Was schön war, Samstag, 29. Juli 2017 – Documenta, Tag 2
Einen richtigen Plan hatten F. und ich nicht, als wir die Documenta-Tickets gebucht hatten. Einzig die Neue Galerie war Pflichtprogramm, weil wir das Rudel von Beuys sehen wollten. Wir brachen also nach ordentlichem Hotelfrühstück auf und standen mit Öffnung um 10 Uhr in einer recht kurzen Warteschlange. Ich brachte meinen Rucksack in einen der Garderobencontainer und stellte, wie am Freitag auch schon, befriedigt fest: Die Documenta funktioniert, weil Kassel weiß, was es tut; die machen das offensichtlich nicht zum ersten Mal. Besucher*innen bringen Rucksäcke und Riesentaschen mit, die normalen Garderoben wären vermutlich zu klein, also stellt man überall Garderobencontainer auf. Praktisch und kostenlos. Ebenfalls praktisch und kostenlos: der große Faltplan, den man überall bekommt, auf dem alle Spielstätten und die dazu passenden Öffis aufgeführt sind.
Weil wir aber noch keinen Plan hatten, wussten wir nicht, was uns an den einzelnen Stationen erwartet. Ich freute mich über das Rudel, das man leider nicht ganz aus der Nähe betrachten konnte, weil irgendein Honk vor Kurzem einen Aufkleber auf den VW-Bus gepappt hat, weswegen der Raum jetzt gesperrt ist und man nur noch von außen reingucken kann. War trotzdem gut. Ich wünschte mir zum wiederholten Male eine Art Groundhopper App, nur nicht mit Fußballplätzen, sondern mit Museen oder Meisterwerken.
Im Raum vor dem Rudel hing ein Werk von Piotr Uklánski: Real Nazis (2017). Es bestand aus 203 Porträtfotos von Menschen, die das System des Nationalsozialismus mitgetragen hatten, was man unter anderem an den vielen Eisernen Kreuzen erkennen kann, die an vielen Hälsen zu sehen waren. Ich musste an die Faszination Faschismus denken, die ich gerade in der Masterarbeit angesprochen hatte, und betrachtete die vielen Stahlhelme, Uniformen und Herrenmenschen vermutlich zu lange. In der untersten Reihe war übrigens Joseph Beuys zu sehen. Dann dachte ich länger über den Titel nach: Sind die NSU-Leute keine „real Nazis“, weil sie nicht zwischen 1933 und 1945 gelebt haben? Überhaupt kann man am Wort „real“ noch weiter rumknabbern, denn die Bezeichnung „echte Kerle“ für Männer in Holzfällerhemden und „echte Frauen“ für Damen, die mehr als Größe 36 tragen, ist genauso bescheuert.
Mit Beuys beschäftigte sich noch ein weiteres Kunstwerk im Raum von Sokol Belqiri: Im Kurzfilm Adonis (2017) schneidet er einen Zweig einer Beuys-Eiche in Kassel ab und pfropft sie auf ein Bäumchen in Athen; von diesem schneidet er ebenfalls einen Zweig ab und setzt den an eine der Kasseler Eichen an. Ich mochte diese schlichte Idee der Verbindung der beiden Ausstellungsorte der Documenta und auch, dass eine der Beuys-Eichen jetzt weit außerhalb von Kassel wächst.
Meine Lieblinge im Haus: die formlosen Zeichnungen aus dem Ghetto von Władysław Strzemiński, die Collagen von Elisabeth Wild, die Klangcollagen von Katalin Ladik, die Bilder von Erna Rosenstein, vor allem die Porträts ihrer Eltern, sowie mehrere Bronzeköpfe aus dem 19. Jahrhundert aus Benin. Im unteren Stockwerk mochte ich noch die gewebten Teppiche von Marilou Schultz, die aussahen wie Platinen, sowie die Tumorskulpturen von Alina Szapocznikow: Materialwülste, -berge, -ausstülpungen, die aus der Wand zu kommen scheinen oder ein Podest überwuchern. Beides waren ältere Arbeiten, also nicht speziell für die Documenta gemacht. Überhaupt war vieles in der Neuen Galerie keine neue Arbeit, aber die Kombination von Alt und Neu war hier hervorragend.
