Nachtrag: Was schön war, Montag, 10. Oktober 2016 – Madrid, Tag 1

F. und ich verbrachten im September letzten Jahres einige Tage in Amsterdam mit Kunstgucken, ein bisschen Sterneessen und Rumliegen (letzteres mehr von mir als von ihm wahrgenommen). Vor einigen Wochen meinte der Mann dann so, lass uns doch vor deinem Semesterbeginn wieder ein paar Tage in eine schöne Stadt fahren. Ich so: Vielleicht Paris, damit ich mir endlich mal die Mona Lisa angucken kann? F. so: Vielleicht Madrid, damit du dir endlich mal Guernica angucken kannst? Ich überlegte ungefähr eine Sekunde und dann sagten mein Bauch und ich: Madrid.

Spanien stand, wenn ich ehrlich sein darf, noch nie auf meiner Urlaubsliste, aber das Stichwort Guernica reichte, um es da satt draufzupacken. Die Guernica begleitet mich seit fast 40 Lebensjahren, denn sie ist eins der Bilder in meinem allerliebsten Kinderkunstbuch, über das ich hier schon mal kurz schrieb. (Ich möchte inzwischen allerdings den letzten Absatz streichen.) Eltern – wenn ihr dieses Buch noch auf eBay findet: kaufen und verschenken. Das dauert vielleicht 40 Jahre, bis der Nachwuchs Kunstgeschichte studiert, aber es ist wirklich ein tolles Ding.

Nur wegen dieses Buchs saßen F. und ich Montag dann in einem Iberia-Flieger, der uns nach Madrid brachte. Iberia hat anscheinend nur kleine und satte Kunden; ich (knapp unter 170 cm groß) bin noch nie mit den Knien schon in normaler Sitzhaltung an den Vordersitz gestoßen – hier schon. Ich hatte immerhin den Fensterplatz, so dass ich irgendwie seitwärts oder mit einem ausgestrecken Bein sitzen konnte, aber ich weiß echt nicht, wie Menschen über 1,80 das aushalten. Verpflegung gibt’s an Bord nur gegen Bares, und es läuft die ganze Zeit Musik; super, wenn man schlafen möchte, um die unbequeme Sitzhaltung zu vergessen. Dafür war der Flug natürlich billiger als die Lufthansa, aber beim nächsten Mal werfe ich lieber wieder Geld raus.

Außerdem – aber das ist vermutlich nicht die Schuld von Iberia – legte mein Hardcoverbuch aus der Unibibliothek eine sehr seltsame Verhaltensweise an den Tag: Nach gut einer Stunde in der Luft bog sich das Cover leicht nach oben. Im Hotelzimmer war alles wieder normal. Auf dem Rückflug passierte dasselbe: in der Luft verbogen, in der S-Bahn vom Flughafen München nach Hause wieder gerade. Keine Ahnung, was das war. Seltsamer Bibliothekskleber, der nicht auf 10.000 Meter Höhe eingestellt ist?

IMG_0564

In Madrid landeten wir am recht neuen Terminal 4, bei dem ich Wetten darüber abgeschlossen hätte, dass Santiago Calatrava es gestaltete; die hätte ich aber verloren – Richard Rogers und Estudio Lamela waren es. Sowohl Abflug- als auch Ankunftshalle sind im Gatebereich eine einzige große Halle mit geschwungenem Dach und hohen Stützen. Was mich so fasziniert hat: wie ruhig es war. Das mag an den wenigen Lautsprecherdurchsagen liegen – am Abflugstag hörte ich eine Ansage, dass kein Boarding angesagt würde, was ich ziemlich okay finde; an Bushaltestellen blökt ja auch niemand über Mikro, dass jetzt die 5 nach Nedderfeld kommt –, aber ich glaube, es liegt an der Höhe und eben den Dächern. Eine sehr angenehme Atmosphäre.

