Calling up Betty at 5 in bed
I
Einen guten Cappuccino erkennt man daran, dass es ewig dauert, bis der Zucker im Milchschaum untergeht. Er sollte sich einige Zeit auf der Milchhaube halten, bevor er zu schwer wird und braun gefärbt versinkt. Das Loch, das er in die Haube gerissen hat, sollte sich wieder schließen, damit man das Spiel wiederholen kann, so lange, bis der Löffel im Zuckerschlamm steht. Dann kann man behutsam den Rest des Schaums unterheben. Und dann kann man den Cappuccino trinken, denn nach der ganzen Prozedur hat er genug Zeit gehabt, zur richtigen Temperatur abzukühlen.
Ich beobachte den Milchschaum mit dem Zucker jetzt schon zum dritten Mal. Es ist genauso faszinierend, wie Wasser zuzuschauen, wenn es im Abfluss verschwindet. Oh, merken: Sobald ich in Australien bin, nachgucken, ob das Wasser da wirklich andersrum abfließt.
Zu meiner dritten Tasse Cappuccino brösele ich an meinen Aufbackcroissants rum und überlege, was ich draufschmiere. Ich entscheide mich für Nutella und brösele und zuckere weiter vor mich hin.
Wenn Susann jetzt hier wäre, würde sie sagen, lass den Quatsch. Nimm nicht so viel Zucker. Und Croissant isst man nicht mit Nutella. Sie würde sich aufrecht an den Küchentisch setzen, formvollendet ihren Croissant mit einem Hauch von Butter bestreichen und ihn in kleinen, mundgerechten Häppchen essen, ohne dass ihr Lippenstift verschmiert.
Satt und zufrieden liege ich im Bett und starre an die Decke. Das Bett ist zu groß, aber nicht zu leer. Es ist nur ein Instinkt, antrainiert in jahrelanger Beziehungsarbeit, aber ich lange auf ihre Seite rüber, wie jeden Morgen, als ob sie da wäre und mich ungeschminkt anschauen würde, zweifelnd, wie das Wetter wird, ob der Job vielleicht heute Spaß macht, ob die neue Kollegin dünner ist als sie. Und ich streiche ihr die Haare aus der Stirn, küsse sie und versichere ihr, dass das Wetter klasse wird, der Job heute besser als je zuvor und die neue Kollegin eine blöde Schlampe ist. Und sie wird sich unwirsch wegdrehen und mir sagen, dass es regnen wird, ihr Job sie ankotzt und die neue Kollegin sich nach oben geschlafen hat.
Ich lange auf ihre Seite rüber und schnippse die Krümel meines Nutellacroissants auf den Fußboden.
Das Telefon klingelt. Ich lasse den Anrufbeantworter rangehen und höre mit wohligem Schaudern, wie Susanns Stimme verkündet, dass wir beide nicht da sind.
Es ist Tom.
„Geh schon ran, ich weiß, dass du da bist. Du hast übermorgen Abgabetermin, ich hoffe, du hast es nicht vergessen. An dem Auftrag hängt ne Menge. Steh endlich auf, du Irrer, und geh an das verdammte Telefon.“
Tom pöbelt noch ein wenig weiter, in der Hoffnung, mich mit Beschimpfungen zu motivieren. Das hat schon im Büro nicht geklappt. Und jetzt funktioniert es auch nicht. Im Geiste übersetze ich alle seine Flüche ins Englische, nur so als Training. Vielleicht muss man auch in Australien mal jemanden beschimpfen.
Susann ist immer gerne nach Frankreich gefahren. Einfach so an der Atlantikküste spazierengehen, Parfüm aus Grasse mitbringen und natürlich ein Foto vom Eiffelturm runter. Wir waren ganz oben auf der dritten Plattform. Mein Französisch ist mies, ich mag keine Schnecken und ich trinke lieber Bier als Rotwein. Aber das sind natürlich nur Klischees, wurde ich jedesmal vor der Abfahrt belehrt. Und jedesmal musste ich mich in Paris wie ein Idiot fühlen, wenn ich es wagte, zum Essen une bière zu bestellen.
