„Neulich, in der U-Bahn. Der Mann, der mir gegenübersaß, packte aus seinem Aktenkoffer eine Tüte mit Wurstsemmeln und begann zu fressen. Er biss riesige Brocken ab, die nicht ganz in sein Maul passten, obgleich es groß war. Wie ein Knebel hing das Zeug über den Lippen, Tomatenscheiben quollen zwischen der Wurst heraus und versauten sein Jackett. Er schnaufte schwer durch die Nase, grunzte, würgte den Brocken hinunter und rülpste. Soße lief ihm am Kinn herab.
Die Mundwinkel der Umsitzenden krümmten sich, dem vollen Abteil war jedes Gespräch vergangen. Nun fing der gar nicht dicke Mensch damit an, kleine Sunkisttüten zu leeren, per Strohhalm. Ohne vorher die Wurstsemmelmasse ganz geschluckt zu haben. Draus resultierte ein Geräusch zwischen dem Suppeschlürfen alter Weiber und der Weinkelter durch nackte Füße. Unruhe breitete sich aus. Mimik unverstellten Ekels. Ich war gespannt, wer das erste Wort werfen würde. Jeder sah ihn unverhohlen an und überlegte sich seine Form des Protests. Faszinierend. Welch ein Schauspiel! Diese aufgeblasenen Backen, aus denen es schmatzte und gluckerte und spritzte. Das hätte Deix nicht so malen können. Der Mann schob sich beidhändig Semmeln rein, als wolle er dran sterben, kaute und würgte, Schweißperlen rannen ihm von der Stirn, Tomatensaft und Butter glänzten auf seinen Fingern. Eine schwangere Frau schien kurz davor, sich übergeben zu müssen, dennoch starrte sie weiter hin, wie hypnotisiert. Das alles hätte die Szene noch nicht bedeutend gemacht. Erst später, während der dritten oder vierten Semmel – als das Räuspern und Murren im Abteil sich langsam artikulierte und Wörter formte wie „Frechheit“, „unglaublich“, oder vornehmer „stillos“, da zwang der Mann seinen gesamten Backeninhalt gewaltsam hinunter, rülpste nochmal und sagte, deutlich und mit einigem Selbstbewusstsein:
„I bin a Sau, damitsas wisst!“
Verlegene Stille.
Auf den Gesichtern der Leute war eine Art beruhigtes Schmunzeln zu erkennen, eine „Ach so!“-Reaktion, als wäre ihnen ein Behindertenausweis oder ein Attest vom Nervenarzt präsentiert worden.
Man muss den Leuten nur sagen, was los ist.
In aller Ruhe fraß der Mann weiter. Tief bewegt verließ ich den Zug.“
Helmut Krausser, Schweine und Elefanten