Biografie-Tipps

Ich hatte im letzten Semester eine Übung, in der wir uns mit verschiedenen Ausprägungen der Biografie befasst haben. Jede*r von uns Teilnehmer*innen stellte im Laufe des Kurses eine Biografie vor und versuchte sie einzuordnen; zum Referat gehörten natürlich auch Handouts. Und aus genau denen suche ich jetzt mal meine Favoriten raus, die ich gerne lesen würde und gebe euch damit gleich praktische Lesetipps. Was sind wir heute wieder serviceorientiert.

In den ersten Sitzungen beschäftigten wir uns damit, ob eine Biografie eine Geschichtsdarstellung oder Literatur sei. Radio Eriwan sagt: kommt darauf an. Wir lasen ein paar Grundlagentexte, die ihr euch mal schön selbst ergoogeln könnt, zum Beispiel Wilhelm Diltheys „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“(Auszug), in: Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, hg. v. Bernhard Fetz/Wilhelm Hemecker u. Mitarbeit v. Georg Huemer und Katharina J. Schneider, Berlin/New York 2011, S. 59–64, der in seinem Aufsatz genau diese Frage stellt: Ist eine Biografie überhaupt Wissenschaft? Einer der nächsten Texte war Christian von Zimmermanns „Exemplarische Lebensläufe. Zu den Grundlagen der Biografik,“ in: ders./Nina von Zimmermann (Hg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts, Tübingen 2005, S. 3-16, der sich als Literaturwissenschaftler dem Thema näherte und erstmal konstatiert, dass Biografien bei Historiker*innen nicht unbedingt den besten Ruf genössen, auch weil sie in ihrer Anlage gerne auf bekannte Typen zurückgreifen wie „den Künstler“ oder „die Mutter“ oder auf angebliche Geschlechtseinheiten, denen der oder die Biografierte entspricht oder eben gerade nicht. „Das historische Individuum wird so zum exemplarischen Fall für überindividuelle Erscheinungen und Interessen: sei es als historisches Exempel, sei es als Fallgeschichte in spezifischen kulturgeschichtlichen Formationen.“ (S. 7) Zum Abschluss der Grundlagentexte lasen wir einen Klassiker der Biografie – Dozentin: „Wenn Sie den irgendwo zitieren, sind Sie auf der sicheren Seite“ –, nämlich Winfried Schulzes „Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „EGO-DOKUMENTE“, in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hg. v. dems., Berlin 1996, S. 11–30. Der Text befasst sich, wie der Titel schon erahnen lässt, mit den Dokumenten, die Biografien zugrunde liegen, nämlich die vom Biografierten selbst erstellten wie Tagebücher, Briefe – und heute vermutlich Blogs und Tweets. Aber auch zum Beispiel Gerichtsakten sind Ego-Dokumente, in denen eine Zeugenaussage aufgenommen wird. „Ego-Dokumente [sind] Quellen […], in denen ‚ein ego sich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt.‘“ (S. 20)

Und dann kamen die Biografien. Im Komplex Individualbiografik fanden sich in der Seminarübersicht gleich vier Werke zu Wilhelm II., von denen wir immerhin eines auszugsweise lasen, weil sich für die anderen kein*e Referent*in fand. Die Biografie von John Röhl kann ich euch auch so empfehlen (John Röhl, Wilhelm II. 3 Bde., München 1993–2008); ich habe von den drei dicken Bänden immerhin den ersten gelesen, und auch wenn es irgendwann langweilig wird, ständig auf den bei der Geburt verkrüppelten Arm von Wilhelm als Auslöser des Ersten Weltkriegs hingewiesen zu werden, ist das Buch doch unglaublich dicht und detailverliebt. Man braucht allerdings eine Pause zwischen den einzelnen Bänden. Meine ist jetzt fast genau vier Jahre lang; ich könnte allmählich mal mit dem zweiten anfangen. Unsere Dozentin empfahl uns außerdem noch die Biografie von Christopher Clark, sie gehört angeblich mit den zu besten von den vielen, die es über den Kaiser gibt. (Edit: Ellebil machte mich darauf aufmerksam, dass ich das Buch nicht nur gelesen, sondern auch im Blog besprochen habe. Scheint keinen nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen zu haben. Zweifele jetzt total die Dozentinnenempfehlung an einself.)

