2009 in Büchern
In den Fotos fehlen einige Bücher – teilweise weil ich sie irgendwo ins Regal gewürgt habe, vor dem jetzt mein Sofa steht und ich keine Lust hatte, erst das Sofa zu verschieben und dann in zweiter Reihe nach einem Reclamheft zu wühlen wie Madame Bovary; teilweise weil einige der Comics im Regal vom Kerl stehen, dessen Ordnung ich nur halbwegs verstehe. Ich erkenne den Unterschied zwischen amerikanischen und französischen Büchern, aber ob ein bestimmter Batman jetzt unter „Batman“ steht oder unter „Frank Miller“ oder sonstwo, habe ich noch nicht rausbekommen. Und bei grob geschätzt 1.000 Comics fange ich nicht an zu suchen, neinnein.
The Economist: The Book of Obituaries
Vom Kerl zu Weihnachten geschenkt bekommen und hier schon mal erwähnt. Ich kann das nicht an einem Stück durchlesen; es fühlt sich an, als ob man 200 Minibiografien auf einem Haufen hat. Sobald man sich in ein Leben vertieft, ist es schon wieder vorbei – was logisch ist bei Nachrufen, es aber eben nicht einfach macht, das Buch so wegzulesen. Auf jeden Fall spannend, für welchen Aspekt der jeweiligen Person sich die Nachrufer entscheiden. Mein bisheriger Favorit ist der Abgesang auf Alex the African Grey, den vielleicht intelligentesten Papagei der Welt. Der letzte Absatz sagt viel über den besonderen Stil der Nachrufe:
„There are still a few researchers who think Alex’s skills were the result of rote learning rather than abstract thought. Alex, though, convinced most in the field that birds as well as mammals can evolve complex and sophisticated cognition, and communicate the results to others. A shame, then, that he is now, in the words of Monty Python, an ex-parrot.“
Otfried Preußler – Krabat
Ein Geschenk einer Leserin, wie ich hier schon schrieb. Las sich selber viel zu schnell weg. Ich glaube, ich lass mir das nochmal vorlesen.
Daniel Kehlmann – Ruhm
Hm. Ich mag die Art von Kehlmann, Geschichten zu erzählen. Ich mochte Ruhm aber trotzdem nicht, weil ich arg das Gefühl hatte, dass hier aus neun kleinen Storys ohne großen Sinn und Zweck ein Roman geklöppelt werden sollte, weil „Roman“ besser auf dem Einband aussieht als „Kurzgeschichten“. Ruhm liest sich sehr entspannt weg, aber je länger das Buch dauerte, desto mehr gingen mir die Figuren auf die Nerven, die alle einfach so da sind und mir nichts erzählen, mich nicht an sie rankommen lassen, mir auch nach dem Ende der Geschichte nichts bedeuten. Ruhm ist der erste Kehlmann, der mir nicht gefallen hat, obwohl ich ihn gern gelesen habe. Hm.
flix – Mädchen
Anders schön als die tägliche Dosis Comic, mit der mich flix online versorgt. Eine längere Geschichte, die erstmal uralt klingt, Boy meets Girl eben, aber dann ganz neu passiert und die mich gleichzeitig zum Lachen gebracht und mir das Herz gebrochen hat.
Alan Moore/Dave Gibbons – Watchmen (Die Wächter)
Fantastisch. Genaueres habe ich hier aufgeschrieben.
Neil Gaiman/Chris Bachalo, Mark Buckingham – Death: The High Cost of Living
Durch die Watchmen angefixt, hat mir der Kerl Death empfohlen. Eine junge Frau taucht im Leben vom suizidgefährdeten Sexton auf und behauptet, der Tod zu sein. Zusammen durchstreifen sie eine Stadt, wodurch sich Sextons Einstellung zu Leben und Tod ändert. Dass der Tod eine hippe Gothicbraut ist, fand ich zwar ein bisschen sehr Altherrenfantastisch, aber mir haben der Zeichenstil und der Tonfall der Story sehr gut gefallen.
