Bücher 2009, April
Im letzten Jahr hatte ich mir angewöhnt, alle drei Monate ein kleines Update über mein Leseverhalten zu geben. Eigentlich wäre daher erst Ende Juni ein neuer Eintrag fällig, aber da ich von meinen Lesern und Leserinnen zu meinem Geburtstag so reichhaltig mit Büchern bedacht wurde und mir gleichzeitig eine kleine Auszeit von der Arbeit genommen habe (die Festangestellten unter uns nennen es Urlaub), habe ich in den letzten Wochen so dermaßen viel weggelesen, dass ich gar nicht bis Juni warten kann, um euch davon zu erzählen, was es für tolle Bücher da draußen gibt.
James McPherson – Battle Cry of Freedom
Absolute Empfehlung für alle, die sich für den amerikanischen Bürgerkrieg interessieren. Ich habe das Buch hier schon mal lobend erwähnt, als ich es noch nicht durchgelesen hatte. Das habe ich jetzt, und je länger es dauerte, desto mehr hat es mich fasziniert. Der Weg in den Krieg wird sehr nachvollziehbar beschrieben, und der Krieg selbst erschöpft sich nicht in einer Schlachtenerzählung nach der nächsten; stattdessen werden die Kampfhandlungen umrahmt von Beschreibungen der Gesellschaft und der politischen Veränderungen, die der Krieg mit sich brachte. Wie wurde er finanziert? Welche Stellung bzw. Berufe hatten Frauen auf einmal? Wie funktionierte der Transport von Menschen, Tieren, Waffen? Wie unterschiedlich entwickelten sich Nord- und Südstaaten? Und natürlich vor allem: Wie veränderte sich der Umgang mit den Schwarzen – waren sie anfangs „nur“ ein Teil in der großen Summe der Kriegsgründe, wurde die Position der Nordstaaten bzw. vor allem Abraham Lincolns im Laufe des Krieges immer entschiedener: Die Sklaverei musste abgeschafft werden, und daher hatten Friedensverhandlungen, die dieses Thema ausklammern wollten, nie eine Chance.
Was mir besonders gefallen hat: Pherson hält sich nicht krampfhaft an eine Zeitleiste, sondern nimmt sich zwischen den einzelnen Schlachten immer ein Thema vor, das gerade wichtig ist (wie eben die Finanzierung oder die steigende Inflation, vor allem im Süden) und beleuchtet es über die Zeit des Krieges hinweg, bevor er zur nächsten Schlacht kommt und danach zu einem weiteren Thema. Auf so gut wie jeder Seite habe ich Neues lernen und Altes vertiefen dürfen. Battle Cry of Freedom zeichnet trotz seiner recht komprimierten Form von 900 Seiten ein für mich sehr ausführliches Bild des Civil War und seiner Begleitumstände und hat mich – auch durch seinen sehr lesbaren und wenig pompös-wissenschaftlichen Tonfall – wirklich begeistert.
Christian Kracht – Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
An einem Nachmittag verschlungen. Ich mochte die fremde Welt, die Kracht entwirft – Lenin bleibt in der Schweiz, etabliert eine sozialistische Republik, und fast 100 Jahre später bekriegt sich Europa immer noch –, ich mochte die vielen Adjektive, die mir nie unpassend erschienen und alle irrealen Welten ganz anfassbar gemacht haben, und ich mochte die zaghaften Botschaften, die in den Nebensätzen durchschimmerten: wie seltsam der Mensch ist, wie seltsam seine Ideologien oder was ihn antreibt, was Heimat definiert und was Nächstenliebe.
Charles Frazier – Cold Mountain
An den Film konnte ich mich nur schemenhaft erinnern, und im Zuge meiner ganzen Bürgerkriegsbegeisterung dachte ich mir, ach, lieste doch mal ein Buch, das in dieser Zeit angesiedelt ist. Gute Sache, denn die verschiedenen Schauplätze des Romans, die Namen der umkämpften Städte oder die der Generäle werde ohne Erklärung auf den Leser losgelassen, und wenn ich nicht vorher das großartige Battle Cry of Freedom gelesen hätte, hätte mich Cold Mountain vielleicht nicht ganz so gefesselt. Das Buch beschreibt zwei Geschichten gleichzeitig: die des Südstaatensoldaten Inman, der aus einem Hospital desertiert und sich auf den Weg nach Hause, nach Cold Mountain macht, um zu seiner geliebten Ada zurückzukehren. Sie ist die Hauptperson der zweiten Geschichte, und in dieser wird ihre Wandlung von der behüteten, aber durchaus eigensinnigen Frau zur Vollblutfarmerin erzählt, die ihr Piano gegen Saatgut tauscht und irgendwann gleichberechtigt Homer liest und wilde Truthähne zielsicher zu Proviant macht. Zum Schluss begegnen sich beide Erzählungen, aber erst, nachdem sie die ländlichen Südstaaten, ihre Bewohner und Sitten zurzeit des Bürgerkriegs sehr beeindruckend und ausführlich beschrieben haben. Cold Mountain hat mir sehr, sehr gut gefallen. (Und ich hatte das Ende allen Ernstes schon wieder vergessen.)