IMG_0567

Vom Terminal brachte uns die Cercanías (we call it S-Bahn) bis Atocha. Dass wir ausgerechnet dort, quasi direkt am Bahnhof, ein Hotel gefunden hatten, freute mich, weil ich vor einiger Zeit das schöne Leaving the Atocha Station von Ben Lerner gelesen habe. Es geht um einen amerikanischen Autoren, der ein Literaturstipendium erhalten hat und nun in Madrid sitzt und nicht schreiben kann. Spanisch kann er auch nicht besonders gut, und das waren die Stellen, die mir im Buch mit am besten gefallen haben – wenn er beschreibt, was er glaubt zu verstehen. Das wird im Laufe des Buches immer weniger, er findet, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Sprache. Ein Beispiel, wie schön ambivalent dieses Halbverstehen klingen kann: „He told me he owned or worked at a gallery in Salamanca, the ritziest neighborhood in the city, and that his brother or boyfriend was either a famous photographer, sold famous photographs, or was a famous cameraman.“

Das Hotel Mediodia sieht von außen weitaus toller aus als es innen ist, aber ich kann es trotzdem weiterempfehlen: sauber, richtig gute Betten, quasi direkt am Bahnhof, lauter puschelige Fukanos vor der Tür und nur eine Minute Fußweg zur Reina Sofia – da hängt Guernica –, aber recht hellhörig und, totaler Minuspunkt, beim so halbwegs okayen Frühstücksbuffet gibt es kein vorgeschnittenes Obst. Das muss ich als Im-Urlaub-morgens-Müsli-oder-Cornflakes-mit-Obst-drin-Esserin anprangern. Dafür gibt es überraschend wohlschmeckenden Kaffee aus einer Metallbox, die mindestens 100 Liter fasst und auch noch warme Milch spendet. Das hat mich damit versöhnt, morgens immer abwechselnd einen Löffel Schokopops zu essen und dann in einen Apfel beißen zu müssen.

IMG_0580

Aber wie gesagt: eine Minute vom Museum weg. Das da oben links ist es mit seinen zwei transparenten Außenfahrstühlen, bei denen ich dann halt zur Wand geguckt habe, am nächsten Morgen bei schönerem Licht aus dem Hotelzimmer raus fotografiert. Apropos Fahrstuhl: Als wir im Museum nach oben fuhren, stiegen wir zu zwei asiatisch aussehenden Herren und nach uns kamen noch zwei weitere Gäste (vom Akzent her Amerikaner*innen). Der eine asiatische Herr hatte die ganze Zeit den Finger auf dem „Tür bleibt offen“-Knopf, bis alle drin waren und drückte ihn wieder, als wir ausstiegen. Bis vor kurzem hätte ich das einfach als höfliche Geste abgespeichert, aber inzwischen weiß ich: Das gehört sich in Japan so.

F. und ich begannen im zweiten Stock, wo hauptsächlich spanische Malerei des 20. Jahrhunderts hängt. Um eine Pointe schon vorwegzunehmen – für mich blieb es fast das einzige Stockwerk, ich wollte nach der Guernica nicht mehr viel sehen, schlenderte noch halbherzig durch eine Retrospektive von Marcel Broodthaerst, war aber nicht mehr bei der Sache, während F. sich noch spanische Kunst nach 1945 gab. Die nehme ich dann nächstes Mal mit.

Ich mochte die dämmerige, unscharfe Abgewandtheit von Isidre Nonells Head of a Gipsy Woman – ich habe mir nur die englischen Titel notiert, weil ich die spanischen nicht verstanden habe – und verliebte mich in die lesende Dame von Julio Romero de Torres, von dem ich dringend noch mehr sehen möchte. Das sieht man am Bildschirm nicht ganz so schön, aber die Lampe und die Tischoberfläche schimmern in einem irritierend modernen Mintgrün, das mich sehr fasziniert hat. Die Dame, die selbstbewusst dem male gaze widersteht, natürlich auch.

In einem weiteren Raum gab es Dada – okay, das ist jetzt nicht ganz spanische Malerei des 20. Jahrhunderts, aber ich mochte es sehr, dass ein Dadagedicht ständig über Lautsprecher eingespielt wurde. Der ganze Raum bekam so eine zusätzliche Dimension, die einem half, die Bildwerke … nicht zu verstehen, aber sich ihnen zu nähern. Ich huschte nur durch Miró (ist nicht so meins), weil ich aus einem weiteren Raum Wagner hörte; das war natürlich Buñuels Andalusischer Hund, neben dem aber noch zwei Dalís hingen, von dem ich auch nicht unbedingt eine Freundin bin, aber die beiden Werke gefielen mir gut so zwischen Kubismus und Surrealismus. Den Link unter „zwei Dalís“ mal kurz anklicken, dann sieht man eine hübsche Eigenart der Website des Museums: eine nach Sälen geordnete Auflistung aller Werke. Vorbildlich. Man durfte in den meisten Räumen ohne Blitz oder Stativ fotografieren, bei der Guernica allerdings nicht, was ich sehr okay fand.