Heather Cocks/Jessica Morgan – The Fug Awards
Viele seltsame Klamotten und viele grandiose Rezensionen derselben, die nie einfach nur Geläster sind, sondern vor popkulturellen Anspielungen nur so überquellen, Filme zitieren, miese Serien, Klatsch und Tratsch. Go Fug Yourself ist eins meiner Lieblingsblogs, weil es so wunderbar geschrieben ist, und deshalb macht es als Buch genauso viel Spaß.
Frank Miller/Klaus Janson – Dark Knight Returns
So langsam werd ich warm mit Comics. Dark Knight Returns hat das (laut Kerl) langweilige Image von Batman gehörig auf den Kopf gestellt. Mir hat der Zeichenstil nicht ganz so gut gefallen wie die Watchmen, an denen ich jetzt blöderweise alles messe, aber ich mochte auch hier die Düsternis, das deprimierende Setting und die intelligente Art des Storytellings.
Michael Farr – Auf den Spuren von Tim und Struppi
Sehr schönes Buch, das sich mit der Entstehungsgeschichte der einzelnen Tim-und-Struppi-Bände beschäftigt, auf Korrekturen im Laufe der Zeit hinweist (wie z.B. bei Tim im Kongo, wo Tim eine Schulklasse übernimmt und in der Erstausgabe noch was über die Kolonialmacht Belgien erzählt, während er heute eine Matheaufgabe an die Tafel schreibt) und mit Fotomaterial belegt, wo Hergé seine Inspirationen herholte bzw. wie exakt seine Zeichungen von Autos, Gebäuden und Gebrauchsgegenständen der Zeit waren. Wer wie ich eine besondere Beziehung zu Tim hat und noch heute Käpt’n Haddocks Schimpfkanonaden auswendig kann, wird dieses Buch genauso gerne lesen wie ich.
Claire Keegan – Antarctica
Antarctica ist eine Kurzgeschichtensammlung, die mich so in ihren Bann gezogen hat, dass ich mehrmals meine Bushaltestelle verpasst bzw. das Ende meiner Mittagspause im Starbucks vergessen habe. Jede Story kann ich mir auch als abendfüllenden Spielfilm vorstellen, so viel schwingt in den präzisen, intensiven Zeilen mit. Ich habe mich sofort in Keegans eher beobachtenden Stil verliebt, der es mir selbst überlässt, was ich von den Protagonisten halte. Auch wenn diese Distanz zum Schluss jeder Geschichte so richtig schön die Keule rausholt. Wenn ich das Buch nochmal lese, habe ich für jede Geschichte ein anderes Gefäß eisgekühlten Alkohols neben mir stehen. Große Empfehlung. (Und danke an Merlix für die Inspiration.)
James McPherson – Battle Cry of Freedom
Absolute Empfehlung für alle, die sich für den amerikanischen Bürgerkrieg interessieren. Ich habe das Buch hier schon mal lobend erwähnt, als ich es noch nicht durchgelesen hatte. Das habe ich jetzt, und je länger es dauerte, desto mehr hat es mich fasziniert. Der Weg in den Krieg wird sehr nachvollziehbar beschrieben, und der Krieg selbst erschöpft sich nicht in einer Schlachtenerzählung nach der nächsten; stattdessen werden die Kampfhandlungen umrahmt von Beschreibungen der Gesellschaft und der politischen Veränderungen, die der Krieg mit sich brachte. Wie wurde er finanziert? Welche Stellung bzw. Berufe hatten Frauen auf einmal? Wie funktionierte der Transport von Menschen, Tieren, Waffen? Wie unterschiedlich entwickelten sich Nord- und Südstaaten? Und natürlich vor allem: Wie veränderte sich der Umgang mit den Schwarzen – waren sie anfangs „nur“ ein Teil in der großen Summe der Kriegsgründe, wurde die Position der Nordstaaten bzw. vor allem Abraham Lincolns im Laufe des Krieges immer entschiedener: Die Sklaverei musste abgeschafft werden, und daher hatten Friedensverhandlungen, die dieses Thema ausklammern wollten, nie eine Chance.
