Filmfest München 2013 (2)
Zweiter Tag – und schon bin ich im Filmfestflow. Von einem Kino zum nächsten fahren, radeln, laufen (ich vermisse das Cinemaxx am Isartor sehr, wo alles unter einem Dach war), wegen der über die Münchener Innenstadt verteilten Kinos kaum Zeit, wirklich einen Film Revue passieren zu lassen, weil der nächste schon wartet, rein in die U-Bahn, raus aus der U-Bahn, Marienplatz, Münchener Freiheit, Stachus, Universität. Vor jedem Film spricht jemand vom Festival und erzählt meist begeistert vom folgenden Werk, außerdem läuft stets der kurze Filmfestivaltrailer anstatt 20 Minuten hirnzellentötende Werbung, manchmal ist das Team im Saal und man kann ihm direkt Beifall spenden, meistens nicht, dann klatscht man nach dem Film eben in die Dunkelheit. Draußen ist es warm und hell, und immer wenn ich aus dem dunklen, kühlen Kino kam, ganz gleich, wo es war, musste ich mich kurz zurechtfinden in der Welt außerhalb des Flows. Ich liebe ihn sehr und ich habe mich daran erinnert, dass es eine Zeit gab, in der ich ständig darin war.
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La Vie d’Adèle (Blue Is The Warmest Colour), Belgien/Frankreich/Spanien 2013
Regie: Abdellatif Kechiche; Drehbuch: Abdellatif Kechiche und Ghalya Lacroix nach dem Comic Le Bleu est une couleur chaude von Julie Maroh; Hauptdarsteller_innen: Léa Seydoux, Adèle Exarchopoulos
Wunderschön. Punkt.
Eigentlich möchte ich gar nicht großartig über diesen Film reden, obwohl er selber recht redselig ist. Der Gewinner der Goldenen Palme lief im französischen Original mit englischen Untertiteln, weswegen ich jetzt lustige Untertitelzitate im Kopf habe anstatt schöner Sätze. Aber egal. Es geht um die 15-jährige Adèle, die nach einigen Erfahrungen mit Jungs das Gefühl hat, irgendwas fehle ihr, sie fühle sich wie ein Fake (Untertitel), bis ihr ein lesbisches Pärchen über den Weg läuft, und ab da ist alles klar, auch wenn sie es in der Öffentlichkeit vehement bestreitet. Der Film zeigt ihre erste Beziehung zu einer Frau, wie und warum sie in die Brüche geht und dann, nach ein paar Jahren, das erneute Treffen der beiden. Das war’s. Und das dauert drei Stunden und ich wünschte, es wären fünf gewesen.
Ich weiß nicht genau, warum mir die Dialoge so gut gefallen habe, vor allem, weil ich sie ja quasi gar nicht verstanden habe, aber ich hätte gerade den beiden Damen ewig zuhören können. Oder Adèle und ihrem Freund. Oder Adèle und ihren Eltern, „Schwieger“eltern, den Freunden und Freundinnen der beiden, wem auch immer. Vielleicht höre ich Französisch auch einfach nur gerne. Sie reden über Bücher, Musik, Kunst, Reisen, Essen und die Liebe. Und wenn sie damit fertig sind, wird geküsst und geliebt und das genauso ausführlich, und auch hier hätte ich gerne weiter zugeschaut. Ich bin völlig vernarrt in den Mund von Adèle, und ich ahne, dass mir der Film auch deswegen so gut gefallen hat, weil ich der Frau schlicht gerne zusehe, ganz egal, was sie tut. (Außer essen, denn sie isst mit offenen Mund.)
Was mir außerdem sehr ans Herz ging: die Offenheit, die Zügellosigkeit, die Leidenschaft, mit der Adèle liebt und leidet. Jedes Gefühl wird ausgekostet, und das sieht man nicht nur, das spürt man. Ihr Satz „Ich habe keine Kontrolle darüber“, wenn sie sich nach Jahren der Trennung immer noch nach Emma verzehrt, klang überhaupt nicht nach Klischee, sondern nach tiefer, schmerzhafter Wahrheit. Wie das eben so ist, wenn man liebt.
Bechdel-Test bestanden: Aber hallo.
Museum Hours, Österreich/USA 2012
Regie und Drehbuch: Jem Cohen; Hauptdarsteller_innen: Mary Margaret O’Hara, Bobby Sommer
Meh. Der hätte mir gefallen müssen. Es geht um einen Museumswärter im Kunsthistorischen Museum in Wien, der sich mit einer Besucherin aus Kanada anfreundet, die eine Verwandte besucht, die in einem Wiener Krankenhaus liegt. Dabei sprechen sie über Kunst, und der Film verknüpft Bilder des Museums mit Szenen außerhalb desselben.
