Bayreuth 2011: Lohengrin
Das letzte Mal war ich 2005 in Bayreuth – wenn Sie sich den Eintrag dazu mal eben durchlesen möchten? Ich warte. (Jeopardy-Musik) Fertig? Gut, dann kann ich ja jetzt die Basics des Festspielerlebens voraussetzen.
Nach den beiden letzten Inszenierungen war ich eher genervt von der ganzen Bayreuth-Chose, auch weil ich damals bereits zum vierten Mal da war, mein Rücken allmählich richtig von den Stühlchen erledigt war und ich auch so langsam einen Wagner-Overkill zu bekommen drohte. In den letzten Jahren erweiterte ich dann allmählich mein Opern-Repertoire um (vor allem) Puccini und Tschaikowsky, hörte in Donizetti rein, gab Mozart eine letzte Chance (es geht einfach nicht), merkte aber generell: Hey, andere Menschen schreiben auch schöne Opern. Von Richard sah ich gerade mal den Holländer (die Einstiegsdroge für Newbies – dauert nur gut zwei Stunden und ist noch sehr in der klassischen Operntradition geschrieben), das Rheingold (auch so’n kurzes Ding) und eine Bayreuth-Ãœbertragung als Stream (Meistersinger). Diese Quasi-Wagner-Pause hat anscheinend sehr gut getan, denn als ich diesmal erfuhr, dass mein Mütterchen und ich wieder Karten bekämen – für Lohengrin und Parsifal –, habe ich mich sehr gefreut.
(Festspielbilder dürfen laut der Webseite nicht im Internet verbreitet werden, und der Abdruck im Print kostet Schotter – vielleicht klicken Sie da mal kurz rüber, um sich anzugucken, wovon ich jetzt ein bisschen schreibe. 2010, 2011. Ich habe für diesen Eintrag mein total legal erworbenes Programmheft abfotografiert und hoffe, dass das unter Zitatrecht fällt. Was weiß denn ich.)
Die Lohengrin-Inszenierung von Hans Neuenfels stammt vom letzten Jahr, daher wusste ich schon, was uns auf der Bühne erwartet: Ratten. Die wie immer wundervollen und FANTASTISCH LAUTEN Chöre steckten komplett in Rattenkostümen und bewegten sich dementsprechend: Da wurden Barthaare geputzt, es wurde sich hinter den Öhrchen gekratzt, die Vorderpfötchen suchten irgendwas in der Luft, und die Schwänze wedelten bei jeder Körperdrehung. Das ist schon ein sehr hübsches Bild, wenn geschätzt 50 mannsgroße Ratten Zeilen wie „Wohlauf! Mit Gott für Deutschen Reiches Ehr!“ schmettern.
Die Bühne ist ein übergroßes Labor, in dem die Ratten von blau gewandeten Statisten in Schach gehalten werden. Meistens jedenfalls, denn in einem Zwischenspiel behielten die Ratten mal die Oberhand, verjagten ihre Versuchsanordner und gaben sich dafür ein cooles High-Five. Aber im Prinzip habe ich die Inszenierung so verstanden: Wir sind alle Teil eines Versuchs, den irgendetwas oder irgendjemand mit uns durchführt. Und dann entsteht im Versuchsaufbau plötzlich eine Krisensituation – Elsa wird von Fiesling Telramund beschuldigt, ihren Bruder getötet zu haben. Sie bestreitet es, König Heinrich fragt, ob sie einen Fürsprecher habe, woraufhin sie von einem Ritter erzählt, der ihr im Traum erschienen sei. Auf einem Schwan. (Ja, die Zeile „Mein lieber Schwan“ stammt aus dem Lohengrin und ist eine sehr zärtliche Stelle.) Ein paar Liedzeilen weiter taucht eben dieser Ritter auf, verteidigt Elsas Ehre und bittet, wenn er schon mal da ist, auch gleich um ihre Hand. Aber das alles nur unter einer Bedingung: „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art!“ Im Klartext: Der gute Mann will seinen Namen nicht preisgeben, aber im Gegenzug rettet er dafür Brabant und den memmigen König vor Telramund und seiner giftigen, galligen Gattin Ortrud.