Was mir besonders gefallen hat: Pherson hält sich nicht krampfhaft an eine Zeitleiste, sondern nimmt sich zwischen den einzelnen Schlachten immer ein Thema vor, das gerade wichtig ist (wie eben die Finanzierung oder die steigende Inflation, vor allem im Süden) und beleuchtet es über die Zeit des Krieges hinweg, bevor er zur nächsten Schlacht kommt und danach zu einem weiteren Thema. Auf so gut wie jeder Seite habe ich Neues lernen und Altes vertiefen dürfen. Battle Cry of Freedom zeichnet trotz seiner recht komprimierten Form von 900 Seiten ein für mich sehr ausführliches Bild des Civil War und seiner Begleitumstände und hat mich – auch durch seinen sehr lesbaren und wenig pompös-wissenschaftlichen Tonfall – wirklich begeistert.
Christian Kracht – Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
An einem Nachmittag verschlungen. Ich mochte die fremde Welt, die Kracht entwirft – Lenin bleibt in der Schweiz, etabliert eine sozialistische Republik, und fast 100 Jahre später bekriegt sich Europa immer noch –, ich mochte die vielen Adjektive, die mir nie unpassend erschienen und alle irrealen Welten ganz anfassbar gemacht haben, und ich mochte die zaghaften Botschaften, die in den Nebensätzen durchschimmerten: wie seltsam der Mensch ist, wie seltsam seine Ideologien oder was ihn antreibt, was Heimat definiert und was Nächstenliebe.
Charles Frazier – Cold Mountain
An den Film konnte ich mich nur schemenhaft erinnern, und im Zuge meiner ganzen Bürgerkriegsbegeisterung dachte ich mir, ach, lieste doch mal ein Buch, das in dieser Zeit angesiedelt ist. Gute Sache, denn die verschiedenen Schauplätze des Romans, die Namen der umkämpften Städte oder die der Generäle werde ohne Erklärung auf den Leser losgelassen, und wenn ich nicht vorher das großartige Battle Cry of Freedom gelesen hätte, hätte mich Cold Mountain vielleicht nicht ganz so gefesselt. Das Buch beschreibt zwei Geschichten gleichzeitig: die des Südstaatensoldaten Inman, der aus einem Hospital desertiert und sich auf den Weg nach Hause, nach Cold Mountain macht, um zu seiner geliebten Ada zurückzukehren. Sie ist die Hauptperson der zweiten Geschichte, und in dieser wird ihre Wandlung von der behüteten, aber durchaus eigensinnigen Frau zur Vollblutfarmerin erzählt, die ihr Piano gegen Saatgut tauscht und irgendwann gleichberechtigt Homer liest und wilde Truthähne zielsicher zu Proviant macht. Zum Schluss begegnen sich beide Erzählungen, aber erst, nachdem sie die ländlichen Südstaaten, ihre Bewohner und Sitten zurzeit des Bürgerkriegs sehr beeindruckend und ausführlich beschrieben haben. Cold Mountain hat mir sehr, sehr gut gefallen. (Und ich hatte das Ende allen Ernstes schon wieder vergessen.)
Hergé – Tim im Kongo, Tim in Amerika, Die Zigarren des Pharaos, Der blaue Lotos, Der Arumbaya-Fetisch, Die schwarze Insel, König Ottokars Zepter, Die Krabbe mit den goldenen Scheren, Der geheimnisvolle Stern, Das Geheimnis der Einhorn, Der Schatz Rackhams des Roten, Die sieben Kristallkugeln, Der Sonnentempel, Im Reiche des Schwarzen Goldes, Reiseziel Mond, Schritte auf dem Mond, Der Fall Bienlein, Kohle an Bord, Tim in Tibet, Die Juwelen der Sängerin, Flug 714 nach Sydney, Tim und die Picaros
Mit dem Lesen der Sekundärliteratur im März kam logischerweise die Lust, mal wieder die Primärliteratur zu lesen. Wie seit knapp 30 Jahren immer mal wieder, ungefähr im Zwei- bis Drei-Jahresrhythmus. Meine Lieblinge sind immer noch Der Blaue Lotos, Die Juwelen der Sängerin, Tim in Tibet, die Mond-Bände und Flug 714 nach Sydney.