Generell bewegten wir uns fast ausschließlich im 19. Jahrhundert, was mir in Verbindung zu meinem Kindheits- und Jugendseminar sehr recht war. Die erste Biografie, die ich lesen möchte, ist Morten Reitmayers Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz, Göttingen 1999. Reitmayer erstellt eine sogenannte Kollektivbiografie, nähert sich also nicht einer Einzelperson, sondern einer ganzen Gruppe. Hier fand ich den Generationenkonflikt spannend: Während die erste Generation der Bankiers sich nach oben arbeitet, genießt die zweite das angenehme Leben, ohne den familiären Reichtum zu vergrößern, oder sie engagiert sich auf kultureller Ebene, um das Geld in ihren Augen sinnvoll zu verwenden anstatt es einfach zu vermehren. Eine weitere Kollektivbiografie befasst sich mit der Mentalität des Großbürgertums Ende des 19. Jahrhunderts: Martin Doerry, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim/München 1986. Doerry nutzte über 500 Autobiografien (oder auch Biografien, ich weiß es leider nicht mehr), um ein großes Porträt zu zeichnen. Wenige Menschen werden einzeln porträtiert; das eine, was wir gelesen haben, hat mich nicht so recht überzeugt, aber das gesamte Konzept schon. Ich wäre allerdings vorsichtig damit, Autobiografien als einzige Quelle zu nutzen, denn jeder autobiografische Text beschönigt, verschweigt, lässt aus, verzerrt, selbst wenn er es nicht will. Das Buch erschien zur Zeit der Sonderwegs-Debatte, was es gleich zu zwei Zeitdokumenten auf einmal macht.

Ein kleiner Zeitsprung: Mein nächstes Wunschbuch wäre Ulrich Herberts Best: Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 1996, in denen er sich mit Werner Best auseinandersetzt. Die Leitfrage des Referenten war, wie sich die Mittäterschaft vieler Akademiker*innen im Dritten Reich erklären lässt. Die konnte er zwar nicht beantworten, aber er hat mich sehr neugierig auf das Buch gemacht.

Die Biografie, die ich vorstellte – Rebekka Habermas‘ Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen 2000 –, lege ich euch natürlich ebenfalls ans Herz. Habermas untersucht zwei Generationen von doppelt miteinander verschwägerten Familien des Besitz- und des Bildungsbürgertums und unterteilt ihr Buch in die Bereiche Arbeit, Geselligkeit sowie Ehe und Familie. Das ganze ist äußerst lesbar geschrieben und gespickt mit schönen Quellen.

In der letzten Sitzung sollten wir alle eine Biografie mitbringen und vorstellen, die uns gefallen hatte. Da es die letzte Sitzung war, saßen wir nur noch zu sechst zusammen, aber auch in dieser kleinen Runde kamen ein paar Biografien rum, die ich gerne lesen möchte. Ich selber stellte Hiltrud Häntzschels Biografie über Marieluise Fleißer vor, die ich jetzt auch schön einordnen konnte. Gerade feministische Biografie, vor allem die der 1970er Jahre, als die Genderforschung allmählich anfing, Frauen ans Licht zu holen, biografiert Frauen als Außenstehende, als Gegenentwurf zur patriarchalischen Gesellschaft, als Opfer, das sich subtil zu wehren weiß. Das mag in vielen Fällen hinkommen, bastelt aber genau so ein Konstrukt wie oben angesprochen: eine Frau wird zur Schablone von allen Frauen. Bei Fleißer finden wir einen Sonderfall – sie hat sich zeitlebens als Opfer der Zeit, der Männer, der Politik gesehen, und als ihr Werk Ende der 1960er Jahre wiederentdeckt wurde, schrieb sie es wild um, teilweise so, dass sie wissender erscheint als sie war (gerade im Hinblick auf die NS-Zeit) oder eben als Opfer der Umstände. Häntzschel schreibt in ihrem Vorwort, dass sie genau diesen Eindruck wieder zurechtrücken will, sie will die ursprüngliche Fleißer, das Nicht-Opfer, eine aktive, handelnde Frau, unter den ganzen neuen Schichten freilegen. Das klappt nicht immer, aber die Biografie war die erste, die mir sofort einfiel, als wir im Kurs die Aufgabe bekamen, und auch, nachdem ich mein Regal, in dem knapp 50 Biografien stehen, durchgeforstet hatte, kam ich zu ihr zurück. Kann man prima lesen, selbst wenn man kein einziges Stück oder keine einzige Erzählung von Fleißer kennt.

Eine Kommilitonin stellte eine sehr kurze Biografie über Gabriel Riesser vor, einem jüdischen Politiker, der Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung war. Dazu kann ich nichts sagen, außer dass sie mich interessiert. Unsere Dozentin stellte dann noch ein Buch von Witold Rybczynski vor, der mir im Zusammenhang mit architektonischen Texten schon öfter über den Weg gelaufen ist. Auch das will ich natürlich lesen: In A Clearing In The Distance: Frederick Law Olmsted and America in the 19th Century geht es unter anderem um den Erbauer des Central Parks in New York.