Alles auf Anfang
Ich sitze in jedem Kurs und habe riesengroße Augen und Ohren. Ich sehe Bilder, die ich schon kenne und Bilder, die ich noch nie gesehen habe. Ich höre bekannte und unbekannte Namen von Komponisten, Malern, Bauwerken, Kunstepochen, Musikstilen; in einer Vorlesung („Einführung in die Kunstgeschichte, Teil 1: 500 bis 1500“) stehen auf jeder Powerpointfolie gefühlt fünf Begriffe aus der Architektur, von denen ich höchstens zwei kenne und einen erklären könnte.
Aus der Semesterübersicht des Kurses „Die Anfänge der Porträtmalerei im 14. und 15. Jahrhundert“ leuchten mir Malernamen entgegen, mit denen ich mich beschäftigen darf, mit ihnen und ihren Werken, und ich lerne, wie sich das Porträt entwickelt, ich lerne über Stiftungen und die Vermenschlichung des Göttlichen und die Idealisierung. Ich lerne die „Musikgeschichte von 1700 bis 1830“, aus der, laut Dozent, gut die Hälfte aller Werke stammt, die wir aus Opernhäusern und Konzertsälen kennen, ich höre, dass die Bach-Werke neu chronologisiert wurden und dass deshalb das Barock nur noch bis 1720 geht und nicht mehr bis 1750 und dass Klassik ein Ideal zwischen Form und Ausdruck sei.
Ich sitze mit 130 Menschen in einem Hörsaal und plötzlich erklingt Scarlatti. Ich sitze direkt danach mit 20 Menschen in der dazugehörigen Übung und plötzlich erklingt Corelli. Der Dozent erklärt die drei Teile einer Ouvertüre, indem er sie einfach vorsingt. Ich erfahre, dass die italienische Ouvertüre eine andere Struktur hat als die französische, ich höre Begriffe wie Concerto Grosso und Grand Opéra. Ich lerne, dass Musik nicht dazu da ist, die Gefühle des Komponisten auszudrücken, aber ich lerne nicht, wozu sie sonst da ist. Ich ahne, dass das mein Job in den nächsten drei Jahren sein wird, es herauszufinden.
In der Kunstgeschichte-Einführung weiß ich zunächst gar nicht, wie mir geschieht, als ich plötzlich die Pfalzkapelle in Aachen erklärt bekomme, mir fehlt die Einordnung, mir fehlt der Plan, mir fehlt ja immer ein Plan, ich muss immer wissen, wo der Anfang und das Ende sind, aber das ist jetzt egal, jetzt versuche ich die Anlage einer Kirche zu begreifen und wie eine Säule sich zusammensetzt und warum diese Kirche als Sinnbild für die karolingische Renaissance gilt und was überhaupt die karolingische Renaissance ist. In der Übung zur Vorlesung lernen wir die ersten Grundbegriffe, wie man sich einem Bild nähert, welche Fragen man stellen kann, um es zu verstehen. Auf der Folie erscheinen die Sonnenblumen, die alle erkennen, und der Mann mit dem Goldhelm, zu dem die Dozentin meint, dafür seien wir wohl noch zu jung, der sei mal bekannt gewesen, weil alle dachten, es sei ein Rembrandt. Ich fühle mich alt, aber der Tag war auch lang.
In der Vorlesung „Die Skulpturen der Romanik“ höre ich wieder etwas von Säulen und den Karolingern, zwei Stunden später bei den „Klaviertrios von Beethoven“ diskutieren wir über den Begriff der Klassik, und nach lausigen drei Tagen ist der Effekt da, den ich erreichen wollte mit der Einschreibung und dem Studium: dass sich Dinge verbinden. Dass ich Dinge verstehe, dass ich sie einordnen kann, dass ich einen Plan erkenne, denn ich brauche ja immer einen Plan, ich brauche den Anfang und das Ende. Das hier ist ein Anfang, und er fühlt sich so an wie sich ein Anfang anfühlen sollte. Aufregend. Begeisternd. Erfüllend. Neugier weckend. Ich gehe in jeden Kurs und weiß nicht, was auf mich zukommt, und ich komme aus ihm heraus und weiß es noch weniger. Aber ich habe ein winziges Puzzlestück in den Händen, und das werde ich nicht wieder loslassen.
Die Säle sind voll, teilweise übervoll, nur ein Kurs ist viel zu leer, für die Beethoventrios interessieren sich außer mir nur noch fünf weitere Frauen. Ich kann mich nicht verstecken hinter den ganzen Mädchen mit Musikabi oder Kunstleistungskurs, ich muss zugeben, keine Ahnung von irgendetwas zu haben, aber das ist seltsamerweise nicht schlimm. Der Dozent meint, er beneide mich darum, diese Trios noch entdecken zu dürfen.
Als Texterin finde ich es fürchterlich, keine Ahnung zu haben, ich ergoogle mir alles, ich gehe vorbereitet in Meetings, ich mache den Job lange genug, ich weiß, was mich erwartet. Hier weiß ich nichts, und es fühlt sich großartig an. Ich warte darauf, dass mir jemand meinen Kopf vollstopft und mein Herz übergehen lässt, und ich verlasse mit hunderten Menschen den Hörsaal, gehe durch die alten, hohen Gänge, die breiten Treppen nach unten zur Ludwigstraße, schaue, höre, fühle, lasse mich treiben und trage ein inniges Lächeln mit mir herum. Und ich hoffe, dass es bleiben wird.