Ani, „Königin“

„Nicht weit vom Supermarkt entfernt, vor dem Clara Buchner ihren Exgeliebten gesehen hatte, gab es am Hochufer der Isar einen Kiosk. Dort verkehrten überwiegend Leute, die zu den Millionen im Land zählten, denen es egal war, unter welcher Regierung sie keine Arbeit bekamen. (…) Viele der Männer, die an diesem frühen Nachmittag in der milden Sonne an einem der runden Stehtische Bier tranken, hausten unter der nahen Wittelsbacher Brücke. Ich stellte mich zu ihnen, zeigte ihnen meinen Auweis und das Foto des toten Franz Grosso. Es war ein Versuch. Vielleicht war Grosso nicht zufällig vor dem Supermarkt in der Nähe aufgetaucht, heruntergerissen, betrunken.

„Kenn ich nicht“, sagte einer der Männer. Die anderen betrachteten ebenfalls das Bild und gaben es mir dann zurück. Ich zeigte ihnen das Foto von Soraya.
„Sieht stark aus, die Dame. Oder ist das eine Exdame?“, fragte einer.
Ich fragte: „Was ist eine Exdame?“
„Eine weibliche Leiche.“
„Das wissen wir nicht“, sagte ich. „Sie ist seit zehn Jahren verschwunden.“
„Das verspricht nichts Gutes“, sagte ein Mann, der neu hinzukam, eine Bierflasche in der Hand und eine Pudelmütze auf dem Kopf.
„Das stimmt“, sagte ich. Ich zeigte dem neuen Gast Grossos Bild. Er stutzte sofort.
„Ja?“, sagte ich.
„Franz, oder?“, sagte er.
„Ganz genau“, sagte ich.
Die anderen beugten sich noch einmal über das Foto. Ich zog meinen kleinen Block und den Kugelschreiber aus der Tasche.
„Wie heißen Sie?“, fragte ich.
„Josef Eberhartinger“, sagte der Mann. „Wohnhaft Gravelottestraße vier, Haidhausen.“
„Kenn ich“, sagte ich. „Da war ich früher oft, in einem Weinlokal.“
„Beim Friedl!“
„Beim Friedl“, sagte ich.
„Der ist schon lang weg“, sagte Eberhartinger. „Haidhausen ist schick geworden.“
„Ganz München ist schick geworden“, sagte einer aus der Runde.
„Das ist jetzt auch eine Übertreibung“, sagte ein anderer.
„Hör doch auf, München ist schön“, sagte ein Dritter.
„Wenn du besoffen bist, ist jede Stadt schön“, sagte ein Vierter.
„Totaler Unsinn“, sagte ein Fünfter. „Warst du schon mal in Hannover besoffen? Ich schon. Da ändert sich nichts. Die Stadt ist so was von grausam, so viel kannst du gar nicht saufen, dass du das nicht mehr siehst.“
„Hannover!“, sagte der Vierte.
„Warst du mal da? Warst du mal da?“
„Was soll ich denn in Hannover? Ich war ja noch nicht mal am Hasenbergl.“
„Ja und?“
„Was, ja und?“
„Was hat das mit Hannover zu tun, dass du noch nie am Hasenbergl warst?“
„Was ist?“
„Woher kennen Sie den Franz?“, fragte ich Josef Eberhartinger. Wegen der steigenden Lautstärke stellte ich mich näher zu ihm. Die anderen gerieten in einen Diskurs darüber, ob Hanover überhaupt erwähnenswert sei oder nicht und ob man am Hasenbergl gewesen sein müsse oder nicht und ob München überall schick geworden sei oder bloß in Haidhausen, Schwabing, Neuhausen und im Glockenbachviertel und ob der Oberbürgermeister daran schuld sei oder die CSU, wobei die CSU, wenn ich einen der aufgebrachten Diskutanten richtig verstand, niemals an etwas Schuld sein könne, da sie die Regierung stelle und also höchstens gelegentlich mal einen Fehler mache und sonst nichts.
„Aus’m Wirtshaus“, sagte Josef. Zu der Pudelmütze trug er einen zerschlissenen Mantel und Bergschuhe. „Da und dort, verstehst?“
„Ja“, sagte ich.
„Ja“, sagte er auch.
Er trank die Flasche aus und schaute sie an wie etwas Wesentliches.
„Ich lad Sie ein“, sagte ich.
„Überhaupt nicht“, sagte Josef. „Ich lad Sie ein. Schon ein Bier, oder?“
„Unbedingt.“
Er holte zwei neue Flaschen. Wir stießen an.
„Augustiner“, sagte Josef. „In meine Leber kommt mir kein anderes Bier.“
„Sehr gut“, sagte ich.
„Es gibt Leute, die saufen Löwenbräu sogar aus der Dose“, sagte Josef. „Da ist eine Barbarei.“
„Unmöglich“, sagte ich. „Die Frau auf dem Foto kennen Sie aber nicht.“
„Nie gesehen“, sagte Josef. Er trank, kratzte sich unter der Mütze, betrachtete die Fotos, die auf dem Stehtisch lagen, trank wieder und schüttelte den Kopf. „Da war eine Frau …“, sagte er und zog den Mund in die Breite. Zum Vorschein kamen Exzähne. „Der hat eine Frau gehabt … so eine, die war … die war aufgetakelt, die war … Ich komm nicht mehr drauf …“
„Die auf dem Foto?“, fragte ich.
„Möglich“, sagte er. „Magst noch eins?“
„Ich hab noch.“
Josef brachte die leere Flasche zum Kiosk zurück. Nachdem er zwei weitere Flaschen lang in seiner Erinnerung gekramt hatte, gab er auf. „Der Franz … mehr kann ich dir nicht sagen. Krieg ich eine Belohnung, weil ich den identifiziert hab?“
„Ich spendiere dir ein Bier“, sagte ich.
„Ich schwör’s dir“, sagte Josef. „Die saufen das Löwenbräu sogar aus der Dose, Freunde von mir. Da wend ich mich ab, da schau ich gar nicht hin, Löwenbräubier aus der Dose, das ist was für Sechzigerfans, aber nicht für uns Bayern.“
„Unbedingt“, sagte ich.
Nach einer halben Stunde tauchte Martin auf. Im Computer hatte er keinen Eintrag über einen Franz Grosso gefunden, keine Straftaten, keine Adresse.
„In der Gravelottestraße“, sagte Martin, „da waren wir doch früher in so einem Weinlokal.“ Ich hatte ihm Josef vorgestellt.
„Beim Friedl“, sagte ich.
„Beim Friedl!“, sagte Martin.
„Beim Friedl“, sagte Josef auch.
„Möge es nützen“, sagte Martin und hob seine Flasche, genau wie Josef.“

Friedrich Ani, Süden und das Geheimnis der Königin

Ich mag diese Sprache so sehr. Das „Ex“, die Wiederaufnahme von Dingen, die Nichtnutzung von „meinte“, „fuhr fort“, „erwiderte“ und ähnlichem. Den Trinkspruch „Möge es nützen“. Und natürlich Augustiner und die Bayern, aber das hat nichts mit der Sprache zu tun.