Tagebuch, Mittwoch, 25. Mai 2016 – Kindheitsreferat
Mpf. 2,0 für die bürgerlichen Familienfeste im 19. Jahrhundert. Ich war selbst auch nicht so recht zufrieden, aber aus anderen Gründen als der Dozent. Was ihm hauptsächlich nicht gefallen hat, war die Einbindung meiner Quellen ins Referat, was schließlich den Ausschlag zur 2,0 gegeben hat; er hatte kurz zur 1,7 rübergeschwankt, wie er meinte.
Mein Thema im Seminar „Kindheit und Jugend im 19. Jahrhundert“ lautete „Familienfeste von der Wiege bis zur Bahre“. Ich beschränkte mich hauptsächlich aus Zeitgründen auf das Bürgertum, aber auch, weil das etwas exaltierter feierte als die eher mittellose Arbeiterschaft oder Bauern und Bäuerinnen. Als ich mit der Arbeit begann, musste ich mir erstmal klar darüber werden, über welche Feste ich schlussendlich referieren wollte und wie meine Leitfrage lautete. Nach dem üblichen wochenlangen Rumlesen landete ich bei „Inwiefern spiegeln Familienfeste im 19. Jahrhundert die neue Selbstwahrnehmung des Bürgertums wider?“. Dementsprechend dröselte ich erstmal auf, wie sich das Bürgertum denn neuerdings so wahrnimmt, um dann diese einzelnen Punkte anhand der Feste abzuklopfen.
Meine Stichworte waren Individualität, Stolz auf eigene Bildung und Besitz (daher die Begriffe Bildungs- und Besitzbürgertum), Religion als Privatangelegenheit, Rückzug ins Private, Familie als Gemeinschaft, Emotionalität sowie eine neue Eltern-Kind-Beziehung.
Schon während der Aufklärungszeit begannen sich Menschen als Individuum wahrzunehmen und nicht mehr nur als Teil einer Schicht oder Klasse. Individuelle Eigenschaften wurden gefördert, im 19. Jahrhundert dann auch bei Kindern, was einen Wechsel im Erziehungsstil nach sich zog, eher fördernd-verständnisvoll als strafend (Achtung, ich verallgemeinere in diesem Blogeintrag sehr, sonst wird eine Dissertation daraus). Die Erziehungsratgeber wandten sich interessanterweise nun vermehrt an (bürgerliche) Frauen anstatt an Männer, die bisher die Zielgruppe waren.
Das Bürgertum grenzte sich als Gruppe nach oben vom Adel und nach unten von Arbeiter*innen und Bäuer*innen ab; man war stolz auf den selbst erarbeiteten Besitz in Abgrenzung zum Adel, der qua Geburt vermögend war, und man war stolz auf die Bildung, die man sich dadurch leisten konnte (Schulgeld, Privatlehrer*innen etc.). Bildung war dann auch eher der Kompass im Leben, wodurch die Religion etwas zurückgedrängt wurde. Im 19. Jahrhundert festigte sich die eher säkulär geprägte Gesellschaft; die Entkirchlichung hatte zwischen 1845 und 1875 ihren Tiefpunkt erreicht, wenn man Abendmahls- oder Kommunionshäufigkeit als Maßstab ansetzt. Das Bürgertum sah Religion eher als eine Art moralische Verpflichtung an, die sich zum Beispiel in Mitgliedschaften in wohltätigen Vereinen oder Stiftungen für Arme und Waisen zeigte. Generell entzog sich das Bürgertum mehr und mehr dem Staat und der Kirche und legte großen Wert auf die neu entstandene – und neu geschätzte – Privatsphäre. Das eigene Heim, die eigene Familie waren der soziale Mittelpunkt. Familie war nun mehr als die seit Jahrhunderten bestehende Versorgungsgemeinschaft, in der jedes Familienmitglied frühestmöglich zum gemeinsamen Überleben beitragen musste. Familie zeigte sich nun eher durch emotionale Bindungen.