Unser letzter Urlaub ist noch gar nicht so lange her. Kurz vor Susanns Auszug haben wir ein romantisches Wochenende in Paris gebucht. Was als Versöhnungsversuch gedacht war, endete in einem wüsten Streit auf dem Père-Lachaise, weil ich Bourbon auf Jim Morrisons Grab kippen wollte, was Susann unglaublich peinlich war. Sie rauschte davon, nahm den Lageplan mit und ich könne ja sehen, ob ich mich auch ohne sie zurechtfinden würde. Ich trabte also los, entschlossen, meinen Bourbon über einem Promi-Grab auszuschütten, rannte kopflos in irgendwelche Richtungen, unterschätzte völlig die Ausmaße dieses Friedhofs und blieb schließlich keuchend, teils aus Anstrengung, teils aus Wut, vor einem Grab stehen. Da ich den Inhaber nicht kannte, köpfte ich die Flasche Bourbon und nahm einen tiefen Schluck. Durch den Boden der Flasche entdeckte ich eine Rucksacktouristin, die in einem Lageplan blätterte. Ich ging auf sie zu und fragte in mühsamem Französisch, ob sie mir helfen könne, den Ausgang zu finden, damit ich meine blöde Freundin einholen kann, die hoffentlich nicht gerade das Hotelzimmer leer räumt und mich alleine ohne Pass auf einem Friedhof zurücklässt.
Betty guckte mich freundlich, aber völlig verständnislos an und zwitscherte: “Do you speak English?”
II
Was auch immer Susann den Rest des Tages in Paris gemacht hat, ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, gefragt zu haben, damit sie aufhörte, dieses nervige Schmollgesicht zu ziehen. Aber sobald sie anfing zu erzählen, hörte ich nicht mehr zu, sondern sammelte die Hotel-Handtücher aus dem Badezimmer ein und stopfte sie in meinen Koffer.
Betty und ich sind den ganzen Tag von einem Museum ins nächste gerannt, weil sie unbedingt die Seerosen von Monet sehen wollte. Ich folgte ihr auf dem Fuß und hörte mir ihre Lebensgeschichte an, die ungefähr genauso banal klang wie meine. Aber bei jedem Punkt, der einen ihrer Sätze beendete, wurde ihre Stimme geheimnisvoll tiefer, so dass ich es kaum erwarten konnte, den nächsten Satz zu hören. Und bei jeder Pause, die sie machen musste, wenn sie auf dem Metro-Plan das nächste Museum suchte, kräuselte sie ihre Stirn, so dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht mit der Hand darüber zu fahren, um die Linien wegzuwischen. Und bei jeder Anekdote sprühten ihre Augen kleine Funken, die in meine Richtung flogen und als Feuerwerk bei mir ankamen.
Nach den Seerosen saßen wir vor dem Museum und guckten in den Himmel. Betty drehte für uns beide Zigaretten. Ich sah ihr dabei zu, wie sie die Tabakportion gleichmäßig verteilte und glattstrich, das Papier zu einer Röhre drehte und beide Klebseiten anleckte. Das sei das Geheimnis, sagte sie und schob die Papierhälften zu einer perfekten Zigarette zusammen. Sie entzündete sie, nahm einen Zug und blies einen Rauchkringel in die Luft, der sich erst nach einer Ewigkeit auflöste. Wir gingen in ein Café, wo ich ihr erklärte, woran man einen guten Cappuccino erkennt. Sie drehte mir Zigaretten, während ich den Zucker in ihre Tasse rieseln ließ.
III
Tom hat aufgehört, auf meinen – meinen! – Anrufbeantworter zu bellen. Ich rolle mich aus dem Bett und lösche das Band.
Wenn Tom die Zeichnungen haben will, muss er sie schon selber machen. Oder in meine Wohnung einbrechen und kriminell werden. Davor will ich ihn bewahren. Ich beginne, auf dem Fußboden herumzurollen. Das Zimmer dreht sich um mich. Die Wandfarben ändern sich. Der Boden unter mir wird kalt. Ich bin in der Küche angekommen. Ich erhebe mich und wühle nach meinen Zigaretten. Ich zünde mir eine an und gehe ins Schlafzimmer zurück, wo unter dem Bett die fertigen Zeichnungen liegen. Ich halte das Feuerzeug an das Papier und beobachte, wie meine Grundrisse in Flammen aufgehen. Die Asche fliegt im Zimmer umher. Ich trete die schwarzen Flecken in den Teppich und warte auf verbale Gegenwehr, von irgendwo her in der Wohnung. Es bleibt still, und ich lächele.