Hergé – Tim im Kongo, Tim in Amerika, Die Zigarren des Pharaos, Der blaue Lotos, Der Arumbaya-Fetisch, Die schwarze Insel, König Ottokars Zepter, Die Krabbe mit den goldenen Scheren, Der geheimnisvolle Stern, Das Geheimnis der Einhorn, Der Schatz Rackhams des Roten, Die sieben Kristallkugeln, Der Sonnentempel, Im Reiche des Schwarzen Goldes, Reiseziel Mond, Schritte auf dem Mond, Der Fall Bienlein, Kohle an Bord, Tim in Tibet, Die Juwelen der Sängerin, Flug 714 nach Sydney, Tim und die Picaros
Mit dem Lesen der Sekundärliteratur im März kam logischerweise die Lust, mal wieder die Primärliteratur zu lesen. Wie seit knapp 30 Jahren immer mal wieder, ungefähr im Zwei- bis Drei-Jahresrhythmus. Meine Lieblinge sind immer noch Der Blaue Lotos, Die Juwelen der Sängerin, Tim in Tibet, die Mond-Bände und Flug 714 nach Sydney.
Peter S. Beagle – A Fine & Private Place
Das Buch stammt aus den 60er Jahren, und dementsprechend klingt die Geschichte bzw. die Art, wie sie erzählt wird, auch ein ganz winziges bisschen verstaubt. Der Inhalt: Rebeck, ein älterer Mann, hat sich aus Furcht vor der Realität auf einen Friedhof geflüchtet und lebt dort seit Jahren in einem Mausoleum. Ein sprechender Rabe versorgt ihn mit Sandwiches, die er aus New Yorker Delis klaut, und ab und zu hat Rebeck sogar menschlichen Kontakt – allerdings mit Menschen, die keine mehr sind, denn sie werden begraben und bleiben noch ein wenig in der Zwischenwelt von Leben und Tod bei ihm, bis sie vergessen haben, was ihr Leben ausmacht und sie endgültig sterben. In dieses beschauliche Tableau bricht eines Tages eine Witwe ein, die Rebeck aus der Reserve lockt, und gleichzeitig stellen zwei Verstorbene Gefühle an sich fest, die sie aus ihrem Leben nicht kannten. A Fine & Private Place erzählt mir manchmal ein bisschen zu viel, wo ich gerne nur Andeutungen gehabt hätte, und es liest sich streckenweise etwas zäh. Aber das Fantastische der Geschichte bleibt dafür noch länger bei einem.
Alan Moore/Kevin O’Neill – The League of Extraordinary Gentlemen, Vol. I
Comic. Aus der cleveren Grundidee, literarische Persönlichkeiten zu einer Art Superheldengang zusammenzuschmeißen (Captain Nemo, Mina Harker, Dr. Jekyll/Mr. Hyde, Allan Quatermain), wird ein bisschen wenig gemacht, aber ich mochte den Zeichenstil sehr, sehr gerne, habe die altertümliche Sprache als spannenden Gegensatz zum modernen Genre empfunden und mich über kleine Scherze wie die Mailadresse des Verlages („electro-magneto address“) sehr amüsiert. Gleich den zweiten Band geordert.