©Bayreuther Festspiele (Enrico Nawrath/Jörg Schulze)
Besonders der König (Georg Zeppenfeld) hat mir sehr gut gefallen, auch weil er seine schwächliche Rolle sehr clever gespielt hat. Ständig wird er gestützt, er kann kaum geradeaus gehen, ohne umzufallen, er klettert ängstlich hinter seinen Thron, der aussieht wie von Ikea, sobald irgendjemand etwas von ihm will, und seine Krone ist aus schwarzem Filz anstatt aus ehrfuchtsgebietendem Metall. Gegenspieler Telramund (Tómas Tómasson) darf in silbrig-glitzerndem Anzug ein bisschen pseudoprotzen und Macht vortäuschen, die er nicht hat, aber noch viel toller war Ortrud (Petra Lang). Das sieht man dem verlinkten Foto überhaupt nicht an, aber meine Güte! war die Dame verbissen darauf, Einfluss zu gewinnen. Wenn sie nicht sang, verknautschte sich ihr ganzes Gesicht zu einer einzigen Haben!HABEN!-Grimasse, die mich an irgendwas erinnerte, ich kam bloß nicht drauf, was. Mein charmanter Begleiter (Mama hatte die Karte aus Gründen abgegeben) wusste es und sagte es mir in der Pause: Sie sah ganz in echt und wirklich und wahrhaftig haargenau so aus wie Grace van Cutsem. Zumindest aus unserer Perspektive: Wir saßen extrem gut gelaunt in der zweiten Reihe, ein bisschen seitlich, aber scheißegal: zweite Reihe, Baby.
©Bayreuther Festspiele (Enrico Nawrath/Jörg Schulze)
Stimmlich fand ich alle drei großartig. Sowohl Zeppenfeld als auch Tómasson haben äußerst verständlich gesungen, und selbst Lang hatte Momente, in denen ich wusste, was sie von sich gab, was bei allem über Alt ja leider meist Glückssache ist. Aber sie hat von Anfang bis Ende eine solche Aggressivität und Besessenheit in ihre Stimme gelegt, dass man sich ihr überhaupt nicht entziehen konnte. Ich war schwer beeindruckt. Von der guten Elsa (Astrid Weber) leider etwas weniger. Sie blieb recht farblos; hübsch, adrett, unauffällig, was natürlich auch an der Rolle liegt, aber trotzdem – das einzige, was ich ihr gerne abgenommen habe, waren die Szenen, die sie alleine mit Lohengrin (Klaus Florian Vogt) hat, denn ihm war sie absolut ebenbürtig. Was wiederum an Vogt lag, der eine sehr weiche, lyrische Stimme hat. Er klingt für mich nicht wie der üblich schmetternde Heldentenor, sondern singt den Lohengrin romantisch, einfühlsam, fast vorsichtig. Klar kann er auch laut werden, und das tut er auch, aber ich war sehr von seiner sanften Stimme überrascht, die ich vorher noch nicht kannte. Das war für mich ein sehr neuer Lohengrin, und er hat mir ausnehmend gut gefallen.
(Wenn Sie vergleichen wollen: Vogt in einer anderen Inszenierung als Lohengrin; Bild und Ton sind leider nicht synchron. Als Gegenstück: René Kollo, der für mich mehr geradeaus klingt. Auch toll, aber eben anders. Bonustrack: Jonas Kaufmann, der die Rolle im letzten Jahr gesungen hat und den ich nicht ganz so mag.)
