht muss man ein gewisses Alter (oder eine gewisse entspannte Geistesverfassung) haben, um die ganzen Klassiker zu würdigen, keine Ahnung. Je mehr ich von ihnen lese (Proust, Tolstoi, Cervantes, Conrad), desto mehr bin ich von der Sorgfalt begeistert, mit der mit Sprache umgegangen wird. Ich schludere im Blog gerne mal mit Worten in der Gegend rum, weil ich mich beruflich so zusammenreißen muss, und genau deshalb fällt mir der Kontrast so auf, wenn ich Werken begegne, die sich lesen, als hätte jemand mit einem Skalpell einzelne Buchstaben ausgeschnitten und sie in ewig langer, präziser Arbeit neu zusammengesetzt. Wunderbar.
(Leseprobe bei amazon.de. Der Volltext steht natürlich auch hier.)