Thomas Glavinic – Das bin doch ich
Thomas Glavinic schreibt über einen Schriftsteller namens Thomas Glavinic, der gefühlt das halbe Buch betrunken ist, imaginär an inneren Blutungen stirbt oder Hodenkrebs vermutet, nervös auf das Erscheinen seines Werks Die Arbeit der Nacht wartet und dabei ständig SMSe von Daniel Kehlmann kriegt, der ihm mitteilt, wie oft sich Die Vermessung der Welt schon verkauft hat. Ohne dem Autor zu nahe treten zu wollen – das liest sich alles wie ein wahnwitzig langer Blogeintrag und ist unglaublich komisch. Grandios. Sofort kaufen. Und dann nochmal kaufen und an nette Menschen verschenken. Und Die Arbeit der Nacht natürlich auch kaufen und verschenken. Aber nur an Leute mit besserem Nervenkostüm als ich. Ich konnte danach nächtelang nicht schlafen und war sehr, sehr froh, nicht alleine zu wohnen.
Frank Miller/Lynn Varley – Ronin
Laut Kerl hat Miller mit diesem Comic den Mangastil in Amerika populär gemacht. Mir egal. Ich fand den sehr spannend, weil er eine alte Samuraigeschichte mit der üblich-depressiven Welt des 21. Jahrhunderts verknüpft hat. Sehr schicke Bilder, sehr viele verschiedene Panels, immer was zu gucken. Ich kann immer noch nicht über Comics schreiben, aber ich bin diesem Medium inzwischen fies verfallen. Was auch daran liegt, dass der Kerl ständig Nachschub aufs Sofa legt, wenn ich grad nicht hingucke und mal wieder was mit Wörtern lesen will. So ohne Bilder so. Aber ich komm hier ja zu nix.
Isabel Kreitz – Ohne Peilung/Ralf lebt
Nach diversen Superhelden und Männerquatsch hab ich mal vorsichtig nachgefragt, ob’s denn auch Frauen gibt, die Comics produzieren, woraufhin mir Herr Kerl Frau Kreitz gegeben hat. Beide Geschichten spielen in Hamburg, was ich sehr lustig fand. Die eine beschäftigt sich mit einem alten Mann, der der Kriegsmarine und ihren U-Booten hinterhertrauert, die andere mit Jugendlichen, die im Kanalsystem unter der Stadt leben. Beide fand ich interessant, hätte mir aber gewünscht, sie wären etwas länger bzw. etwas tiefgründiger gewesen. Aber vielleicht bin ich inzwischen auch schon durch die Fantasiewelten der amerikanischen Comics völlig verdorben.
Colleen McCullough – Tim
Mein guilty pleasure. Lese ich alle zwei, drei Jahre mal, wenn ich was Schnulziges lesen will. Dauert inzwischen auch nur noch vier oder fünf Stunden, dann hab ich das durch, mich kurz ausgeweint und bin mit der Welt wieder versöhnt.
Saša Stanišić – Wie der Soldat das Grammofon repariert
„Eine gute Geschichte, hättest du gesagt, ist wie unsere Drina: nie stilles Rinnsal, sie sickert nicht, ist ist ungestüm und breit, Zuflüsse kommen hinzu, reichern sie an, sie tritt über die Ufer, brodelt und braust, wird hier und da seichter, dann sind das aber Stromschnellen, Ouvertüren zur Tiefe und kein Plätschern. Aber eines können weder die Drina noch die Geschichten: für beide gibt es kein Zurück. Das Wasser kann nicht umkehren und ein anderes Bett wählen, so wie kein Versprechen jetzt doch gehalten wird. Kein Ertrunkener taucht auf und fragt nach einem Handtuch, keine Liebe findet sich doch, kein Trafikant wird gar nicht erst geboren, keine Kugel schießt aus einem Hals zurück ins Gewehr, der Staudamm hält oder hält nicht. Die Drina hat kein Delta.“
Ein wunderbares Buch. Und wenn es nicht so einen blöden Titel hätte, der mich nicht ganz fälschlicherweise, aber dann doch total daneben osteuropäische Folklore vermuten ließ, hätte ich es schon vor zwei Jahren gelesen, als es alle anderen auch gelesen haben. Dann eben jetzt. Zum Glück.
Mark Oliver Everett – Things the Grandchildren Should Know
Everett ist der Sänger der EELS, mit deren Musik ich eher selten was anfangen kann. Trotzdem wollte ich aus was für Gründen auch immer Everetts Autobiografie lesen – und kann sie für depressive Tage durchaus weiterempfehlen. Sein Stil ist angenehm zurückhaltend; so schreibt er über die Veröffentlichung von Electro-Shock Blues – einem Album, mit dem er die vielen Todesfälle in seiner Umgebung verarbeitet hat – nur: „The album came out to much critical acclaim and the shows went well.“ So ungefähr klingt das ganze Buch, er erzählt eine unglaubliche Geschichte nach der anderen und berichtet darüber sehr distanziert, aber nicht unfreundlich. Grandchildren hat mich nicht umgehauen, aber ich habe es gerne gelesen.