Wobei Rebekka Habermas für mich sehr nachvollziehbar anmerkt, dass wir diese neuen Familienstrukturen nur durch Schriftzeugnisse oder Bildnisse kennen. Diese entstanden vielleicht unbemerkt in der Absicht, genau diese Emotionen zu transportieren, weil man als Bürger oder Bürgerin wusste, dass sie von einem erwartet wurden. Auch die angeblich neue Eltern-Kind-Beziehung zweifelt Habermas an; sie spricht eher von einer veränderten Qualität. Während im Mittelalter und der frühen Neuzeit Eltern und Kinder aufeinander angewiesen waren, konnten sich bürgerliche Eltern nun „bedürfnislos“ an ihre Kinder wenden; diese mussten nicht mehr arbeiten, um zum Familienunterhalt beizutragen und wurden nicht mehr aufgezogen, um die Eltern im Alter zu pflegen. Kindern wurde eine eigene Persönlichkeit und ein eigener Lebensweg zugestanden; man sah sie nicht mehr als unfertige Erwachsene an, sondern erkannte Kindheit als einen ganz speziellen Lebensabschnitt, der anders zu gestalten war als die Jugend oder das Erwachsensein. (Ich wiederhole mich: Ich rede über den winzigen Bevölkerungsausschnitt des Bürgertums. In den eher mittellosen Schichten sah das bis in das 20. Jahrhundert hinein anders aus.)
Im Referat wollte ich nun diese bürgerlichen Eigenschaften daraufhin abklopfen, ob sie sich in den Familienfesten widerspiegeln. Dazu besprach ich kurz den Forschungsstand der Festforschung (things I learned: Es gibt Festforschung) und ging dann auf fünf Etappen aus Kindheit und Jugend ein, die festlich begangen wurden: Geburtstag/Namenstag (ev./kath.), Konfirmation/Kommunion, Hochzeit als letzte Etappe der Jugend, bevor man offiziell als erwachsen galt, Beerdigung sowie als Exkurs Weihnachten als das zentrale Familienfest des 19. Jahrhunderts.
Den eigenen Geburtstag feierte man im Bürgertum bereits um 1800 herum; davor feierte ihn eher der Adel und nutzte ihn zu Loyalitätsbekundungen der Untergebenen. Viele Schichten feierten ihn nicht, schlicht aus dem Grund, weil man das eigene Geburtsdatum nicht kannte. Dass Kindergeburtstage gefeiert wurden, war neu; die Kindersterblichkeit ging erst um 1870 signifikant zurück, davor war vor allem das erste Lebensjahr eins der gefährlichsten; wenn Kinder vor ihrem 18. Geburtstag starben, dann zum allergrößten Teil bereits im ersten Lebensjahr. Deswegen nannte man die Geburtstagsgeschenke zum 1. Geburtstag auch Pockengeschenke. Dieser Begriff bestand bereits zwischen Erwachsenen, die sich zu einer überstandenen schweren Krankheit beglückwünschten. Beschenkt wurden Kinder gerne mit pädagogisch Wertvollem; das Bürgertum schenkte oft Bücher, auch um auf den Bildungsstand des Schenkenden hinzuweisen. Für Geschenke bedankte man sich meist schriftlich; Susan Baumert nennt dies ein „Ratifizierungsritual“, das auf die Verbindung (familiär, emotional) zwischen Schenkendem und Beschenktem hinweist. Geschenke waren geschlechtercodiert; es entstand Kinderliteratur, die sich an Jungen oder Mädchen wandte, Mädchen bekamen Puppen, Jungs eher Zinnsoldaten. Für mich persönlich interessant: Den Geburtstagskuchen gibt es auch seit ungefähr 1800.
