Dresden, Teil 2
Freitag, 29. Dezember
Freitag morgen, halb zehn, Zonenfeeling pur: Ich stehe in der 40 Meter langen Schlange vor dem Grünen Gewölbe. Einige Menschen versuchen, überschüssige Karten loszuwerden, leider meist im Zweierpack. Aber meine Stunde schlägt um viertel nach zehn, als ich noch gute fünf Meter vom Eingang entfernt bin und schon im Kopf überschlage, bis wann ich heute überhaupt Zeit habe. Denn die Eintrittskarten sind auf ein Zeitfenster von 15 Minuten genau ausgestellt; so wird sichergestellt, dass nur eine bestimmte Anzahl von Besuchern im Gewölbe ist. Ich hatte mich seelisch schon auf 14 Uhr, wenn überhaupt, eingerichtet, denn um 17 Uhr beginnt die Oper, als ein Pärchen die Schlange entlangging und eine einzelne Karte anbot, und zwar großartigerweise für den Einlass um 11. Meine!
Die verbleibende Zeit bis viertel vor 11 (rechtzeitig da sein, weil Garderobe abgeben) vertreibe ich mir im Zwinger, den ich gestern ja nur bei Dämmerung gesehen habe. Um 10.45 Uhr stehe ich wieder am Eingang, werde zur Garderobe begleitet, gebe alles ab und stelle mich wieder in eine Schlange, nämlich die im Vorgewölbe, das zum eigentlichen Grünen Gewölbe führt. Die Schlange ist aber deutlich kürzer. Am Eingang bekommt man einen Audioguide in die Hand gedrückt, denn an den Exponaten im Gewölbe gibt es keine Erklärungen. Was ich kurz bedauere, denn ich lese lieber als mich zutexten zu lassen, aber natürlich soll der Charakter der Räume nicht durch Schrifttafeln beeinträchtigt werden.
Um kurz vor 11 gehe ich in eine Schleuse, deren Türen sich hinter mir schließen. Drei Sekunden passiert nichts, dann geht die Tür vor mir auf, und ich stehe im ersten der insgesamt neun (?) Zimmer des Gewölbes. Das Bernsteinzimmer, gefolgt vom Elfenbeinzimmer (ich taufe es Elefantenfriedhof), gefolgt vom … schon wieder vergessen. Ich bin viel zu beschäftigt mit Gucken und Staunen. Jedes Zimmer hat seinen ganz eigenen Charakter. Die Wandfarben ändern sich, der Fußboden, mal hängen Bilder in den breiten Fensterbögen, mal nicht. Allen Zimmern gemein ist die barocke Präsentation der einzelnen Stücke. Lauter kleine „Regalbrettchen“ bedecken die Fläche bis zur Decke, und auf jedem Brett steht ein Exponat. Die Wände sind unterteilt, so dass jede Fläche eine eigene Anordnung hat. Neben Bernstein und Elfenbein gibt es vergoldetes Silber, Kristalle, Bronzestatuen, Rubinglas, Straußeneier, die zu Trinkgefäßen wurden – und irgendwann kommt das Juwelenzimmer, von dem ich wirklich gerne wissen würde, was dort an Werten rumliegt. In einzelnen Virtrinen an den Wänden liegen Schmuckstücke auf blauer Seide, Spazierstöcke, Degen und weitere Gegenstände mit Diamanten, Rubinen, Smaragden, Saphiren und anderen Edelsteinen. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hingucken soll. Ich komme mir vor wie in einem Pharaonengrab. Die Wände sind tiefrot, die Decken mit kiloweise Gold verziert. Schon das Porzellan gestern hat mir einen kleinen Eindruck vom Reichtum des sächsischen Königshauses vermittelt, aber was hier rumsteht, kann ich kaum fassen.
Der Audioguide bemüht sich, mich in Stimmung zu kriegen, scheitert aber. Die Texte hören sich eindeutig „geschrieben“ an; also so, als ob jemand einen schönen Aufsatz verfasst, aber vergisst, dass dieser Aufsatz vorgelesen werden muss. Es gibt zu jedem Zimmer eine Erläuterung, die ich mir anhöre, und zu ausgewählten Exponaten noch mehr, was ich anfangs auch angewählt, dann aber gelassen habe. Ich fühle mich komischerweise gehetzt, jemand anders gibt mir seine Geschwindigkeit vor, in der ich die Räume und die Exponate auf mich wirken lassen soll. Ich schleppe den Audioguide nur noch mit mir rum und gehe nochmal in meinem eigenen Tempo ohne Stimme im Kopf durch die Räume. Viel besser. Viel ruhiger. Viel beeindruckender.