Von Ignacio Zuloaga ist mir Bleeding Christ aufgefallen, bei dem mir der titelgebende Jesus fast wie Staffage vorkam und nicht wie das zentrale Motiv. Das Bild wirkt auch durch seine Größe (248 x 302 cm); es nimmt eine ganze Wand eines kleinen Nebenraums ein und wirkt dadurch noch pastoraler – obwohl Christus hier nicht über den Menschen steht (wie wenn er sich am meist hoch aufragenden Kreuz befindet), sondern auf Augenhöhe. Aber auch die ist hier kaum gegeben, weil sein Gesicht völlig verdeckt ist. Wie gesagt: Staffage. Spannend.

Nebenbei: Die genannten Herren kannte ich alle nicht. Ähem. Auch den nächsten nicht: Von Óscar Domínguez beeindruckten mich mehrere Bilder, obwohl sie surrealistisch sind (man ahnt es schon: nicht so meins). Am besten hat mir Guanche Cave gefallen, weil es bedrohlich ist (die kleine Figur oben, unter der so vieles schlummert), aber gleichzeitig befreiend (die kleine Figur oben, unter der so vieles schlummert). Am liebsten mochte ich dann, bevor ich mich endlich zu Picasso traute, die Telluric Art, die mit weichen, geometrischen Formen und Erdtönen einen ganz eigenen Eindruck der spanischen Landschaft wiedergibt.

Und dann kam die Guernica. So sieht der Raum aus, in dem sie hängt; um diesen Raum herum befinden sich weitere kleinere, die dem spanischen Pavillon von 1937 des Pariser Salons nachempfunden sind. Man kann den großen Raum von zwei Seiten betreten; ich wusste nicht genau, was mich erwartete, F., der schon mal dort gewesen war, ließ mich auch alleine durch die Gegend wandern, wofür ich sehr dankbar war. Wie gesagt, dieses Bild ist eines der ersten, das ich explizit als Kunst wahrgenommen habe; ich weiß, dass es ein wichtiges Bild ist, ich weiß, wie einflussreich es ist, ich kenne seine Details sehr gut, weil ich das Bild sehr oft angesehen habe. Aber eben noch nie in seiner ganzen Größe.

Ich wusste nicht genau, in welchem der Räume das Bild hing, also ging ich ziellos und sah es zum ersten Mal von der rechten Bildseite aus und nicht frontal, was die zweite Möglichkeit gewesen wäre. (Wie groß der Unterschied vielleicht hätte sein können, fiel mir einen Tag später im Prado vor Las Meninas auf.) Aber so sah ich es eben im Anschnitt, natürlich sieht man es schon, bevor man im Raum steht, das ist bei den gewaltigen Ausmaßen auch kein Wunder. Ich hatte mich auf eine starke emotionale Reaktion eingestellt – ich kenne mich ja inzwischen ein bisschen –, aber in den ersten Minuten mit dem Bild war ich ganz die brave Kunsthistorikerin. Das Museum war nicht sehr voll, mit mir standen nur wenige Menschen vor der riesigen Leinwand. Rechts und links neben dem Bild saßen zwei Aufpasserinnen, die uns zuguckten, wie wir Picasso anschauten. Das irritierte mich etwas, das Bild sah so bewacht aus, das hatte einen ganz leicht militärischen Touch, was mich im Bezug auf den Bildinhalt nachhaltig verwirrte. Das war natürlich nicht so gemeint und klar ist es schöner, da zwei Aufpasserinnen hinzusetzen und einen kleinen metallenen Abstandshalter in Kniehöhe zu ziehen anstatt das ganze Bild unter Panzerglas zu packen, damit ihm nichts passiert, aber die beiden erinnerten mich spontan an Soldaten an Ehrenmalen, und das störte irgendwie.