Beim Komplex Kommunion/Konfirmation ging ich vor allem auf die Kleidung ein. Zu diesem Fest trugen bürgerliche Kinder meist neue Kleidung, die ihnen oft von den Paten geschenkt wurden – ein nicht unbeträchtlicher finanzieller Aufwand, den sich viele weniger gut gestellte Familien nicht leisten konnten. In Autobiografien aus der Zeit wird gerne über Pannen im Gottesdient geschrieben, aber vor allem über die Kleidung, entweder über den Stolz auf das neue Tuch oder den Schmerz und die Scham darüber, dass man in geliehenen oder geflickten Stücken vor dem Altar stehen musste. Was mir auffiel, war die neue Mode des weißen Kleidchens für Mädchen, das gerne mit einem Schleier kombiniert wurde. Im 19. Jahrhundert setzte sich das weiße Brautkleid durch, das davor dem Adel vorbehalten gewesen war. Ich fand es auffällig, dass sich die Kommunionskleidung plötzlich an der Hochzeitskleidung orientierte und frage mich seitdem, ob das schon ein Vorgeschmack auf die erwartete Rolle als Ehefrau und Mutter für das bürgerliche Mädchen war. Zur Erinnerung: Erst im 19. Jahrhundert und eben im Bürgertum setzte sich diese Trennung zwischen Männern, die aus dem Haus gehen, um für Geld zu arbeiten, und Frauen, die nun zuhause blieben und sich um Heim und Familie kümmerten, durch. Davor war der eigene Wohnraum, der meist aus nicht mehr als aus einem Raum bestand, sowohl Arbeitsplatz als auch Wohnstätte, und beide Geschlechter kümmerten sich um das finanzielle Überleben und die Erziehung der Kinder (daher mein Hinweis oben, dass nun fast ausschließlich Frauen die Zielgruppe der Ratschlagenden waren).
Beim Komplex Beerdigungen und Trauerfeier fand ich es aus kunsthistorischer Sicht spannend, auf neu gestaltete Grabsteine hinzuweisen. Erstens entstanden üppige Familiengräber, die wir heute noch in ihrer massigen Anlage bestaunen können. Dabei wurden gerne Porträtbüsten oder Medaillons eingesetzt, was die Individualität der Verstorbenen nochmals heraushebt. Auch künstlerisch wurde sich erst im 19. Jahrhundert mit dem Kindstod auseinandergesetzt; es kam in Mode, Trauerkleidung auch für gestorbene Kinder anzulegen, sie also auch öffentlich und emotional zu betrauern. Das neue Medium der Fotografie wurde nicht nur dafür genutzt, ein Kommunionsbild zu erstellen, sondern auch, um gestorbene Kinder zu fotografieren, um ein Andenken zu behalten.
Weihnachten war das Familienfest schlechthin. Aus einem Fest für ein Kind wurde nun das Fest der Kinder. Im ersten Drittel des Jahrhunderts kam der Weihnachtsbaum in Mode, ab 1871 stand er auch in kleinbürgerlichen Familien, nachdem offiziell angeordnet worden war, ihn in Lazaretten und Kasernen aufzustellen. Der religiöse Hintergrund war genau das: ein Hintergrund; man ging zum Gottesdienst, aber das war nur ein Teil eines aufwendigen Drehbuchs, das die ganze Feier zu einem Ritual familiärer Festlichkeit werden ließ. Diese Rituale feiern wir heute noch (da kann jetzt jede/r von euch mal kurz in sich gehen und das überprüfen): Baumschmuck und Krippe wurden vererbt und bewusst weitergenutzt, es gab klare Ansagen, wer schmückt den Baum, wer entzündet die Kerzen, was wird gegessen, wann wird es gegessen, wann gibt es Geschenke etc.
Als kleinen Exkurs im Exkurs sprach ich über „Weihnukka“, also die Verbindung von Weihnachten und Chanukka. Viele deutsche Juden und Jüdinnen waren Teil des Bürgertums, und da sich Weihnachten immer mehr von seinem religiösen Fundament löste, stellten schließlich auch jüdische Bürger*innen Weihnachtsbäume auf und beschenkten ihre Familien. Bereits 1859 sah sich das Jüdische Volksblatt genötigt, das Aufstellen von Weihnachtsbäumen zu rügen und versuchte, Chanukka wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen. Ich fand es spannend zu sehen, dass vielen Jüd*innen die offensichtliche Zugehörigkeit zum Bürgertum wichtiger war als die Religion. Manche feierten jüdische Feste auch deshalb nicht mehr, weil sie ihnen ihre „Andersartigkeit“ (ich benutzte das Wort sehr vorsichtig) bewusst machte.
