Brokeback Mountain
Brokeback Mountain (USA 2005, 134 min)
Darsteller: Heath Ledger, Jake Gyllenhaal, Michelle Williams, Anne Hathaway, Randy Quaid, Linda Cardellini, Kate Mara
Musik: Gustavo Santaolalla
Kamera: Rodrigo Pietro
Drehbuch: Larry McMurty & Diana Ossana (nach der Kurzgeschichte von Annie Proulx)
Regie: Ang Lee
Falls du den Film noch nicht gesehen hast und es noch tun willst: Vergiss den ganzen Hype, den du mitgekriegt hast. Lies diese Kritik nicht. Lies keine andere. Lass dir vorher nichts erzählen. Schüttel einfach alles aus deinem Kopf, was du an Vokabeln zu diesem Film schon drin hast (und ich schreibe sie jetzt extra nicht nochmal auf), und dann geh ins Kino. Such dir eine Vorstellung, die nicht zu voll ist, sonst wirst du nach zwei Stunden vor lauter Taschentuchgeschniefe nichts mehr vom Film mitkriegen. Mach’s dir mit deiner Kuscheljacke gemütlich, atme nochmal tief durch, warte darauf, bis das Saallicht langsam verlöscht – und dann genieß unvoreingenommen den ersten Blick auf den majestätischen Brokeback Mountain.
Brokeback Mountain erzählt die Geschichte von Ennis (Heath Ledger) und Jack (Jake Gyllenhaal), zwei jungen Männern, die sich Anfang der 60er Jahre in Wyoming kennenlernen. Jack ist ein Rodeoreiter, Ennis ein Gelegenheitsarbeiter. Beide träumen von einer eigenen Farm, und so verdingen sie sich über die Sommermonate bei einem Schafzüchter, dessen Herde sie in die Berge treiben und bewachen. Aus ihren lakonischen Wortwechseln werden echte Unterhaltungen, und aus Sympathie wird Freundschaft – und eines Nachts eine schnelle, raue sexuelle Eskapade. Am nächsten Morgen brummt der wortkarte Ennis zwar etwas von einem “one time thing”, aber bereits am nächsten Abend liegen sich beide wieder in den Armen, diesmal zärtlicher und bewusster.
Das Gefühl der Irrealität, dem Freisein vor allen Verpflichtungen, hält nicht lange. Der Sommer geht zu Ende, die beiden treiben die Herde wieder ins Tal. Dort trennen sie sich, fast wortlos, ohne große Emotionen. Jack betrachtet Ennis noch im Rückspiegel seines Trucks, als er davonfährt. Und Ennis, der so beherrscht war, der so oft seine Heirat mit Alma erwähnte, der sich den letzten spielerischen Zärtlichkeiten von Jack per Faustschlag entzieht, oben in den Bergen, dieser so rational erscheinende Ennis bricht plötzlich fast zusammen, als Jacks Truck sich entfernt. Er ringt nach Luft, muss sich abstützen, würgt hilflos an seinen eigenen Gefühlen, die er nicht einordnen kann und will. Und da wird dem Zuschauer zum ersten Mal klar, dass die Geschichte der beiden noch lange nicht zu Ende ist. Dass Brokeback Mountain sie noch länger aneinander bindet, aber sie vielleicht nie wieder so glücklich sein werden.
Der Film zeigt die nächsten zwanzig Jahre der beiden, ihre verschiedenen Beziehungen, ihre Ehen, ihre Kinder, ihre Jobs. Und ihre sporadischen Treffen, bei denen sie anfangs die Sorglosigkeit ihres ersten Zusammenseins wiederfinden. Aber nach und nach wird beiden klar, dass ihnen immer etwas fehlen wird. Jack, der Sprunghafte, der Träumer, versucht Ennis, den pflichtbewussten Familienvater, zu überreden, mit ihm zusammen zu leben, was Ennis von Anfang an nicht zulässt, nicht zulassen will. Für ihn ist das, was zwischen Jack und ihm passiert, nicht Liebe, für ihn ist es “the thing that gets hold of us”. Es scheint nicht in seiner Macht zu liegen, aktiv etwas für diese Beziehung zu tun, er fühlt sich als Opfer und sieht dabei gar nicht, was er alles verschenkt, indem er Jack immer wieder gehen lässt.
Regisseur Ang Lee und die Drehbuchautoren Larry McMurty und Diana Ossana haben es geschafft, die kleine, spröde Kurzgeschichte von Annie Proulx zu einem großen Film zu machen, der aber nie überbordend wirkt, nie nach Hollywood aussieht, nie mit vielköpfigem Orchester versucht, auf unsere Tränendrüsen zu drücken. Warum man trotzdem zum Schluss diverse Taschentücher vollheult, liegt an vielem: der weiten Landschaft, die teilweise atemberaubende Panoramen zeigt – im Kontrast zum winzigen Appartement, in dem Ennis und seine Familie leben, oder zum einengenden Verhältnis, das Jack und sein Schwiegervater haben. Den Schauspielern, allen voran Heath Ledger, der die wenigsten Worte hat und doch am meisten sagt. Und natürlich der Geschichte, die von einer einzigartigen, unerfüllten Liebe erzählt, obwohl es möglich wäre, sie zu leben, was es noch schmerzlicher macht, dabei zusehen zu müssen.
Es ist schwierig, Brokeback Mountain zu genießen, wenn man die vielen grandiosen Kritiken und Preisverleihungen im Hinterkopf hat, die Kontroversen, die den Film begleiten, die Parodien, die Witze. Deswegen meine Einleitung zu diesem Eintrag: Vergesst das alles. Ich habe fünf Minuten gebraucht, bis ich selbst dieses Gefühl ausschalten konnte, so komm jetzt, wo ist die Größe, wo ist der Bombast, wo ist das Meisterwerk. Erst dann konnte ich der ganz schlicht erzählten Geschichte folgen, die vielen stimmigen Details genießen, die genauen Dialoge, die Charaktere, die sehr grob skizziert scheinen und die stattdessen so viel erzählen mit so wenigen Mitteln. Als ich aus dem Film kam, habe ich nicht das Gefühl gehabt, einen Film gesehen zu haben, der mich umgehauen hat. Stattdessen war ich sehr ruhig, sehr in mich gekehrt, sehr zurückgenommen. Ich wollte Jack und Ennis nicht so schnell wieder gehen lassen; ich hatte sie doch gerade erst kennengelernt. Ich habe zwei Stunden lang an ihrem Leben teilhaben dürfen, und ich habe etwas mitgenommen. Verständnis. Sehnsucht. Toleranz. Neugier. Schmerz. Liebe. Zärtlichkeit. Wer sagt, dass ein Film mich umhauen muss? Vielleicht ist das Besondere an Brokeback Mountain, dass er sich ganz leise an dich ranschleicht und dir etwas von sich mitgibt. Vielleicht ist er doch das Meisterwerk, auf das ich in den ersten fünf Minuten gewartet habe. Vielleicht ist er auch „nur“ ein wunderschöner Film. Geht selbst rein. Und vergesst bis dahin diese Kritik.