Klingt toll, hat auch tolle Momente – aber zwischen diesen Momenten liegt bleierne Langeweile. Aber wie gesagt: tolle Momente. Eine Idee: den Ton der Audioguides, die ein Bild beschreiben, mit Bildern zu unterlegen, die gar nichts damit zu tun haben. Es entsteht ein ganz seltsamer Reiz, Dinge entdecken zu wollen, die nicht da sein können – und trotzdem sucht man nach ihnen. Darum geht es auch im Off-Text des Museumswärters, der erzählt, dass man immer Neues entdeckt in den Bildern, die einen tagtäglich umgeben. Er zählt ein paar Details eines Brueghel-Bilds auf: „… ein Knochen … ein zerbrochenes Ei …“, wir sehen diese Dinge, und ohne Ãœbergang sind wir mit Bild und Ton außerhalb des Museums: „… ein verlorener Handschuh … eine Bierdose.“ Die Grundidee ist schnell klar: Wir sollten mit offenen Augen durch unseren Alltag gehen, um vielleicht Schönheit in ihm zu entdecken. Vielleicht hat sich Regisseur Cohen genau deshalb die belanglosesten Ecken von Wien ausgesucht, um dort minutenlang in einer Totalen zu verharren.
(Lustiger Nebeneffekt, Stichwort Flow: In La Vie d’Adèle streiten sich zwei Frauen darüber, ob Klimt oder Schiele jetzt toller wären – und in Museum Hours kündigt ein Plakat am Stephansdom eine Ausstellung mit Klimt und Schiele an. Ich mag sowas.)
Bechdel-Test bestanden: nein.
Die Trost-Bechdel: habe ich auch nicht anzubieten.
Our Nixon, USA 2013
Regie: Penny Lane
Ich zitiere von der Website: „Throughout Richard Nixon’s presidency, three of his top White House aides obsessively documented their experiences with Super 8 home movie cameras. Young, idealistic and dedicated, they had no idea that a few years later they’d all be in prison. This unique and personal visual record, created by H.R. Haldeman, John Ehrlichman and Dwight Chapin, was seized by the FBI during the Watergate investigation, then filed away and forgotten for almost 40 years. Our Nixon is an all-archival documentary presenting those home movies for the first time, along with other rare footage, creating an intimate and complex portrait of the Nixon presidency as never seen before.“
Ich hatte mir ein bisschen mehr vom Film versprochen, denn die Aufnahmen sind weit weniger spektakulär als man vielleicht erwartet hatte. Aber: Zusammen mit den geheimen Tonaufnahmen aus dem Weißen Haus sind sie ein teilweise skurriles und größtenteils immer noch unglaubliches Dokument. Zu hören, wie Nixon darüber doziert, dass Sokrates und Aristoteles schwul waren und die letzten fünf römischen Kaiser auch und deswegen seien diese Weltreiche untergangen, während wir Bilder von Spatzen und Eichhörnchen auf dem Rasen des Weißen Hauses sehen, ist schon lustig. Leider weniger spannend, als ich es gerne gehabt hätte. Der Film bleibt schön brav in einer Zeitleiste, spickt die Super-8-Aufnahmen mit Nachrichten und Nixon-Werbespots aus der Zeit, aber das war’s dann. Ich mochte den Film trotzdem, denn ich bin immer noch fasziniert von dieser skrupellosen Präsidentschaft, und ich unterstelle immer noch allen Beteiligten, dass sie sich für unantastbar hielten. Genau deswegen ist der Film auch sehenswert. Man sollte sich ab und zu daran erinnern, dass niemand unantastbar ist.
Bechdel-Test bestanden: nein.
Die Trost-Bechdel: Der Film wurde von Regisseurin Penny Lane gedreht.
The Invisible War, USA 2012
Regie: Kirby Dick
Ich zitiere wieder einmal (es ist 2 Uhr nachts und ich will schlafen!): „From Oscar and Emmy-nominated filmmakers Kirby Dick and Amy Ziering, The Invisible War is a groundbreaking investigation into the cover-up of rape in the U.S. military. Profoundly moving, the film follows the stories of several idealistic young servicewomen who were raped and then betrayed by their own officers when they courageously came forward to report. Both a rallying cry for the hundreds of thousands of men and women who’ve been assaulted and a hopeful road map for change, The Invisible War is one of those rare films so powerful it has already helped change military policy.“
Das hat er wirklich: „Secretary of Defense Leon Panetta viewed the film on April 14, 2012. On April 16, 2012, Secretary Panetta issued a directive ordering all sexual assault cases to be handled by senior officers at the rank of colonel or higher, which effectively ended the practice of commanders adjudicating these cases from within their own units. Panetta later told one of the film’s producers that watching The Invisible War contributed to his decision to revise this policy.“ (Link via Kai.)
Ich kann zu dem Film nicht viel sagen, außer dass er sehr schmerzhaft ist. Und immer wenn man denkt, jetzt kann nichts mehr kommen, packen die Opfer mit ihren Geschichten noch einen drauf, bis man sich, genau wie sie, nur noch ohnmächtig einem System ausgeliefert fühlt, in dem man anscheinend nicht gewinnen kann. Zwei Statistiken aus dem Film, die mit den geänderten Gesetzen hoffentlich Geschichte sind: 25% der attackierten Frauen zeigen ihren Vergewaltiger nicht an, weil ihr Vorgesetzter ein Freund des Täters ist. 30% zeigen ihren Vergewaltiger nicht an, weil er ihr Vorgesetzter ist.
Bechdel-Test bestanden: ja. Die vielen, verdammt noch mal zu vielen Frauen, denen Gewalt angetan wurde, reden im Laufe des Films teilweise miteinander und teilweise mit weiblichen Kongressabgeordneten. Wenn auch, ich traue es mich kaum zu sagen, über Männer.