Zum Schluss zog ich natürlich das Fazit, dass sich alle bürgerlichen Merkmale in unterschiedlicher Ausprägung in den Festen wiederfinden, vor allem die zelebrierte, emotionale Gemeinschaft. Meine Quellen waren Ausschnitte aus zwei Biografien sowie eine Karikatur aus dem Schlemiel, wo ein jüdischer Junge unter dem Weihnachtsbaum eine Menorah als Geschenk vorfindet. Ich nutzte diese Quellen als Beleg für meine Argumentation, legte aber mehr Wert auf viele weitere Details, die ich hier nicht aufgeschrieben habe, um meine These zu belegen. Der Dozent wünschte sich eine bessere Kontextualisierung und eine eher umgekehrte Vorgehensweise: also mit der Quelle beginnen und daran das Argument entwickeln anstatt umgekehrt.
Das hat jetzt echt bis zum zweiten Mastersemester gedauert, bis mir klar geworden ist, was ich in Geschichte eigentlich machen soll. Nämlich genau das, was ich auch in Kunstgeschichte mache: vom Werk ausgehen und daraus eine Theorie entwickeln. Herrgottnochmal. Ich setze mich in KuGi doch auch nicht vor einen Berg Sekundärliteratur, denke mir ein hübsches Argument aus und suche dann nach Bildern, die in dieses Argument passen! Nee, ich mache das natürlich genau andersherum.
Für meine Hausarbeit werde ich jetzt also ein paar (Dutzend) Frauenbiografien querlesen und hoffentlich eine finden, an der ich den ganzen Sermon da oben schön nachweisen kann. Das ist zwar in diesem Fall immer noch die verkehrte Reihenfolge, aber der Dozent war mit meiner Frage und der Antwort darauf zufrieden und empfahl mir, das auch für die Hausarbeit beizubehalten.
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Literatur (Auswahl):
Baumert, Susan: Bürgerliche Familienfeste im Wandel. Spielarten privater Festkultur in Weimar und Jena um 1800, Frankfurt am Main 2014.
Budde, Gunilla: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994.
Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999.
Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 2000.
Hölscher, Lucian: „Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert“, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 595–630.
Kocka, Jürgen: „Obrigkeitsstaat und Bürgerlichkeit. Zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert“, in: Hardtwig, Wolfgang/ Brandt, Harm-Hinrich (Hrsg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 107–121.
Martin-Fugier, Anne: „Riten der Bürgerlichkeit“, in: Perrot, Michelle (Hrsg.): Geschichte des privaten Lebens, Band 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt/Main 1992, S. 201–266.
Maurer, Michael: „Feste in Geschichte und Gegenwart. Aspekte, Beispiele, Perspektiven“, in: Erwägen, Wissen, Ethik 19 (2008), S. 210–222.
Richarz, Monika: „Weihnukka. Das Weihnachtsfest im jüdischen Bürgertum“, in: Kat. Ausst. Weihnukka. Geschichten von Weihnachten und Chanukka, Jüdisches Museum Berlin, 28.10.2005–29.01.2006,
Berlin 2005, S. 86–99.
Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, 2., um einen Nachtrag erw. Aufl., Berlin/München/Boston 2014.
Soénius, Ulrich S.: Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Familie Scheidt in Kettwig 1848–1925, Köln 2000.
Ungermann, Silvia: Kindheit und Schulzeit von 1750–1850. Eine vergleichende Analyse anhand ausgewählter Autobiographien von Bauern, Bürgern und Aristokraten, Frankfurt am Main 1997.
Weber-Kellermann, Ingeborg: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 1996.