United 93
United 93 (Flug 93, USA/UK/F 2006, 91 min)
Darsteller: Thomas E. Burnett Jr., Gary Commock, David Allan Basche, Khalid Abdalla, Lewis Alsamari, Omar Berdouni, Jamie Harding
Musik: John Powell
Kamera: Barry Ackroyd
Drehbuch: Paul Greengrass
Regie: Paul Greengrass
Wenn United 93 nur ein Film nach einem erfundenen Drehbuch gewesen wäre, hätte ich ihn wahrscheinlich so lala gefunden. Eine gefühlte Stunde lang sehen wir die üblichen Abflugvorbereitungen, die Telefonate im Warteraum vor dem Einsteigen, das Eindecken mit Zeitungen, das Ignorieren der Stewardessen beim Sicherheitsballett, das Abarbeiten der Checkliste der Piloten. Warum sich das trotzdem nicht langweilig, sondern nervenaufreibend anfühlt, ist natürlich unser Wissen, dass all das diesen Menschen zum allerletzten Mal passieren wird. Jede noch so banale Handlung ist plötzlich etwas ganz Besonderes. Und was United 93 so herzzerreißend statt so lala macht, ist, dass wir das alles wissen, aber die Menschen, deren Schauspieler-Stellvertretern wir zusehen, eben nicht.
Der Film erzählt die Geschichte des Flugs 93 der United Airlines, dem einzigen der vier entführten Flugzeuge am 11. September 2001, das sein Ziel nicht erreicht hat, sondern in Pennsylvania abstürzte. Anhand der Flugdaten und der vielen Telefonate, die von Passagieren geführt wurden, konnte das meiste, was an Bord passierte, nachvollzogen werden. In United 93 wird nicht versucht, die Handlung großartig dramatisch aufzubauschen, was meiner Meinung nach auch gar nicht nötig ist. Was passiert, ist schon dramatisch genug.
Zu Beginn wird hin- und hergeschnitten – von United 93 zu mehreren Kontrollräumen, in denen Fluglotsen den Flugverkehr über den Vereinigten Staaten leiten. Was an diesem 11. September plötzlich nicht mehr so einfach ist. Plötzlich verschwindet eine Maschine der American Airlines. Dann wird auf CNN das World Trade Center eingeblendet, in das anscheinend ein Flugzeug gestürzt ist. United 93 nutzt Bilder, die wir schon viel zu oft gesehen haben, aber sie fühlen sich trotzdem ungesehen an. Vielleicht, weil sich die Perspektive geändert hat. Wir sitzen nicht mehr vor dem Fernseher, sondern befinden uns in einem Tower, aus dessen Fenster wir das qualmende World Trade Center sehen. Und wir sehen die Szene, die ich persönlich am schlimmsten von allen Szenen des 11. September finde, falls es überhaupt so etwas wie eine Hitliste der ekligsten Szenen geben kann. Wir stehen mit den fassungslosen – und noch völlig verständnislosen – Fluglotsen auf dem Tower, als das zweite Flugzeug Kurs auf das Trade Center nimmt, hinter dem Gebäude verschwindet – und nach einer gefühlten Ewigkeit als Feuerball wieder auftaucht.
Der Film schafft es, dass sich die bereits unter „einschneidend“, „Massenbewusstsein“ und „Wo waren Sie, als zwei Flugzeuge blablabla“ abgespeicherten Szenen ganz neu anfühlen, unmittelbar und unglaublich. Ich habe wieder mit der gleichen Fassungslosigkeit im Kino gesessen, mit der ich damals vor dem Fernseher gesessen habe. Nebenbei: damals. Gerade einmal fünf Jahre ist es her, und trotzdem ist das ganze Ereignis schon so verdaut und eingeordnet. Und plötzlich werden die Bilder wieder hervorgeholt und neu zusammengebaut; es sind nicht mehr die Bilder, die jedes Jahr zum Jahrestag wieder in den Nachrichten erscheinen, sondern plötzlich sind es Bilder von den Menschen, die damals nicht ferngesehen haben, sondern sich um etwas kümmern mussten. Zum Beispiel darum, den Präsidenten ans Telefon zu kriegen, um zu fragen, ob man im Notfall Passagiermaschinen abschießen dürfe. Oder darum, was mit den anderen Maschinen passiert, die gerade als potentielle Waffen im amerikanischen Luftraum unterwegs sind.
