And I don’t care as long as I sing
Die Sinnkrise dauert an, versteckt sich manchmal unter Konfettiwochenenden, Fußballspielen, Opernbesuchen und viel, viel Wein, aber sobald ich einfach mal irgendwo sitze und mich nicht in hektische Aktivität flüchte, ist sie wieder da. Und dann bin ich traurig und weiß nicht warum, und dann bin ich wieder hysterisch glücklich und weiß noch weniger warum. Inzwischen habe ich aber etwas (wieder-)gefunden, von dem ich weiß, dass es mich zufriedenstellt. Und ruhiger macht. Und nur manchmal ein bisschen traurig, aber das wird die Sinnkrise sein, die aus ihrem Versteck lugt.
Nach über sechs Jahren Pause habe ich wieder mit Gesangsunterricht angefangen. (Trololololo.)
Ende 2004 stand ich schon mal bei jemandem am Klavier und sang ein knappes Jahr lang Tonleitern, wanzte mich bis fast an die Tonhöhe der Königin der Nacht ran, lernte ein bisschen atmen (nie so richtig, wie ich zugeben muss) und schwitzte unzählige Shirts durch, denn meine Güte, kann Singen anstrengend sein. Gleichzeitig kann Singen aber unglaublich befreiend sein, und das hatte ich über Buchschreiben, werbetexten, irgendwie über die Runden kommen und mich konstant hinterfragen anscheinend vergessen.
Da mein damaliger Gesangslehrer nicht mehr in Hamburg ist, fragte ich meine schlauen Netzwerke, und neben vielen anderen hatte Isabo einen sehr guten Tipp. Die erste Stunde bei meiner Lehrerin war ein bisschen kieksig und nervös – jedenfalls von meiner Seite, von ihrer aus nicht die Bohne. Ich hoffe bei jedem vergrätzten Ton, dass sie schon viel, viel schlimmere Töne gehört hat und ich irgendwo im oberen Mittelfeld von okayen Tönen liege, werde sie aber nie danach fragen. Auf dem Notenständer landeten die üblichen Musicallieder, die ich so liebe, aber die man natürlich von tausend YouTube-Clips kennt und deswegen erstmal frustig wird, weil es nicht sofort wie Minelli klingt. (Ich kenne da jedenfalls jemanden, der das so geht.)
Das legte sich aber nach zwei, drei, vier Stunden wieder, und vor kurzem hatte ich gerade mal meine sechste Stunde. Und wie schon nach der vierten und fünften kam ich so irgendwie halbgar und nudelmatschig an – und ging zwei Meter groß mit Schultern, die kaum durch die Tür passen und einem Volumen in der Stimme, mit dem ich Fußballstadien niederbrüllen könnte. Und einen Tag später stand ich in der Küche, dem Raum mit den wenigsten Wänden zu den Nachbarn, ließ mir vom Virtual Piano den Anfangston geben und sang Let’s face the music and dance, das zum Schluss so schön hoch geht. Und zum ersten Mal seit Wochen (und gefühlt seit Monaten) löste sich irgendwas hartnäckig Brockiges in mir, und mein Mund ging so weit auf wie noch nie, und meine Schultern drückten sich von alleine nach hinten und ich wurde immer größer und auf einmal war da so viel Raum und Stärke und Freude und Lust, dass ich es selbst kaum glauben konnte. Scheißegal ob ich beim zweigestrichenen E wieder rumkiekste – das Gefühl, was auf einmal wieder da war, war genau das, was ich so verzweifelt gesucht hatte. Das Gefühl, mir selbst genug zu sein. Eine Stimme zu haben. So tief empfinden zu können, dass es dir niemand wegnehmen und dir niemand schaden kann. So stark zu sein, dass du nie untergehen wirst, ganz gleich wieviel auf dich raufgeschmissen wird. Und das Gefühl, alles tragen zu können, weil ich mich selber tragen kann.
Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich wieder laut. Präsent. Kraftvoll. Ohne jeden Zweifel. Ohne mich zu hinterfragen. Ich war einfach da. Jetzt, hier, genau richtig. Und dieses Gefühl kam nicht durch Therapie oder Wegrennen oder Überarbeiten oder diese Kiste Wein da hinten, sondern nur dadurch, dass ich mich fallengelassen habe in eine Melodie, einen Text, ein paar Noten.
Dieses Fallenlassen hat einmal im Unterricht dazu geführt, dass ich mitten im Lied angefangen habe zu heulen, aber auch da hoffe ich, dass meine Lehrerin schon viele flennende Menschen hinter sich stehen gehabt hat. (Würde mich wundern, wenn es nicht so wäre, weil Singen so intim ist.) Wenn man gerade mal wieder am Leben, dem Universum und dem ganzen Rest laboriert, ist so eine Zeile wie „and point me t’ward tomorrow“ nicht unbedingt das Beste, was man singen sollte.
Deswegen singe ich seit Tagen Let’s face the music vor mich hin, notfalls auf dem Agenturklo, wenn die Krise kurz reinschaut, und habe als Bonustrack I just wanna fucking dance im Ohr, an das ich aber noch lange nicht rankomme. (Hier die Bühnenfassung aus der wundervollen Jerry Springer – The Opera und hier die Ntz-Ntz-Version.)
Ich weiß immer noch nicht, warum ich gerade mit allem hadere, denn objektiv ist ja schließlich alles toll. Ich bin gesund, ich hab Freunde, Geld, volle Bücherregale und Kochtöpfe, und wenn ich nicht in Hamburg wohnen würde, schiene auch die Sonne, aber anscheinend reicht das gerade mal wieder nicht. Aber immerhin weiß ich jetzt, wie ich für ein paar Momente Kraft schöpfen kann.
Move over, Sinnkrise. I don’t care as long as I sing.