Peter S. Beagle – A Fine & Private Place
Das Buch stammt aus den 60er Jahren, und dementsprechend klingt die Geschichte bzw. die Art, wie sie erzählt wird, auch ein ganz winziges bisschen verstaubt. Der Inhalt: Rebeck, ein älterer Mann, hat sich aus Furcht vor der Realität auf einen Friedhof geflüchtet und lebt dort seit Jahren in einem Mausoleum. Ein sprechender Rabe versorgt ihn mit Sandwiches, die er aus New Yorker Delis klaut, und ab und zu hat Rebeck sogar menschlichen Kontakt – allerdings mit Menschen, die keine mehr sind, denn sie werden begraben und bleiben noch ein wenig in der Zwischenwelt von Leben und Tod bei ihm, bis sie vergessen haben, was ihr Leben ausmacht und sie endgültig sterben. In dieses beschauliche Tableau bricht eines Tages eine Witwe ein, die Rebeck aus der Reserve lockt, und gleichzeitig stellen zwei Verstorbene Gefühle an sich fest, die sie aus ihrem Leben nicht kannten. A Fine & Private Place erzählt mir manchmal ein bisschen zu viel, wo ich gerne nur Andeutungen gehabt hätte, und es liest sich streckenweise etwas zäh. Aber das Fantastische der Geschichte bleibt dafür noch länger bei einem.
Alan Moore/Kevin O’Neill – The League of Extraordinary Gentlemen, Vol. I
Comic. Aus der cleveren Grundidee, literarische Persönlichkeiten zu einer Art Superheldengang zusammenzuschmeißen (Captain Nemo, Mina Harker, Dr. Jekyll/Mr. Hyde, Allan Quatermain), wird ein bisschen wenig gemacht, aber ich mochte den Zeichenstil sehr, sehr gerne, habe die altertümliche Sprache als spannenden Gegensatz zum modernen Genre empfunden und mich über kleine Scherze wie die Mailadresse des Verlages („electro-magneto address“) sehr amüsiert. Gleich den zweiten Band geordert.
Thomas Glavinic – Das bin doch ich
Thomas Glavinic schreibt über einen Schriftsteller namens Thomas Glavinic, der gefühlt das halbe Buch betrunken ist, imaginär an inneren Blutungen stirbt oder Hodenkrebs vermutet, nervös auf das Erscheinen seines Werks Die Arbeit der Nacht wartet und dabei ständig SMSe von Daniel Kehlmann kriegt, der ihm mitteilt, wie oft sich Die Vermessung der Welt schon verkauft hat. Ohne dem Autor zu nahe treten zu wollen – das liest sich alles wie ein wahnwitzig langer Blogeintrag und ist unglaublich komisch. Grandios. Sofort kaufen. Und dann nochmal kaufen und an nette Menschen verschenken. Und Die Arbeit der Nacht natürlich auch kaufen und verschenken. Aber nur an Leute mit besserem Nervenkostüm als ich. Ich konnte danach nächtelang nicht schlafen und war sehr, sehr froh, nicht alleine zu wohnen.
Frank Miller/Lynn Varley – Ronin
Laut Kerl hat Miller mit diesem Comic den Mangastil in Amerika populär gemacht. Mir egal. Ich fand den sehr spannend, weil er eine alte Samuraigeschichte mit der üblich-depressiven Welt des 21. Jahrhunderts verknüpft hat. Sehr schicke Bilder, sehr viele verschiedene Panels, immer was zu gucken. Ich kann immer noch nicht über Comics schreiben, aber ich bin diesem Medium inzwischen fies verfallen. Was auch daran liegt, dass der Kerl ständig Nachschub aufs Sofa legt, wenn ich grad nicht hingucke und mal wieder was mit Wörtern lesen will. So ohne Bilder so. Aber ich komm hier ja zu nix.
