Newbies entneuen
Vor einiger Zeit lud ich Frau Lu ein, mit mir in die Oper zu gehen. Natürlich in Puccinis Turandot, denn das ist die Oper, mit der ich alle und jeden überzeugen will, dieser Kunstform eine Chance zu geben.
Ich mag an Turandot, dass alles auf der Bühne bzw. im Orchestergraben passiert, was ich persönlich so toll an Opern finde: Bombastklänge, die sich mit ganz zarten Stellen abwechseln. Massive Chöre versus einzelne Arien, wovon die bekannteste natürlich Nessun dorma ist. Und obwohl ich sonst eine Aversion gegen diese Mitsinglieder habe (deswegen mag ich Wagner so gerne) – für Anfänger_innen ist das ganz praktisch, wenigstens ein Stück zu haben, das sie vielleicht schon mal gehört haben. (Behaupte ich mal. Noch hat niemand widersprochen.) Außerdem im Angebot: komische Figuren wie Ping, Pang und Pong versus tragische wie Liù und natürlich eine Story, die viel zu groß ist für das wahre Leben, weswegen sie auf eine Opernbühne gehört. Vom feministischen Standpunkt darf man sich so gut wie keine Oper angucken, daher blende ich die wahlweise kreuzdummen und/oder opferbereiten Frauenfiguren immer aus und konzentriere mich auf ihre Melodien anstatt ihre Texte. Genau wie ich bei Krieg und Frieden nölig überlese, dass auch hier Frauen kleine Hohlbirnen sind, während die Männerwelt das große Drama kriegt. Mein Mantra: Das waren andere Zeiten, da muss ich jetzt durch. Wäre aber trotzdem mal schön, eine moderne Oper mit guten Frauenfiguren zu kriegen.
(Zu diesem Thema gibt’s übrigens ein Buch, das ich aber noch nicht gelesen habe. Wahrscheinlich gibt’s sogar dutzende, aber das hier rennt mir immer über den Weg, wenn ich in diese Richtung rumgoogele.)
Zurück zu Lu und ihrem ersten Opernbesuch. Wenn ich ihren Blogeintrag richtig deute, hat es ihr gefallen, was mich persönlich sehr gefreut hat. Nichts ist schlimmer als jemanden nach zwei, drei Stunden wieder ans Tageslicht zu zerren und zu hören: „Uh, da gehe ich nie wieder hin.“ Sowas hatte ich nämlich auch mal, was ich aber sowohl auf die Starrköpfigkeit meines damaligen Kumpels als auch auf die Stückauswahl zurückführe.
Damals gab es den kompletten Ring in Hannover, und ich bequietsche wieder Hinz und Kunz, doch mal mitzukommen. Heute weiß ich: Wagner mag als Einstiegsdroge funktionieren (meine erste Oper war Siegfried), aber nicht bei jedem. Besagter Kumpel meldete sich todesmutig fürs Rheingold, und ich warnte sofort: „Das ist die sperrigste Oper von den vieren, und es ist eher eine Exposition als ein abgeschlossenes Stück, und eigentlich guckt man das auch nur, weil man die anderen drei eben auch guckt, und außerdem hat es keine Pause, in der man notfalls gehen kann.“ Hat alles nichts genutzt, mein Kumpel kaufte sich eine Karte. Meine Warnungen gingen weiter: „Lies dir den Inhalt durch. Wagner kapiert kein Mensch ohne Sekundärliteratur.“ Damals waren Übertitel noch nicht so gang und gebe, wie sie es heute glücklicherweise sind, weswegen man eben schlicht wissen musste, wer diese seltsamen Wesen da vorne sind und über was sie singen, denn den Text versteht man meist auch nicht. Das weiß man alles, wenn man schon mal in der Oper war, weswegen ich auch nicht müde wurde, es meinem Kumpel zu erzählen, aber er brachte den Krachersatz: „Ich möchte das alles unvoreingenommen auf mich wirken lassen.“
Ich erzählte ihm immerhin vor der Vorstellung noch flugs den Inhalt, den ich mir mal wieder anlesen musste – ich habe den Ring mindestens schon fünfmal komplett gesehen und vergesse trotzdem immer wieder, wer nun mit wem warum und was –, aber nach zweieinhalb Stunden hatte ich ein Häufchen genervtes Elend neben mir, das den zweiten Krachersatz brachte, den ich ihm bis heute übel nehme: „Ich fühle mich wie vergewaltigt.“
UND ICH SAG NOCH, NIMM NE ANDERE OPER, ABER DU …
*seufz*
Ich habe mit dem Mann keinen Kontakt mehr, aber ich bin ziemlich sicher, dass er nicht unbedingt zu einem Opernfan wurde.
Am Sonntag saß ich mit zwei charmanten Damen in der Laeiszhalle, wo die Hamburger Symphoniker neben Auszügen aus Strawinskys Apollon musagète eine Runde Götterdämmerung gaben. Wenn ich richtig zugehört habe, war es die Ouvertüre mit ein bisschen Krimskrams und dann als Rausschmeißer den Schlussgesang der Brünnhilde, die 15 Minuten lang von der Welt Abschied nimmt, die dann auch brav in Flammen aufgeht.
Das Tolle an der Götterdämmerung ist, dass sich in ihr all die vielen Leitmotive wiederfinden, die man drei Opern lang gelernt hat. Das Rheingold, die Rheintöchter, Mime, Siegfried, dessen Schwert Nothung, Wotan, dessen Speer, die Walküren natürlich (das Motiv sollte jeder erkennen), Walhall, der Walkürenfelsen und so weiter und so schön. So hangelt sich das Stück gefühlt an all diesen Motiven entlang, die ich natürlich kannte – und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie sich die Musik für jemanden anfühlt, der nichts davon erkennt (bis auf die Walküren). Ich bin fast ein bisschen neidisch auf die Menschen, die noch nie in der Oper waren, weil sie noch so viel zu entdecken und zu erfühlen haben, was für mich schon fast normal ist. Wenn man sich auf diese überkandidelte, hochemotionale Kunstform einlassen will, belohnt sie meiner Meinung nach mehr als jede Sinfonie. Deswegen war ich sehr auf das Urteil meiner Begleitung gespannt.
Dame 1 meinte, Oper wäre schlicht nicht ihr Ding, Opernstimmen empfände sie als anstrengend (absolut berechtigte Kritik), und daher hätte ihr Strawinsky besser gefallen. Dame 2 dagegen hatte diesen Gesichtsausdruck, den ich auch von mir kenne: dieses leicht fassungslos-faszinierte „Was war das denn? Und wo war das mein ganzes Leben lang?“ Ich behaupte, die Welt ist ein bisschen anders, wenn einen ein Film mitnimmt oder eben eine Oper; man stolpert in die Realität, die sich ein bisschen zu grau anfühlt, während eben alles noch gold war. Und – ja, Fangirlgequatsche – Wagner ist für mich einfach der Meister im „Was war das denn?“-Erzeugen, denn seine Musik ist für mich schlicht einzigartig. Beim ersten Mal wahrscheinlich unbegreifbar, aber deshalb nicht weniger unwiderstehlich. Jedenfalls hat die Dame den bisher besten Satz gesagt, den ich mit Newbies hatte: „Das würde ich mir auch fünf Stunden lang anhören.“
Damit habe ich endlich eine Begleitung für Wagner in Hamburg gefunden. In dieser Spielzeit hätten wir noch den Holländer, Tristan und Isolde, Parsifal und den kompletten Ring im Angebot.