So sehr die künstliche Verknappung der Karten und der Audioguide nerven, so gut sind sie auch: Die Zimmer sind nicht überfüllt, man kann in Ruhe durch die Gegend gucken, und man kann alles sehen, weil nicht 80 Leute vor einem an der Vitrine stehen. Und weil alle den Guide am Ohr haben, ist es sehr ruhig.
Um zehn vor zwölf bin ich schon wieder draußen. Die Schlange vor dem Eingang ist verschwunden, ich nehme an, dass alle Tageskarten um kurz nach 10 schon weg waren. Schwein gehabt. Aber die Orgelandacht um 12 in der Frauenkirche wird ganz schön knapp … ich gehe zur Kirche und überlege schon mal, was ich stattdessen mache: die Rembrandt-Ausstellung im Zwinger? Die Semperoper besichtigen? Mir war nicht klar, dass auch zu Aufführungszeiten Touren gegeben werden, sonst hätte das natürlich auf meiner Liste gestanden. Ich habe das betreffende Schild aber erst gesehen, als ich eben, vor dem Grünen Gewölbe, an der Oper vorbeikam und mal wieder eine Warteschlange gesehen habe. Fast hoffe ich, nicht in die Kirche zu kommen, um mir die Oper anschauen zu können, aber: Ich bin fünf vor 12 an der Kirche und darf noch rein. Sämtliche Bänke im Kirchenschiff sind vollgepackt, auch an der Seite scheint kein Platz mehr frei zu sein. Ich gehe trotzdem mal um das runde Kirchenschiff herum und sehe in der dritten Reihe außen einen freien Platz. Wieder mal: meiner!
Als ich sitze, beginnen schon die Glocken zu läuten. Ich kann mich nur kurz umschauen, wo ich überhaupt bin. Die Kirche ist vollständig in vier Pastelltönen ausgemalt. Die Bedeutungen erfahre ich nach der kurzen Andacht, als der Küster (?) von der Kanzel herab 20 Minuten Wissenswertes über die Kirche erzählt. Wie ein Diavortrag ohne Dias. Die Farben sind gelb wie das Licht, rot wie die Liebe, grün wie die Hoffnung und blau wie der Himmel und der Glaube. Am Altar, im Altarraum und von da bis unter die Decke, wo die Orgel in gefühlten 30 Meter Höhe thront, blitzt eine Menge Gold. Ich kann mich nicht entscheiden, ob es mir gefällt oder nicht. Zu wissen, die Kirche sah vor 300 Jahren so aus, ist eine Sache. Zu wissen, dass sie aber nur eine blöde „Kopie“ ist und die letzten Malerarbeiten gerade mal zwei Jahre her sind, eine andere. Warum baut man eine Kirche in einem Stil auf, der – Entschuldigung – fürchterlich überholt ist? Warum errichtet man nicht stattdessen nur die Außenmauern, wenn man sie denn unbedingt wieder aufbauen will, und gestaltet dann den Innenraum so, wie man heute eine Kirche ausstatten würde? Hm.
Die Orgel beginnt zu spielen. Der Klang erfüllt den hohen Raum, ich bin wie immer ergriffen (verdammte christliche Konditionierung – Orgelmusik klappt bei mir auf Knopfdruck), und auf einmal finde ich die Kirche ganz wunderschön. Die Andacht ist kurz und geht im Prinzip um „Nobody’s perfect“. Der Pastor erzählt die Geschichte von Einstein, der im Himmel einen Wunsch erfüllt bekommen soll, um seine Verdienste für die Wissenschaft zu belohnen. Daraufhin erbittet er von Gott die Weltformel. Gott beginnt, eine sehr lange und umständliche Formel aufzusagen. Einstein hört zunächst zu, überlegt dann, wird immer unruhiger und unterbricht Gott schließlich: „Moment, Moment, das kann nicht stimmen. Die Formel ist doch voller Fehler!” Worauf Gott nur lächelt und sagt: „Ich weiß.“
Im Innenraum der Kirche steht das alte Dachkreuz, das beim Wiederaufbau unter den Steinmassen gefunden wurde. Es ist verbogen, aber noch in einem Stück. Jetzt dient als es Mahnmal. Auf der Kuppel der neuen Frauenkirche sitzt ein neues Kreuz, das vom britischen Volk gestiftet wurde.
Ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob mir die Kirche gefällt oder nicht. In Hamburg steht an der Willy-Brandt-Straße auch eine Kirchenruine, die ich in ihrer offensichtlichen Verwundung viel beeindruckender finde als einen neuen, auf alt getrimmten Prachtbau. Die Gedächtniskirche in Berlin zeigt ebenfalls einen meiner Meinung nach sinnvolleren Weg auf, mit Kriegsruinen umzugehen.