Isabel Kreitz – Ohne Peilung/Ralf lebt
Nach diversen Superhelden und Männerquatsch hab ich mal vorsichtig nachgefragt, ob’s denn auch Frauen gibt, die Comics produzieren, woraufhin mir Herr Kerl Frau Kreitz gegeben hat. Beide Geschichten spielen in Hamburg, was ich sehr lustig fand. Die eine beschäftigt sich mit einem alten Mann, der der Kriegsmarine und ihren U-Booten hinterhertrauert, die andere mit Jugendlichen, die im Kanalsystem unter der Stadt leben. Beide fand ich interessant, hätte mir aber gewünscht, sie wären etwas länger bzw. etwas tiefgründiger gewesen. Aber vielleicht bin ich inzwischen auch schon durch die Fantasiewelten der amerikanischen Comics völlig verdorben.
Colleen McCullough – Tim
Mein guilty pleasure. Lese ich alle zwei, drei Jahre mal, wenn ich was Schnulziges lesen will. Dauert inzwischen auch nur noch vier oder fünf Stunden, dann hab ich das durch, mich kurz ausgeweint und bin mit der Welt wieder versöhnt.
Saša Stanišić – Wie der Soldat das Grammofon repariert
„Eine gute Geschichte, hättest du gesagt, ist wie unsere Drina: nie stilles Rinnsal, sie sickert nicht, ist ist ungestüm und breit, Zuflüsse kommen hinzu, reichern sie an, sie tritt über die Ufer, brodelt und braust, wird hier und da seichter, dann sind das aber Stromschnellen, Ouvertüren zur Tiefe und kein Plätschern. Aber eines können weder die Drina noch die Geschichten: für beide gibt es kein Zurück. Das Wasser kann nicht umkehren und ein anderes Bett wählen, so wie kein Versprechen jetzt doch gehalten wird. Kein Ertrunkener taucht auf und fragt nach einem Handtuch, keine Liebe findet sich doch, kein Trafikant wird gar nicht erst geboren, keine Kugel schießt aus einem Hals zurück ins Gewehr, der Staudamm hält oder hält nicht. Die Drina hat kein Delta.“
Ein wunderbares Buch. Und wenn es nicht so einen blöden Titel hätte, der mich nicht ganz fälschlicherweise, aber dann doch total daneben osteuropäische Folklore vermuten ließ, hätte ich es schon vor zwei Jahren gelesen, als es alle anderen auch gelesen haben. Dann eben jetzt. Zum Glück.
Mark Oliver Everett – Things the Grandchildren Should Know
Everett ist der Sänger der EELS, mit deren Musik ich eher selten was anfangen kann. Trotzdem wollte ich aus was für Gründen auch immer Everetts Autobiografie lesen – und kann sie für depressive Tage durchaus weiterempfehlen. Sein Stil ist angenehm zurückhaltend; so schreibt er über die Veröffentlichung von Electro-Shock Blues – einem Album, mit dem er die vielen Todesfälle in seiner Umgebung verarbeitet hat – nur: „The album came out to much critical acclaim and the shows went well.“ So ungefähr klingt das ganze Buch, er erzählt eine unglaubliche Geschichte nach der anderen und berichtet darüber sehr distanziert, aber nicht unfreundlich. Grandchildren hat mich nicht umgehauen, aber ich habe es gerne gelesen.
