Immer noch Tagebuch, Donnerstag, 17. März 2016 – Wien, Tag 2: Vier Kirchen und eine Ausstellung

Nach dem Besuch bei Anselm Kiefer schlenderte ich im oberen Stockwerk der Albertina durch die russische Avantgarde. Über die wusste ich einen winzigen Hauch Bescheid, weil ich mich etwas intensiver mit der Ausstellung 0,10 sowie Rodtschenko beschäftigt hatte, aber trotzdem hat mich die Vielfalt der ausgestellten Werke sehr beeindruckt. Das war ein gelungener Querschnitt, der deutlich gezeigt hat, wie unterschiedlich in einem recht begrenzten (Zeit-)Raum gemalt wurde. Ich habe mich gefreut, ein paar Gemälde von Tatlin zu sehen, von dem ich bisher nur skulpturale Werke kannte wie sein Konterrelief. Außerdem waren einige Werke von Malewitsch zu sehen, zum Beispiel sein Rotes Quadrat von 1915, mit dem er sich von jeder Gegenständlichkeit löste und dem/ der Betrachter*in die Chance gab, sich nur mit einer Farbe auseinanderzusetzen. (Also im Prinzip das, was Rothko und Newman 40 Jahre später noch mal gemacht haben. Sehr vereinfach ausgedrückt, aber immer wenn ich an die beiden Jungs denke, denke ich sofort an Malewitsch.) Neu für mich entdeckt habe ich Boris Grigorjew und Natalia Gontscharowa.

Den Kopf voller Kunst, den Rucksack voll mit zwei schweren Katalogen trabte ich 500 Meter weit in Richtung Hofburg. Dort steht die romanische Augustinerkirche, in der ich mir ein Grabmal anschauen wollte. Dort erlebte ich den Tourigruppenklassiker, in diesem Fall mit einer italienischen Schulklasse. Man kommt in einem Pulk rein, bleibt im Pulk stehen, zückt im Pulk die Smartphones oder Tablets, fotografiert sinnlos einmal das Mittelschiff runter, geht dann zögernd dem Führer hinterher, der bereits in der Mitte der Kirche steht und was erzählen will, fotografiert da das, worüber erzählt wird, und dann geht man im Pulk wieder raus.

Ich fand das gar nicht schlecht, denn so hatte ich nach zehn Minuten Pulkunruhe die Kirche fast ganz für mich alleine. Das Gebäude selbst war mir ziemlich wurst – ich wollte ein Grabmal anschauen, nämlich einen klassizistischen Pyramidalbau (echt jetzt), der als Kenotaph für die Herzogin Marie Christine, einer Tochter von Maria Theresia, von Antonio Canova 1805 in der Augustinerkirche errichtet worden war. Ich mochte die leise trauernde Figurengruppe sehr gerne und empfand die dunkle Öffnung, in der jedes irdische Leben verschwindet, trotz ihrer geringen Raumtiefe als beeindruckend bedrohlich.

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Genauso spannend empfand ich den Kontrast der Figuren zu denen der Pestsäule, die in der Nähe meines Hotels steht, zu dem ich jetzt die Kataloge schleppte. Das erste Foto ist für eine genauere Ansicht nicht ganz so gut geeignet, aber hier mochte ich den Kontrast zwischen Licht und Schatten sowie das strahlende Gold vor blauem Himmel so gerne.

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Aber in der Nahaufnahme erkennt man sehr gut, wie dramatisch hier mit Gesten und Gesichtsausdruck gearbeitet wird im Gegensatz zur leisen Einkehr des Kenotaphen. Gut, wir sind auch noch im Barock, da macht man halt noch Faxen. Im Klassizismus reißen wir uns alle wieder zusammen. (Immer schön an Winckelmann denken: „edle Einfalt, stille Größe“.)

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Wie gesagt, eigentlich wollte ich ins Hotel, aber da die Peterskirche direkt vor der Hoteltür liegt, dachte ich, gehste da halt auch noch schnell rein. Den Namen eines Baumeisters, Johann Lucas von Hildebrandt, hatte ich gerade ewig in der Barockvorlesung gehört und so freute ich mich, mal eins seiner Bauwerke in echt anstatt auf einer Powerpointfolie zu sehen.

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Blöd war natürlich nur, dass wir gerade in der Passionszeit sind und deswegen alle Kreuze verhängt sind. Deswegen sieht man am Altar auch nur das olle violette Tuch, wo ich doch so gerne Jesusse besichtige. Dann gucke ich mir halt Details an. Wände, die fast kaskadenartig nach vorne springen zum Beispiel. Oder runde Säulen mit eckigen Kapitellen, die keck in den Raum reingedreht werden anstatt brav an der Wand zu stehen. Und natürlich meine geliebten Pilaster. Eventuell ist das sogar ein Knickpilaster, aber ich glaube, der heißt nur so, wenn er innen an einer Ecke ist anstatt außen. Also wenn er 90 Grad beschreibt, nicht 270. (Ergibt das Sinn?)

