Sommer vorm Balkon

Sommer vorm Balkon (D 2005, 105 min)

Darsteller: Inka Friedrich, Nadja Uhl, Andreas Schmidt, Stephanie Schönfeld, Vincent Redetzki, Christel Peters, Kurt Radeke
Musik: Pascal Comelade
Kamera: Andreas Höfer
Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase
Regie: Andreas Dresen

Trailer

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Es gibt Filme, bei denen ich mich schon im Kino darauf freue, sie danach in der Kritik in der Luft zu zerreißen. Es gibt Filme, die mich völlig unberührt zurücklassen und bei denen ich in der Kritik mühsam Punkte suche, an denen ich meine Meinung entlanghangeln kann. Und es gibt Filme, die so wunderschön sind, so hervorragende Darsteller haben und eine so schlichte und gleichzeitig großartige Geschichte erzählen, dass ich eigentlich gar keine Kritik dazu schreiben möchte, weil alle Worte dieser Welt dieser Art Filme nicht gerecht werden können. Ich versuche es trotzdem: Hier ist meine Kritik zu Sommer vorm Balkon, einem der besten Filme, die ich in letzter Zeit gesehen habe.

Die Geschichte klingt fast belanglos: Katrin ist eine arbeitslose Schauwerbegestalterin, die manchmal dem Alkohol zu sehr zuspricht – um ihre Erwerbslosigkeit zu verdrängen, um bei der Männersuche lockerer zu werden, um die Geldsorgen zu vergessen, wegen denen sie ihrem Sohn nicht die gewünschten Turnschuhe schenken kann oder schlicht, weil die Cola alle ist. Ihre beste Freundin Nike ist eine Altenpflegerin, die ihren Job nicht aus Nächstenliebe macht, sondern weil sie die Miete zahlen muss, dabei aber trotzdem die ihr anvertrauten Alten mit so viel Empathie umsorgt, dass man es ihr einfach nicht abkauft, dass sie bei der Pflege wirklich nur ans Geld denkt. Beide Frauen sind auf der Suche nach dem Traummann, wenn es schon mit dem Traumjob nicht geklappt hat. Eines Tages begegnen sie dem Kraftfahrer Ronald – bzw. er begegnet ihnen, als Katrin ihm vors Auto läuft und Nike ihn später ihn der Kneipe schüchtern, aber bestimmt anflirtet. Ronald lässt sich ganz selbstverständlich in Nikes Leben nieder, und dadurch ändert sich die Freundschaft der beiden Frauen.

Habe ich eben „belanglos“ gesagt? Vielleicht das falsche Wort. Vielleicht eher: Die Geschichte klingt, als ob sie einem ein Freund abends beim Bier erzählt: „Du, die Katrin, der geht’s grad nicht so gut. Und Nike hat sich so nen komischen Kerl angelacht, du glaubst es nicht …“ Als ob man neben den beiden steht und ihnen beim Leben zuguckt. Und das Schöne an diesem Film, der sich eben nicht anfühlt wie ein Film, ist, dass er das wahre Leben abbildet, ohne Zuckerguss, aber auch ohne fiese Filmdramatik mit Geigensoundtrack und Heulspur. Das ist mir besonders in einer Szene aufgefallen, in der Katrin (Inka Friedrich) nach einer sehr durchzechten Nacht im Krankenhaus aufwacht. Eine Ärztin bietet ihr an, ein paar Tage dazubleiben, um vielleicht mit einem Psychologen zu reden, worauf Katrin zusammenbricht und eher wütend als verzweifelt ausruft, dass sie sich ja auch umbringen könne, der Sohn sei alt genug, der käme auch alleine klar, und was würde das schon ausmachen, wenn sie sich umbrächte. Solche Sätze können ganz leicht fürchterlich pathetisch werden und überzogen, aber das waren sie hier nicht. Genau wie wirklich alle anderen Dialoge im Film waren die Sätze echt und unmittelbar und richtig und gut. Inka Friedrich erzwingt mit ihrem Spiel nie falsches Mitleid, nie dieses klebrige Filmgefühl, ach Gott, die Arme, hoffentlich hat ihr das Drehbuch ein Happy End geschrieben. Stattdessen nötigt sie uns Respekt für ihre Figur ab, die sicherlich manchmal Dinge tut, die wir aus der sicheren Distanz des Kinosessels nicht gutheißen können, die wir aber alle schonmal selbst gemacht haben: Wir haben uns dämlich zu Freunden verhalten, haben unsere Grenzen nicht erkannt, haben uns schlicht zum Affen gemacht. Und wir hatten kein Drehbuch, auf das wir uns verlassen konnten. Katrin scheint das auch nicht zu haben, sie lebt einfach weiter, macht einfach weiter, versucht, alles in Ordnung zu kriegen, soweit ihr das möglich ist. Und ich habe ihr dabei sehr, sehr gerne zugesehen.