Walter Scheib/Andrew Friedmann – White House Chef
Walter Scheib war elf Jahre Chefkoch im Weißen Haus. Er wurde persönlich eingestellt von First Lady Hillary Clinton, die die traditionell französisch gehaltene Küche bei Staatsempfängen ändern und mehr amerikanische Küche zeigen wollte. Sein Buch ist kuschelig und nett, man fühlt sich wie bei einem ausgedehnten Brunch, bei dem alle ihre Lebensgeschichte erzählen und ihre schönsten Anekdoten nochmal rausholen. Zwischen den kleinen, liebevollen Geschichten aus dem Weißen Haus gibt’s ne Menge Rezepte – und immer schimmert durch, wie Scheib seinen Job sah:
„Now, the things we did wouldn’t have been “impossible” in other settings. But when you considered the fact that we were working in cramped quarters, with largely temporary staff, and menus that changed from day to day to suit the occasion – or occasions – at hand, every success was seen as a small miracle, all the more so because we were essentially operating in a museum where the furniture, decorations, artwork, and even at times the plates were valuable and irreplaceable antiques.“
Ben Elton – Chart Throb
Das Buch soll ein Seitenhieb auf die ganzen fies zusammengeschnittenen und auf maximale Tränenmenge ausgerichteten Castingshows sein, scheitert aber an seiner eigenen Zielsetzung. Es mag ja sein, dass die judges bei X-Factor, American Idol u.ä. ausdauernd “You owned that song” oder “You know what? You could go all the way” sagen, aber das wird nicht noch offensichtlicher, indem man das auf jeder zweiten Seite im Buch wiederholt, das sich genau darüber lustig macht. Chart Throb orientiert sich peinlich genau an Leuten wie Simon Cowell und Sharon Osbourne und überzieht diese noch – aber nicht genug, um es wirklich fies werden zu lassen, sondern höchstens skurril. So richtig toll fand ich das Buch nicht, aber die vielen Songtitel, die der blinde Junge in den Mottoshows singen musste und die alle in die Richtung von I can see clearly now gingen, waren dann doch lustig.
Michael Caine – What’s it all about?
Sehr launige Autobiografie von Michael Caine. Kostprobe? Hier der erste Absatz:
„I first started to act at the age of three. We were a very poor family and it was my mother’s idea to have me help out with her many outstanding bills. She wrote the script and directed the action. The cue to begin my performance was a ring at the door bell. Grasping my small hand, my mother rushed down the three flights of stairs from our small flat and hid behind the front door as I opened it. The unsuspecting third member of the cast – the rent collector – was standing there as I delivered my first lines: ‘Mummy’s out,’ I said, and slammed the door in his face.“
In dem Stil geht es weiter, jeder Absatz hat eine Pointe, jeder Satz etwas zu erzählen. Ich muss gestehen, ich kenne nicht viele von Caines Filmen, gerade seine Frühwerke nicht, aber das mindert das Lesevergnügen überhaupt nicht. Besonders gefallen hat mir seine Einstellung seiner Arbeit gegenüber, die er sehr ernst nimmt und die er schon sehr früh als seine Berufung erkannt hat, von der er aber gleichzeitig weiß, dass sie manchmal auch „nur“ seine Miete zahlt. So wechseln sich Erzählungen über die Oscarverleihung ab mit einem ehrlichen „Und dann hab ich wieder ne Gurke gedreht, weil ich mir ein Haus an der Themse kaufen wollte“. Ein bisschen anstrengend sind seine Ansichten zur Frauenbewegung, die man vorsichtig als „altmodisch“ bezeichnen könnte, und seine Panik vor Homosexualität, die ihm bei seinen Kollegen nichts auszumachen scheint, ihn aber nicht davor bewahrt, sich vor seinem ersten man-on-man-Kuss mit Christopher Reeve in Deathtrap die Hucke vollzusaufen. Das Buch ist bereits 1992 erschienen, also nicht mehr ganz aktuell, aber es hat nichts von seinem Charme verloren.
Darwyn Cooke/Dave Stewart – DC: The New Frontier, Vol. 1/2
Mitte der 50er Jahre treffen sich in den USA anscheinend alle Superhelden, die im DC-Universum zu Hause sind und verteidigen mal eben die Welt gegen Außerirdische. Klingt erstmal bescheuert, macht aber wahnsinnig viel Spaß, weil jede Figur genug Hintergrund bekommt, um ihr Tun zu erklären, weil viele, viele Storylines gleichzeitig ablaufen, bis alles im bunten Finale zusammenkommt, und weil der gesamte Stil so herrlich naiv-fortschrittsgläubig ist. The New Frontier fühlt sich an wie ein Propagandafilm der US Army für Astronauten, appelliert dauernd an hehre Werte, ohne dabei zu moralinsauer zu werden und schwappt fast über vor Begeisterung für Jetpiloten und Raketen, die vielleicht irgendwann mal zum Mond fliegen werden. Ich fand’s sehr unterhaltsam.