Der Film widersteht der Versuchung, aus einer wahren Geschichte eine Hollywood-Version zu machen. Es bricht keine Panik in den Kontrollräumen aus, es steigen nicht innerhalb von Sekunden Kampfjets auf, die die Welt retten werden. Die Stimmen der Menschen, die das Kommando haben, werden etwas lauter, aber das war’s auch schon an Dramatik. Jedenfalls am Boden.
In der Luft hingegen beginnt der Film jetzt erst. Die vier Terroristen haben das Cockpit übernommen, die Piloten getötet und halten mit einer angeblichen Bombe die Passagiere in Schach. Diese glauben zunächst an eine „normale“ Entführung, aber sobald die ersten mit ihren Familien oder Freunden telefonieren, wird ihnen klar, dass auch ihre Maschine ein Angriffsziel hat, egal welches. Sehr schnell finden sich Menschen zusammen, die sich soeben noch höflich ignoriert haben, um jetzt einen Mann mit einer Bombe zu überwältigen, ein besetztes Cockpit zu entern und ein Flugzeug davor zu bewahren, in ein Gebäude geflogen zu werden. Auch hier: keine Kintopp-Dramatik, kein großer Soundtrack, keine heroischen Reden. Das schon sprichwörtliche „Let’s roll“ fällt in einem Nebensatz, aber ansonsten bekommen wir mehr von den Menschen mit, die nicht am aktiven Angriff beteiligt sind. Viele rufen ihre Familien an, jemand bittet anscheinend einen Kollegen, seiner Familie auszurichten, dass er sie liebe, Menschen reichen ihre Handys weiter, damit andere telefonieren können. „I love you“ ist der meistgesprochene Satz im Film. Eine Frau erzählt anscheinend einem Anrufbeantworter, wo ihr Testament liegt und wie die Kombination zum Safe im Schlafzimmer lautet. Einige Passagiere beten, die Terroristen genauso. Und ganz plötzlich beginnt wilder Aktionismus, die Terroristen werden angegriffen, die Cockpittür eingetreten, und ein Kampf um den Steuerknüppel beginnt. Aus dem Fenster kommt der Boden immer näher, und dann wird die Leinwand schwarz.
United 93 fühlt sich nicht wie ein filmisches Denkmal an, auch wenn im Abspann eine Würdigung an alle Menschen steht, die an diesem Tag ihr Leben verloren haben. Er ist auch keine Kampfansage oder eine Kinofaust, so nach dem Motto „Denen haben wir’s (wenigstens ein bisschen) gezeigt“. Er ist einfach eine Nacherzählung von dem, was höchstwahrscheinlich passiert ist. Die Dramatik entfaltet sich eher in unseren Köpfen als auf der Leinwand. Der Film stellt Fragen, über die man nach dem Abspann noch nachdenkt: Was wäre gewesen, wenn der Einsatzbefehl zum Abschuss von Passagiermaschinen gegeben worden wäre? Hat es überhaupt etwas geändert, dass United 93 sein Ziel nicht erreicht hat? Macht es einen Unterschied, als „Held“ zu sterben oder als jemand, der anonym und wehrlos in den Trümmern des World Trade Centers oder des Pentagon verbrennt? Wie reagiert man, wenn man ahnt oder sogar weiß, dass man sterben wird? Welche Worte sind deine letzten? Wen würdest du anrufen?
United 93 hat einen von Anfang an im Griff, einfach weil man weiß, wie der Film ausgeht. Dass er sich trotzdem noch viel schlimmer anfühlt als ich es erwartet hatte, kann ich immer noch nicht einordnen. Ich weiß nicht, ob das jetzt gut oder schlecht ist, ob es ein Verdienst des Films ist oder ein Verdienst meiner lebhaften Phantasie. Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich mir den Film überhaupt ansehen wollte; schließlich habe ich die Bilder oft genug gesehen und will sie eigentlich gar nicht mehr sehen. Vielleicht hat das United 93 für mich so gut gemacht: dass man die bekannten Bilder nicht so oft ertragen muss. Sondern stattdessen eine Geschichte erzählt bekommt, die vielleicht nocht schwerer zu ertragen ist, weil auf einmal nicht mehr Flugzeuge und Gebäude die Hauptrolle spielen, sondern Menschen mit Namen, Gesichtern und Familien, denen ihre letzten Worte gelten.