Gleichzeitig finde ich es aber schön, dass es so viele Menschen gab, die Geld gestiftet haben, um ein Wahrzeichen von Dresden wieder aufzubauen. Im Kirchenschiff trägt jeder Sitz, so weit ich sehen konnte, eine kleine Tafel, auf der die Spendernamen stehen. Ich habe auf dem Platz von Fridel und Hilde Steyer gesessen.
Nach der Andacht war es 1 Uhr – keine Zeit mehr für eine weitere Besichtigung, denn auf eine Oper bereite ich mich anders vor als auf einen Kinobesuch. Entspannt im Hotel ausgehfein machen, das Libretto nochmal überfliegen, mein Lieblingsbuch zu Wagners Opern konsultieren, vielleicht nochmal ein bisschen Musik aus dem iPod, um mich einzustimmen. Und natürlich möchte ich nicht erst auf den letzten Drücker im Opernhaus sein, sondern stattdessen vor der Aufführung noch ein wenig durchs Gebäude schlendern.
Die Aufführung von Tristan und Isolde (mit einer meiner Lieblingssängerinnen, Waltraud Meier, als Isolde) beginnt um 17 Uhr. Um 16 Uhr bin ich frisch geduscht und im Bayreuth-Outfit vor der Semperoper. Jetzt, im Abendlicht und effektvoll beleuchtet, sieht sie schon ein bisschen eindrucksvoller aus als tagsüber. Auf dem Platz vor der Oper stehen allen Ernstes Radeberger-Trucks. Die Jungs von der Brauerei nutzen ja bekanntlich die Oper für ihre Werbung. Warum auch immer.
Das Innere ist ziemlich verwinkelt. Und wie immer in Opernhäusern ist es viel zu warm. Ich gucke mir in aller Ruhe den hohen Saal an, klettere aber nicht in die vier Ränge, bestaune die riesigen Leuchter (und freue mich, nicht direkt darunter zu sitzen), spaziere in Richtung Orchestergraben und – muss feststellen, dass die Lampen am Rande des Parketts verdammt tief hängen. Aua.
Um kurz vor 5 kommen schließlich die Menschen, die in der Mitte der Reihe sitzen (das muss, glaube ich, so sein), und es geht los. Wunderschöne Overtüre. Ich bin so entspannt wie nach einem Schaumbad, als sich der Vorhang öffnet – und ich mich geistig von dieser Aufführung verabschiede. Das Bühnenbild ist ein Kubus mit sich öffnenden Rückwänden. Als Tristan und Isolde sich im ersten Akt zum ersten Mal ansingen, schließen sich die beiden Wände zu Publikum hin mit transparenten Vorhängen, auf die in lustigen Regenbogenfarben sinnlose Muster projiziert werden. Die Kostüme sind aus der Ecke „Geht immer, tut nicht weh, kann ich jetzt fernsehen anstatt mir über Kostüme Gedanken machen zu müssen“: wallende Gewänder für die Mädels, römische Feldherrenausstattung mit Sixpack-Brustpanzer für die übergewichtigen Herren. Nen Speer gibt’t auch, genau wie die fies überzogenen, „dramatischen“ Gesten. Also alles, was ich bei Wagner seit den 80er Jahren sehe und einfach nicht mehr sehen will. Ich habe nach zehn Minuten schon schlechte Laune, die auch nicht dadurch verbessert wird, dass Frau Meier wirklich gut singt und auch der Tristan seine Sache sehr schön macht. Brangäne fand ich völlig farblos, und der finnische Sänger des Kurwenal konnte seinen Akzent leider nicht ganz abstellen. Ich ringe etwas mit mir („Die Karte war doch so teuer“ – „Aber die Aufführung ist so scheiße“), verlasse aber trotzdem nach dem ersten Akt, der sich so lang anfühlte wie sonst alle drei, die Oper. Hab ich noch nie gemacht. (Aber ich bin mal im Siegfried in Hannover eingeschlafen.)
Es ist ein bisschen wie damals in London, wo ich nur wegen der Lord-of-the-Rings-Ausstellung hingefahren bin und die dann am belanglosesten von allem fand. So auch hier. Die Oper war doof, aber alles andere war klasse. Ich ärgere mich, dass ich nicht noch einen Tag länger gebucht habe, denn in bin ziemlich auf den Geschmack gekommen. Es gibt noch so wahnwitzig viel zu sehen! Und ich hab nix geschafft! Fahr ich halt nochmal hin. Und das gerne.