Frank Miller/David Mazzucchelli/Richmond Lewis – Batman: Year One
Der Beginn der Freundschaft zwischen Batman und Jim Gordon. Laut Wikipedia und IGN Comics der beste aller Batmans. Kann ich nicht beurteilen, hat mir aber sehr gut gefallen.
Darwyn Cooke/Matt Hollingsworth – Catwoman: Selina’s Big Score
Sehr bunt, eher ein Heist-Movie als ein Comic. Selina Kyle alias Catwoman versucht, eine Bande von Komplizen zusammenzutrommeln, um einen Millionenraub zu begehen. Natürlich gibt es Gegner und Freunde und Leute mittendrin, egal, schnelle Geschichte, ungewohnter Zeichenstil, sieht alles eher wie mit Pinseln gemalt als feinlinig gezeichnet aus. Gute Sache.
Karen Duve – Taxi
Mal wieder was ohne Bilder. In Taxi schreibt Karen Duve über eine junge Frau, die nach der Schule Taxifahrerin wird, weil ihr nichts Besseres einfällt und sie Geld braucht. Die Zeit hinter dem Steuer wird deutlich länger als geplant, und ihr ganzes Leben gruppiert sich schließlich um ihre nächtlichen Arbeitszeiten, seltsame Fahrgäste und Kollegen, die zu Lebengefährten und Wohnungsnachbarn werden.
Immer, wenn ich Karen Duve lese, stolpere ich über Sätze, die mir kurz den Atem stocken lassen, weil sie in irgendwelche Kerben hauen, die ich mit mir rumtrage, ohne es zu wissen. Sie ist mir bis jetzt in jedem Buch sehr nahe gekommen, weswegen ich schon im Vorfeld weiß, dass ich das Buch, das ich gerade lese, a) verschlingen werde und b) dauernd damit ringe, es wegzulegen. Ich kenne keine andere Autorin, deren Stil, Themensetzung und Wortwahl mich so mitnehmen. Und so war auch Taxi eher eine Katharsis als ein entspanntes Leseerlebnis. Aber genau wie ihre anderen Bücher ist es eine absolute Empfehlung.
Jeph Loeb/Tim Sale – Catwomen: When in Rome
Den habe ich geliebt – und zwar, weil er nicht den üblichen düsteren, unheilsschweren, das-Schicksal-von-Gotham-City-hängt-von-mir-ab-Tonfall hat, sondern ganz im Gegenteil fast wie eine Sitcom oder ein Buddy Movie daherkommt. Catwoman verschlägt es nach Rom, wo sie mit dem Riddler fertigwerden muss und sich Batman in ihre Träume schleicht. Sehr unterhaltsam und wunderbar getextet. Deswegen bin ich dem Autor/Zeichner-Duo Loeb/Sale erstmal treu gelieben mit:
Jeph Loeb/Tim Sale – Batman: The Long Halloween
Eine laaaange Serie von Morden an der Falcone-Familie, die immer an Feiertagen stattfinden, beschäftigt Batman. Und Commissioner Gordon. Und Staatsanwalt Harvey Dent, der im Laufe der Serie zu Two-Face wird. Mit Gastauftritten von Catwoman, dem Joker, Poison Ivy, dem Pinguin, Mad Hatter, dem Calendar Man, Scarecrow und Solomon Grundy. (Nebenbei: noch mehr Feinde, die ich aber noch nicht kennengelernt habe, finden sich hier. Sehr praktisch for future reference.) Der Band ist sehr episch, sprengt teiltweise die gewohnten Tableaus, um für ein Bild eine ganze Doppelseite zu opfern, was sich auch immer lohnt.
