Ich habe die weinende junge Frau in der Tram gefragt, ob alles in Ordnung ist. Doofe Frage. Sie hat gelächelt und „ja“ gesagt und weiter still geweint. Ich hätte fragen sollen, ob ich helfen kann. Oder hätte ich lieber gar nichts fragen sollen? Weiß nicht. Wieso denke ich drüber nach, ob es richtig ist, jemanden zu fragen, ob alles in Ordnung ist, bei dem offensichtlich nicht alles in Ordnung ist? Doofe Konditionierung auf die Äffchen, nix hören, nix sehen, weggucken, weggehen. Sie hätte ja auch vom Augenarzt kommen können, Pupillenerweiterung, da heule ich auch immer danach. Da kann man doch mal fragen. Hm. Weiß nicht.
Das letzte Mal, dass ich heulend in öffentlichen Verkehrsmitteln gesessen habe, war vor gut einem Jahr, als ich gerade auf dem Weg zur Therapie war. Ich saß traurig im Bus, als eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn einstieg. Der Kleine setzte sich neben mich, während Mama nach vorne ging, um die Fahrkarten zu kaufen. Und er guckte mich lächelnd an und sagte: „Ich gehe heute zum ersten Mal zum Zahnarzt.“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, aber da kam auch schon die Mutter zurück, und er sagte zu ihr: „Ich habe der Frau eben erzählt, dass ich zum Zahnarzt gehe.“ Und ich hab angefangen zu flennen, ohne zu wissen, warum. Bis mir klar wurde, dass ich darauf gewartet habe, dass er sagt: „Ich habe der dicken Frau erzählt, dass ich zum Zahnarzt gehe.“
Ich bin so vieles. Ich bin klug. Ich bin unterhaltsam. Ich bin meistens freundlich. Ich habe ein Talent, mit dem ich Geld verdiene. Und ich bin dick. Und an schlechten Tagen ist alles andere egal, dann bin ich nur dick, und ich glaube, dass der ganze Rest der Welt auch nur denkt, dass ich dick bin und nichts anderes. Ich hasse es zu schwitzen, weil ich nicht will, dass alle denken, dass Dicke immer schwitzen. Ich arbeite besonders hart, weil ich nicht will, dass alle denken, Dicke seien faul. Vielleicht kaspere ich auch nur rum, weil ich die lustige Dicke sein will und nicht die traurige Dicke, obwohl ich das jahrelang war. Es ist unglaublich anstrengend, immer vorausahnen zu wollen, was der Rest der Welt wohl denken könnte, um schon im Vorfeld darauf zu reagieren. Ich dachte lange, dass alle das so machen, dass jeder sich dauernd und sekündlich fragt, ist alles in Ordnung? Störe ich grad niemanden, weil ich so bin, wie ich eben bin? Was für ein Blödsinn.
Im Moment hadere ich nicht mal so sehr mit dem Dicksein; das ist auch immer tages- oder monatsformabhängig. Ich weiß, dass ich dick bin, aber im Moment weiß ich auch, dass ich innerhalb meiner Parameter gesund bin, dass ich gut in meinem Job bin, dass ich eine puschelige Beziehung führe, eine schöne Wohnung habe und dass morgen die Sonne wieder scheint. Ich weiß auch, dass ich gut mit meinen Kollegen klarkomme, dass ich Freunde habe, Bekannte, wildfremde Menschen, denen das so gut gefällt, was ich hier auf dieser Seite mache, dass sie mir Bücher schenken und nette Mails schreiben. Und im Moment reicht das, und das Dicksein ist einfach nur eine weitere Facette, die eben zu mir gehört.
Klar, wenn eine Fee käme mit ihrem Zauberstab und mich fragen würde, was ich außer Weltfrieden und Gleichberechtigung gerne hätte, würde ich sofort sagen: Konfektionsgröße 42 für immer. Weil’s einfacher wäre. Weil niemand mehr dir Sprüche reindrückt, die du nicht verdient hast und die jedes Mal weh tun. Was man sich aber natürlich nicht anmerken lassen darf, um dem Sprüchewichser nicht die Genugtuung zu geben, dass er einen getroffen hätte. Hey, Labernase: Bei einem Dicken den wunden Punkt zu finden, IST NICHT WIRKLICH SCHWIERIG. Idiot.
Aber im Moment stört mich die größere Zahl nur wenig, z.B. wenn ich Klamotten ohne Teddybärapplikationen kaufen will oder mal die Mädchenshirts von Threadless und nicht immer die Jungsvariante, weil mir die nun mal passt. Im Moment ist alles gut. Und ich wünschte, ich hätte der jungen Frau all das in drei Worten sagen können anstatt so doof zu fragen: Ist alles in Ordnung, während ihr das Make-up verläuft.