Das alles umfassende Thema war die Provenienz von Kunstwerken. Das begann eben im unteren Stockwerk mit den persönlichen Verstrickungen von Menschen wie Beuys in ein System, das Kunstraubzüge perfektionierte, und setzte sich im Obergeschoss mit dem Rose-Valland-Institut von Maria Eichhorn fort. Dieser Blogeintrag würde ewig lang werden, wenn ich jedes Kunstwerk und seine Verbindung zu nächsten Werk aufzählen würde, daher hier nur ein paar Stichworte. Es geht grundsätzlich um Provenienzforschung, um die Bitte an Menschen, die vielleicht Kunst von ihren Großeltern geerbt haben, doch mal zu überprüfen, wann und wo diese die Kunst erworben haben. Es geht um die Rolle von Auktionshäusern im „Dritten Reich“, worüber ich vor gefühlt 100 Jahren mal eine Hausarbeit geschrieben habe. Es geht auch um die Documenta als Wiederaufbauleistung nach dem 2. Weltkrieg, die die Bundesrepublik mit ihrem Fokus auf Abstraktion klar im westlichen Bündnis verortete (ein Bild von Gerhard Richter, das Arnold Bode zeigt, ist zu sehen). Es geht aber auch um Kontinuitäten: Es sind Werke von Cornelia Gurlitt zu sehen, der Schwester von Hildebrand Gurlitt und damit Tante von Cornelius Gurlitt; es gibt Werke, die dem des Schwabinger Kunstfunds ähneln etc. Wie gesagt, das führt alles zu weit, aber für mich war das ein kleines Paradies an Kicks und Klicks im Gehirn.
Das Dumme war, dass damit mein Kopf erstmal beschäftigt war. Das Palais Bellevue nebenan durchstreifte ich nur sehr kurz, während F. dort weitaus mehr Zeit zubrachte. Ich genoss immerhin die Arbeiten von Olaf Holzapfel und Entwürfe und Modelle von Frei Otto. Dann war mein Documenta-Tag allerdings vorbei, und das lag an einer doofen Kleinigkeit.
Mein Handy nervt seit Monaten. Ich hatte vor ewigen Zeiten schon ergoogelt, dass dieses spezielle iPhone-Modell einen Softwarefehler hat, der dazu führte, dass der Touchscreen nicht mehr so reagiert wie er soll. Meine Reaktion auf diesen Satz: ACH FUCKING WAS?!? An guten Tagen musste ich Apps mehrfach aufrufen – also anklicken, nichts passiert, das Handy ausschalten, wieder anschalten, wieder klicken, nichts passiert – oder das Handy mehrfach brutal neu starten, dann ging es wieder für ein paar Tage. Anfangs hatte das Zurücksetzen auf Werkseinstellungen einmal geholfen, seitdem hielt auch das nur für wenige Tage. An miesen Tagen öffneten sich Apps von alleine, sobald das Handy angeschaltet war, Text erschien ohne mein Zutun in Textfeldern, Apps schlossen sich wieder, die Bildschirme wechselten lustig durch, und das, obwohl ich meine Finger nicht mal in der Nähe des Telefons hatte. Meine Horrorvision war immer, aus Versehen einer Dozentin einen Emoji-Kackhaufen per Mail zu schicken, aber das ist gottlob nicht passiert. Wird es jetzt auch nicht mehr, denn nach dem Palais Bellevue entschloss ich mich nach ewigem Rumärgern und Handy-Anschreien, mir ein neues Telefon zu kaufen.