Und das ganze Drumherum gefiel mir noch mehr. Die Ratten schälen sich irgendwann aus ihren Kostümen, und darunter tragen sie zum Beispiel knallgelbe Anzüge. Keine Ahnung, warum, sah aber großartig aus. Die Rattenhüllen landen an Garderobehaken, die aus der Decke gefahren kommen, und irgendwann brüllt der vielstimmige, gelbe Chor ins Publikum, während über ihren Köpfen Häute und Schwänze baumeln. Vielleicht haben wir, die Versuchstiere, eben doch ab und zu einen eigenen Willen, eine individuelle Persönlichkeit, streifen kurz unser gesellschaftlich akzeptiertes Kleid ab, laufen wie Kanarienvögel rum – bis uns jemand zurück in den Käfig scheucht und wir wieder Schwänze haben.
Die Bühne war sehr hell erleuchtet, viel Neon, viel weiß, sehr klare Linien, immer schön an der Zentralperspektive ausgerichtet – wie ein Labor eben. Rechte Winkel, klare Aufgabenverteilungen, bloß keine Ausreißer. Deswegen habe ich mich besonders über eine pinkfarbene Ratte gefreut. Wieder ein Zwischenspiel, das Neuenfels irgendwie bebildern wollte, und so kommen acht rosafarbene Kinderratten auf die Bühne, die irgendwas Putziges tanzen. Bis auf eine Ratte, denn sie imitiert Uma Thurman aus Pulp Fiction, worauf sie von der Anführerin eins mit dem Schirmchen aufs Köpfchen kriegt, während ich mich im Zuschauerraum sehr zusammenreißen musste, um nicht allzu laut zu lachen. Im Nachhinein würde ich gerne wissen, wieviel Prozent des Festspielpublikums diese Referenz entdeckt haben. Es ist meiner Meinung nach schon jünger geworden, aber mit 42 reißt man den Schnitt dann doch sehr nach unten. (Und mein Begleiter war noch jünger!)
©Bayreuther Festspiele (Enrico Nawrath/Jörg Schulze)
Uma war schon ein sehr schöner Moment, aber der schönste war der Schluss. (Der drittschönste war das Vorspiel, bei dem ich natürlich angefangen habe zu weinen, aber hey, das liegt am Vorspiel.) Normalerweise kann sich ja kein Opernpublikum beherrschen, bis die letzten Töne verklungen sind, bevor geklatscht und gebuht wird. Gefühlt will jeder der erste sein, der seine Meinung kund tut, und in Bayreuth ist das nicht anders. Und ich, ich Harmoniepuschel, will nach den letzten Tönen ein, zwei, zehn Augenblicke der Ruhe und Einkehr haben, um aus der Oper aufzutauchen und wieder im Zuschauerraum zu landen. Neuenfels und mein Mit-Publikum haben mir beim Lohengrin ein absolutes Geschenk gemacht. Chöre und Orchester blasen nochmal richtig Attacke, bevor der Schlussakkord kracht, und normalerweise könnte man dann halt losklatschen. Hier marschiert Lohengrin aber von der Bühnenmitte in Richtung Orchester bzw. Zuschauerraum – und er bleibt nicht stehen, obwohl die Musik vorbei ist. Er geht einfach weiter auf uns zu, langsam und zielstrebig, bei voll erleuchteter Bühne – und erst nach mehreren, fast unendlich scheinenden Sekunden erlöscht das Licht. Und selbst jetzt warteten die Schnellklatscher lieber noch ein paar Momente, falls doch noch was passierte. Es war aber wirklich Schluss, die Applausmaschine rollte, die Bravo-Rufe wurden laut, und ich war sehr, sehr glücklich über diese kurzen Augenblicke von purer, spannungsgeladener Stille. Das habe ich noch nie in der Oper erlebt, und ich werde mich noch sehr lange daran erinnern.
(Tat auch nicht weh, dass Vogt in schwarz und schlicht und V-Ausschnitt und blauen Augen und blonder Wallemähne in meinen tränenverhangenen Augen wie Marcus Schenkenberg aussah und quasi auf mich zukam. Nee, war schon in Ordnung.)
Ihr könnt tollerweise dieses Wunderwerk auch sehen und zwar entweder per Livestream im Internet oder bei arte, beides am 14. August. Ich bin wieder dabei. (Falls da nicht Bayern spielt.)