Nadja Uhl als Nike steht Friedrich in ihrer Authenzität um nichts nach. Nike ist stets eine Spur zu grell und einen Hauch zu eng gekleidet, lässt gerne ihren String unter der Jeans vorblitzen – aber sie wirkt nie billig oder aufgetakelt, sondern einfach wie jemand, der sich in genau diesen Klamotten wohlfühlt. Ihr Aufzug ist keine Anmache, sondern schlicht ihre Art, sich zu kleiden, als ob es eben keine andere Art gibt, sich zu kleiden. Ihre Wohnung ist ein kleines Idyll an Spießigkeit, das aber den Traum von etwas Besserem ausstrahlt: Der Fächer über dem Bett soll Weltläufigkeit zeigen, die kunstvoll gefalteten Papierservietten auf dem billigen Frühstücksgeschirr sollen Stil herbeizaubern, wo keiner ist. Und dass sie Ronalds Unverschämtheiten so lange aushält, zeigt ihren festen Glauben daran, dass sie ihn vielleicht irgendwann so hat, wie sie ihn gerne hätte. Das wäre doch gelacht. Alles andere kriegt sie ja auch hin. Nadja Uhl berlinert sich durch ihre Zeilen, bezaubert durch ihren seltsam prolligen Charme und ist dabei so stark in ihrer Darstellung, dass Nike nie albern wirkt; wir müssen nie über sie schmunzeln oder über ihr Bemühen, aus ihrem kleinen Leben etwas Großes zu machen. Sie macht Nike nie lächerlich, sondern im Gegenteil, sie zeigt sie als eine willensstarke Frau, die selbst in ihren schwachen Momenten genug Mut hat, diese Schwächen anzunehmen.

Sommer vorm Balkon hat ein Tempo, das seinem Titel angepasst ist: Es ist Sommer, man bewegt sich langsamer, man bleibt länger wach, man genießt die Wärme um sich herum – man aalt sich fast in der Geschichte statt in der Sonne. Er entzückt durch viele kleine Detailgenauigkeiten, die die Figuren noch schärfer definieren. So cremt Nike einen alten Mann ein und nutzt die überschüssige Creme auf ihren Händen flink, effizient und in einer schon tausendmal dagewesenen Bewegung für ihre Arme. Und Katrin lernt auf einem Seminar, dass sie im Bewerbungsgespräch nie den Kaffee annehmen sollte, weil sie so nervös sei – und im nächsten Gespräch macht sie genau das Gegenteil. Alle anderen Tipps beherzigt sie unbeholfen, aber einen guten Kaffee lehnt man eben nicht ab.

Der Film hat eine sehr genaue Beobachtungsgabe für sein Milieu und seine Story und wirkt dadurch eben wie die oben angesprochene Geschichte, die man abends beim Bier erzählt bekommt. Er klingt, wie ein guter Film mit guten Sätzen klingen muss; mir ist kein einziger Dialog aufgefallen, über den ich gestolpert wäre. Viele Sätze waren mehr als nur Futter für die Ohren; Dinge, die man nicht zeigen kann, muss man eben erzählen. Aber hier steckte in vielen Sätzen eine zweite Ebene, teilweise eine ganze Welt. Wenn Katrin Nike nach einem Streit als erstes erzählt, dass ihr Sohn Liebeskummer habe und Nike dazu lächelnd „Ach, schön“ sagt, dann heißt das so viel, dann steckt da so viel Anteilnahme an einem anderen Leben drin, so viel Erleichterung darüber, dass man wieder dazugehört – in zwei kleinen Worten.

Sommer vorm Balkon ist einer dieser Filme, die sich vollkommen anfühlen. So vollkommen, dass ich mich seit zwei Tagen davor drücke, eine Kritik zu schreiben, weil ich dieses zutiefst befriedigte Gefühl nicht zerreden wollte, mit dem ich aus dem Kino kam. Aber jetzt bin ich doch froh, darüber geschrieben zu haben, weil ich mich nochmal an die vielen Dinge erinnern durfte, über die ich mich schon im Kino gefreut habe. Ganz große Empfehlung.