Das konnte ich aber irgendwann in den Hinterkopf packen, auch wenn ich immer noch darüber nachdenke, ob die beiden wohl ein Blog schreiben über Menschen, die sich Picasso angucken (People looking at Guernica). Ich finde, das sollten sie tun. Egal. Ich schweife schon wieder ab, dabei ist mir das vor dem Bild gar nicht so gegangen. Dort fuhr ich mit den Augen erstmal die ganzen Details ab, die ich schon so lange kenne. Als Kind fand ich die Lampe mit den gezackten Lichtstrahlen sehr unheimlich; Licht ist doch nicht zackig, das ist doch da und überall und weich und hell, aber doch nicht so scharf und gemein. Das zerbrochene Schwert habe ich, glaube ich, schon als Kind verstanden, genau wie die generelle Aussage, das hier Menschen fürchterlichen Schmerz empfinden. Im Kunstbuch stehen ein paar Zitate von Kindern; eins meinte, es sehe dort aus wie in der Hölle. Das Detail, was mich immer fertig macht, ist die Mutter mit dem leblosen Kind im Arm am linken Bildrand; die leeren Augen sind für mich der Teil des Bildes, der mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist. Wie viel man sagen kann mit einer Leerstelle.

Was ich bisher noch nie sah: Zwischen dem Stier und dem Pferd befindet sich ein Vogel, der schwarz auf schwarzem Grund gemalt wurde. Der ist mir auf Reproduktionen noch nie aufgefallen.

Ich stand recht lange einfach nur da und guckte, ging die ganzen knapp acht Meter Leinwand nach und nach ab, schaute das Bild frontal an, ging nach rechts, nach links, ging weiter weg, ging näher heran, ließ anderen Besucher*innen den Vortritt, ging aber nicht weg. Es kam keine große Emotion, ich merkte aber, wie ich sehr tief atmete – und wie weh es tat, dieses Bild anzuschauen, auch wenn man es schon so oft gesehen hat. Die Traurigkeit, die in mir aufstieg, kam, so dachte ich, nur bedingt durch das Bild, sondern eher durch das Wissen, was es beschreibt, was Menschen anrichten können, wie wenig sie lernen oder lernen wollen, wie sehr sich der Bildinhalt wiederholt, immer und immer wieder. Ich schaute auf das tote Kind mit den leeren Augen und dachte an Alan Kurdi und den blutüberströmten Jungen in Aleppo. Und dann musste ich weg von dem Bild, weil ich plötzlich überfordert war von der Macht und der Größe des Schmerzes, die sich von der Leinwand auf mich übertrug.

Seit ich studiere, höre ich keine Audioguides mehr und lese auch selten etwas nach, wenn mir ein Bild in einem Museum gefallen hat (außer für Hausarbeiten); ich habe auch jetzt beim Verlinken nicht durchgelesen, was zu den Werken auf der Website steht. Ich gucke inzwischen einfach. Ich komme in einen Saal, sehe drei, vier Bilder, die ich anschauen möchte, und das mache ich dann, der Rest wird ignoriert. Ich kann nicht alles in einem Museum anschauen und inzwischen will ich das auch gar nicht mehr. Ich gehe also irgendwo hin, stelle mich vor eine Leinwand und lasse das Werk etwas mit mir machen. Oder auch nicht; es gibt genug Bilder, die nichts in mir auslösen. Deswegen freue ich mich, wenn ein Bild etwas bewegt. Vor Guernica war ich allerdings erschrocken, wieviel ein Bild machen kann, da musste ich irgendwann wirklich weggehen, weil ich sonst im Museum angefangen hätte zu weinen. Ich glaubte, wie gesagt, dass es eher das Wissen um die unendliche Blödheit der Menschen war, die mich so fertiggemacht hat, aber als mir einen Tag später im Prado vor Rogier van der Weydens Kreuzabnahme unerwartet die Tränen kamen, merkte ich, nee, das ist schon das Bild. Das sind zwei Bilder, die ganz schlicht und gleichzeitig fürchterlich brachial Schmerz zeigen. Der Grund für diesen Schmerz ist egal, ob es jetzt Krieg ist oder der Tod des eigenen Kindes, selbst wenn man gar nicht weiß, was überhaupt dargestellt wird, spürt man den puren, gewaltigen Schmerz. Der kommt in der Guernica durch die Abwesenheit jeder Farbe und irreale, verstörende Details zum Ausdruck, in der Kreuzabnahme durch eine überirdische Schönheit, leuchtende Farben und Detailtreue, die zwei Bilder könnten kaum unterschiedlicher sein. Aber sie zeigen eine so starke Emotion, der ich mich irgendwann nicht mehr entziehen konnte. Bei der Guernica konnte ich mich noch abwenden, sie verdrängen, aber einen Tag später holte sie mich wieder ein. Verdammte Kunst. Großartige Kunst.