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Jetzt aber ab ins Hotel. Kataloge in den Schrank packen, ein kleines Schläfchen halten, frisch machen – und dann spontan ein, zwei Bonner Twitterdamen auf eine Melange treffen. Ich muss mich inzwischen arg zusammenreißen, nicht in diesen angenehmen Singsang zu verfallen, den hier jeder spricht – gefühlt vor allem Kellner*innen. In Bayern kann ich der Verlockung total widerstehen, weil ich weiß, dass ich beknackt klinge, wenn ich versuche, bairisch zu sprechen. Aber wienerisch klingt so, als könnte ich es ansatzweise imitieren. Ich lasse das lieber, möchte aber trotzdem eine Petition starten, die Worte Sackerl und Packerl in den bundesdeutschen Sprachgebrauch aufzunehmen. (Tüte. Pffft.)

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Mit warmen Kaffeebauch ging ich zur Karlskirche. Die hatte ich auch auf einer Unifolie gesehen, und ich gucke mir ja alles an, was man mir auf Unifolien zeigt. Von draußen sieht die Kirche wie ein einziger Verkehrsunfall aus: Wir haben eine griechisch anmutende Tempelvorhalle, seitliche Glockentürme mit Durchgängen, die an römische Triumphbögen erinnern, eine schöne barocke Kuppel mit Laterne und dazu diese beknackten Säulen, die einen an die römische Trajanssäule denken lassen. Ich wusste nicht, warum unser Dozent uns diese Kirche ans Herz gelegt hat. Das verstand ich aber sofort, als ich reinging.

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Ich habe noch nie ein derartiges Licht gesehen. Man ahnt es schon in der Gesamtansicht – das Bild wollte ich ins Blog stellen, damit sich alle mit mir über den beknackten Panoramalift aufregen können, der den Eindruck des Innenraums ziemlich ruiniert. Ja, man kann damit bis unter die Decke fahren, um sich die Fresken anzugucken, aber dafür sind die gar nicht da. Die soll man von unten angucken, deswegen sind sie da oben. Baut die Scheiße ab, sie nervt. *krückstockfuchtel* Weil der blöde Lift da steht, kostet diese Kirche übrigens Eintritt. Ist aber okay, weil: das Licht.

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Man sieht hier ganz wunderbar das clevere barocke Theatrum Sacrum: die Zentrierung des Blicks auf den Altar. Man kann gar nicht anders, als dorthin zu schauen, denn der Chorraum ist enger als der Kirchensaal, und der Blick wird nochmals verengt durch die Säulen, die sich immer weiter in die Mitte schieben. Und: Wenn man in Richtung Altarraum geht, wird das Licht intensiver. Das Tageslicht strömt nur noch durch wenige Rundfenster und wird im goldenen Altaraufsatz zentriert; es fällt durch das mit Sonnenstrahlen umkränzte Dreieck mit den hebräischen Buchstaben JHWH und verteilt sich im gesamten Altarraum, von wo es in den Innenraum weiterleuchtet.

Barock war für mich immer ein winziges bisschen überkandidelt. Ich mochte die naive Romanik, die gewaltige Gotik, ich mochte den rauen Stein und das bisschen Putz, was die Gotteshäuser zusammenhielt. Barock war mir immer zu pastellig, zu puttig, zu hübsch. Und dann stand ich in der Karlskirche und dachte, scheiß auf pastellig – das ist das schönste Licht, was du je gesehen hast. Das ist, Achtung, Pathos: göttliches Licht. Hier hat der Mensch es hinbekommen, das göttliche Leuchten in Architektur zu packen. Und seitdem halte ich die Klappe und meckere nicht mehr über Putten und Engelchen und Flitterzeug, sondern denke, wenn das der Preis für dieses Licht ist, dann passt das.

Nach der Karlskirche sollte eigentlich die Krönung kommen: der Stephansdom. Ich ging also mit goldenem Herzen in die riesige Kathedrale – und wollte sofort wieder raus. Ich stand in einem dunklen, grauen Raum, ja, hohe Decken, toll, ja, Gotik, super, aber: Ich hatte doch gerade das göttliche Licht gesehen. Ich wollte nicht wieder zurück ins Mittelalter. Ich wollte das Licht wiederhaben, das Leben, das Gold. Und da verstand ich zum ersten Mal, warum der Barock so revolutionär war – weil er die Überwältigung der gotischen Architektur durch etwas Heiteres, Freieres, Luftiges ersetzte.

Ich blieb drei Minuten in der Kathedrale, fühlte mich von den Steinmassen erdrückt und ging einfach wieder. Aber alleine für diese Erkenntnis – so geht Barock, Baby – hat sich die Wienreise sowas von gelohnt.