Normalerweise fotografiere ich in Ausstellungen eher wenig, aber ich knipse gerne die Schilder neben den Werken, damit ich mir Namen und Werktitel nicht merken oder notieren muss, aber trotzdem Stoff für den meist folgenden Blogeintrag habe. Das ging seit Freitag nachmittag nicht mehr. Mein iPhone ließ mich netterweise noch den Parthenon of Books knipsen, aber schon beim abendlichen Festmahl lieh ich mir F.s Telefon, weil meins nicht mehr wollte. Manchmal half es, es nachts am Strom zu haben, damit es morgens wieder lieb zu mir war, aber auch das ging Samstag nicht. Also: neues Handy. Ganz toll. Wo ich gerade in Geld schwimme, ist das echt ne Ausgabe, die ich gebraucht habe. Knurr. Aber in einer fremden Stadt nicht mal auf Google Maps gucken zu können oder zu checken, wann welche Tram von wo fährt oder auch nur F. eine DM schicken zu können, dass ich schon durch bin mit Gucken und draußen im Schatten warte, war mir dann doch zu doof. Ich kaufte also ein neues Handy und verbrachte dann den Nachmittag damit, aus dem alten Mistding ein Backup zu ziehen (immerhin das ging noch) und das neue Handy startklar zu machen. Seitdem schreie ich mein Telefon nicht mehr an, sondern brabbele „OMG es funktioniert!“ vor mich hin wie ein Idiot.
Den Abend verbrachte ich aber trotzdem gut gelaunt, weil ich erstens wieder ein funktionierendes Handy hatte und weil zweitens F. einen Berg wohlschmeckendes Essen vom nahegelegenen syrischen Kebaphaus anschleppte, das wir mit Plastikbesteck auf dem Hotelzimmerfußboden genossen.
Wir unterhielten uns auch über die eher schlechten Kritiken zur Documenta (zu denen wir am Sonntag ein schönes Bilddokument fanden). Ich hatte nicht so viel gelesen, aber der Grundtenor war wohl, dass die politische Kunst zu billig war oder dass überhaupt Kunst politisch sein wollte. Das frage ich mich ja eh schon länger und das wird mich voraussichtlich auch in der Diss beschäftigen: Was will Kunst überhaupt von mir? Ich persönlich meine total unwissenschaftlich, dass Kunst natürlich politisch sein darf, es aber nicht muss, die darf auch einfach mal nett über dem Sofa aussehen. Und ich glaube, diese nette Kunst hat die gleiche Berechtigung wie die Kunst, die mir mitteilen möchte, dass wir zu viele Menschen haben, denen es nicht mehr möglich ist, in ihrem Heimatland menschenwürdig zu leben und die deshalb flüchten, dass NSU-Morde passieren, dass es Raubkunst gibt, seit es Kunst und Krieg gibt uswusf. Kunst weist mich immer auf irgendetwas hin, und das darf auch gerne mal nur die Tatsache sein, dass ich anscheinend Dinge mag, die in einer bestimmten Ordnung zu einem Stillleben aufgetürmt sind. Vielleicht bringen mich Stillleben dazu, über the internet of things nachzudenken oder dass ich noch Zitronen einkaufen muss oder dass totes Geflügel echt nicht hübsch aussieht und dass ich es vielleicht nicht mehr essen sollte. Ja, schlimme Beispiele, ich weiß. Das hier ist aber nicht meine Diss, bis dahin überlege ich mir noch was Besseres. Aber auch schlimme Beispiele machen klar: Kunst macht im besten Fall irgendwas mit mir. Dass sie das mit vielen Kunstkritiker*innen nicht mehr macht, die schon alles gesehen haben, ist nicht das Problem der Kunst, sondern das der Kritiker*innen. Ich habe mir selber meine Faszination an Kino versaut, weil ich irgendwann das Gefühl hatte, alle Geschichten schon mal erzählt bekommen zu haben. Das ist natürlich Quatsch, aber es ist genauso Quatsch zu sagen, diese Documenta ist zu politisch oder nicht politisch genug oder was auch immer. Man hat in Kassel alle fünf Jahre die Gelegenheit, eine irrwitzige Menge an Kunst auf sehr kleinem Raum zu erschwinglichen Preisen zu sehen. Ich kann daran nichts Falsches finden.