Walter Scheib/Andrew Friedmann – White House Chef
Walter Scheib war elf Jahre Chefkoch im Weißen Haus. Er wurde persönlich eingestellt von First Lady Hillary Clinton, die die traditionell französisch gehaltene Küche bei Staatsempfängen ändern und mehr amerikanische Küche zeigen wollte. Sein Buch ist kuschelig und nett, man fühlt sich wie bei einem ausgedehnten Brunch, bei dem alle ihre Lebensgeschichte erzählen und ihre schönsten Anekdoten nochmal rausholen. Zwischen den kleinen, liebevollen Geschichten aus dem Weißen Haus gibt’s ne Menge Rezepte – und immer schimmert durch, wie Scheib seinen Job sah:
„Now, the things we did wouldn’t have been “impossible” in other settings. But when you considered the fact that we were working in cramped quarters, with largely temporary staff, and menus that changed from day to day to suit the occasion – or occasions – at hand, every success was seen as a small miracle, all the more so because we were essentially operating in a museum where the furniture, decorations, artwork, and even at times the plates were valuable and irreplaceable antiques.“
Ben Elton – Chart Throb
Das Buch soll ein Seitenhieb auf die ganzen fies zusammengeschnittenen und auf maximale Tränenmenge ausgerichteten Castingshows sein, scheitert aber an seiner eigenen Zielsetzung. Es mag ja sein, dass die judges bei X-Factor, American Idol u.ä. ausdauernd “You owned that song” oder “You know what? You could go all the way” sagen, aber das wird nicht noch offensichtlicher, indem man das auf jeder zweiten Seite im Buch wiederholt, das sich genau darüber lustig macht. Chart Throb orientiert sich peinlich genau an Leuten wie Simon Cowell und Sharon Osbourne und überzieht diese noch – aber nicht genug, um es wirklich fies werden zu lassen, sondern höchstens skurril. So richtig toll fand ich das Buch nicht, aber die vielen Songtitel, die der blinde Junge in den Mottoshows singen musste und die alle in die Richtung von I can see clearly now gingen, waren dann doch lustig.
Michael Caine – What’s it all about?
Sehr launige Autobiografie von Michael Caine. Kostprobe? Hier der erste Absatz:
„I first started to act at the age of three. We were a very poor family and it was my mother’s idea to have me help out with her many outstanding bills. She wrote the script and directed the action. The cue to begin my performance was a ring at the door bell. Grasping my small hand, my mother rushed down the three flights of stairs from our small flat and hid behind the front door as I opened it. The unsuspecting third member of the cast – the rent collector – was standing there as I delivered my first lines: ‘Mummy’s out,’ I said, and slammed the door in his face.“
In dem Stil geht es weiter, jeder Absatz hat eine Pointe, jeder Satz etwas zu erzählen. Ich muss gestehen, ich kenne nicht viele von Caines Filmen, gerade seine Frühwerke nicht, aber das mindert das Lesevergnügen überhaupt nicht. Besonders gefallen hat mir seine Einstellung seiner Arbeit gegenüber, die er sehr ernst nimmt und die er schon sehr früh als seine Berufung erkannt hat, von der er aber gleichzeitig weiß, dass sie manchmal auch „nur“ seine Miete zahlt. So wechseln sich Erzählungen über die Oscarverleihung ab mit einem ehrlichen „Und dann hab ich wieder ne Gurke gedreht, weil ich mir ein Haus an der Themse kaufen wollte“. Ein bisschen anstrengend sind seine Ansichten zur Frauenbewegung, die man vorsichtig als „altmodisch“ bezeichnen könnte, und seine Panik vor Homosexualität, die ihm bei seinen Kollegen nichts auszumachen scheint, ihn aber nicht davor bewahrt, sich vor seinem ersten man-on-man-Kuss mit Christopher Reeve in Deathtrap die Hucke vollzusaufen. Das Buch ist bereits 1992 erschienen, also nicht mehr ganz aktuell, aber es hat nichts von seinem Charme verloren. (Danke an Kiki für die Inspiration.)