Tom haben meine Entwürfe immer gefallen. Er findet sie realistisch und doch kreativ, wie aus dem Lehrbuch und doch neu. Wir kennen uns seit der Schule. Er hat studiert, ich nicht. Er hat geheiratet, ich nicht. Er hat eine Firma, ich nicht. Er zahlt mein Gehalt. Jetzt nicht mehr.
Ich habe Tom von Betty erzählt. Von ihren Funken, ihren perfekten Rauchkringeln und dass sie eine gute Cappuccino-Trinkerin geworden ist. An einem Nachmittag. Ich habe dafür Jahre gebraucht.
Tom sagt, dass Australien ein blödes Land ist, weil da Weihnachten im Sommer ist. Und ich kann ja nicht mal Hunde leiden, wie will ich es da erst mit Kängurus aushalten.
Bis dahin konnte ich ihm folgen. Dann allerdings sagte er, ob Susann es schon weiß und dass ich bei ihm eine Kündigungsfrist einzuhalten habe. Ab da habe ich nicht mehr zugehört.
Tom habe ich zum letzten Mal vor einem Monat gesehen. Susann und ich waren zum Abendessen bei ihm und Tina eingeladen. Es fühlte sich an wie immer, und ich vermisste wie immer die Hintergrundmusik, um die Fernsehserie perfekt zu machen. Vor meinem geistigen Auge lief der Vorspann, als Tina die Suppe servierte, und ich wartete auf die Werbepause, um aufs Klo gehen zu können. Tina und Susann tauschten wie immer die Rezepte für die vier Gänge aus, während Tom über Zigarren fachsimpelte und ich da saß und den dankbaren Zuhörer gab.
Als Tina das Dessert servieren wollte, musste sie eine Markierung auf dem Boden des Studios übersehen haben, denn sie stolperte, und die wunderschöne Mousse au Chocolat ergoss sich über den Tisch, Susann und Tom. Drehbuchgerecht erstarrten die drei, während ich lauthals loslachte und anfing zu klatschen.
IV
Ich rolle wieder ins Bett zurück und lande auf der Fernbedienung. Die Stereoanlage springt an und spielt traurige Musik. Ich kann gar nicht sagen, ob Susann traurig war, als ich ihr sagte, dass ich sie verlassen wollte. Es war auf dem Rückweg von Tom und Tina; sie saß am Steuer und ich drehte am Autoradio rum, um die richtige Musik zu finden. Schließlich schaltete ich es aus und sagte es ihr. Sie fuhr einfach weiter und guckte starr auf die Straße. Ihre Handknöchel waren weiß und ihre Adern puckerten unter der Haut, aber sie weinte nicht. Das Kostüm war ganz neu.
Als wir zu Hause waren, fing sie an, die Sache auszudiskutieren. Während ich einfach nur da saß, zerpflückte sie unsere Jahre und Nächte und Träume, bis nur noch Teile da waren, die nicht zusammen passten. Sie fing an, hektisch Sachen in einen Koffer zu werfen, der von Paris noch nicht mal ganz ausgepackt war, und versuchte, die Teile wieder zusammenzufügen. Sie redete über unsere gemeinsamen Ziele und Pläne und die Wohnung und mein Leben, während ich daran dachte, dass Betty immer Zigaretten für mich drehen und ich immer ihren Cappuccino umrühren würde.
V
Seit Tagen versuchen mich Susann und Tom anzurufen. Ich liege im Bett und warte darauf, dass mein Reisepass fertig wird. Ich höre gerne ihren wichtigen Nachrichten zu, rolle zum Telefon und lösche sie sofort. Und wenn ich nicht gerade Croissants esse oder Unterlagen verbrenne, nehme ich das Telefon mit ins Bett und rufe in Australien an. Meistens ist es fünf Uhr. Entweder bei mir oder bei ihr.