Jeph Loeb/Tim Sale – Batman: Dark Victory
Nochmal das gleiche Team, noch ein Batman – und zu den ganzen Fieslingen kommt jetzt auch noch Nervbratze Robin. Den Kleinen mag ich ja (noch?) gar nicht, was einerseits mit meiner generellen Abneigung Kindern gegenüber zu tun haben mag, andererseits meiner Abneigung altklugen Kindern in komischen Kostümen gegenüber. Der zweiten Sorte begegne ich im Alltag netterweise so gut wie nie, und auch Dark Victory hätte halbwegs ohne den Zwerg funktioniert. Gut, die schöne Parallele der beiden Waisenjungs passt natürlich prima, aber das ganze Konzept „Lonesome Wolf kriegt einen Sidekick“ mag ich nicht wirklich. Trotzdem hat mir Dark Victory gefallen, einfach weil ich anscheinend alles mag, was Loeb und Sale zusammen produzieren.
Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 2: Im Schatten junger Mädchenblüte
Der kindliche Erzähler, der von Monsieur Swann und seinen Lebensumständen fasziniert ist, über die wir im ersten Band der Recherche viel erfahren haben, verliebt sich im zweiten Band in Swanns Tochter Gilberte – und 700 Seiten später als Jugendlicher gleich in eine ganze Schar junger Mädchen, die er im Badeort Balbec kennenlernt. Diese Schar ist die titelgebende Mädchenblüte: ein Bukett junger Damen. Wir lernen Albertine kennen, die den Erzähler abweist, und damit ist das Buch dann zuende.
Wie schon in den Bemerkungen zum ersten der sieben Bände angemerkt: Die Welt fühlt sich anders an, wenn man Proust liest. Jede Zeile nimmt einen mit, mal in gefühlte Gemäldegalerien, dann in das mondäne Paris der Jahrhundertwende, dann in beeindruckende Landschaften; alles passiert in Sequenzen und Andeutungen und wenig in einer logischen Abfolge, wie ich sie aus „normalen“ Büchern gewohnt bin. Man muss sich immer ein, zwei Seiten in den Stil reinkämpfen, aber dann kann man das Buch kaum weglegen. Wie auch mein Zahnarzt feststellen musste, auf dessen Stuhl ich die Wartezeit mit Marcel überbrückt habe und über dem ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass inzwischen Arzt und Arzthelferin amüsiert um mich rumstanden und mir beim Lesen zuschauten. Ich war selten so entspannt beim Zahnarzt.
Frank Miller/Lynn Varley – The Dark Knight Strikes Again
Nach gefühlten 100 guten Comics musste endlich mal ne Gurke kommen – hier ist sie. The Dark Knight Strikes Again hat gute und spannende Ansätze wie die mediale Gleichgültigkeit der Amerikaner, die sich mehr darüber aufregen, dass eine Band sich auflöst als dass ihr Präsident nur ein Hologramm ist, das von Bösewicht Lex Luthor gesteuert wird. Außerdem spannend: dass Miller, der aus Batman den düsteren Ritter gemacht hat, ihn jetzt auf ein bonbonbuntes Metropolis loslässt und damit seine eigene Kreation wieder vom Sockel reißt. Das war’s dann aber auch schon; der Rest ist wildestes Rumgehüpfe der Superheldenriege, die hier aus lauter Charakteren besteht, die nur Namen sind und keine Personen, die mir irgendwas bedeuten. Und während mir die Zeichnungen (wie immer bei Frau Varley) gut gefallen haben, war die Kolorierung doch eher von der Sorte „Zu viel Löschpapier auf der Zunge und zu oft das Photoshop-Tutorial „Farbverläufe“ mitgemacht“.
Edit: Der Kerl macht mich gerade grinsend (überheblich grinsend!) darauf aufmerksam, dass Frau Varley die zugekiffte Koloristin war und die Zeichnungen von Herrn Miller stammen. Dann hab ich das bei Ronin also auch falsch verstanden. Comics und ihre vielen Verfasser sind viel zu kompliziert bei diesen Temperaturen.
Gustave Flaubert – Madame Bovary
Ich muss gestehen, ich habe von französischer Literatur nicht die Wahnsinnsahnung, daher kann ich Frau Bovary nirgends einordnen und muss mich auf die Wikipedia verlassen:
“(…) the novel is now seen as a prime example of Realism, a fact which contributed to the trial for obscenity (which was a politically-motivated attack by the government on the liberal newspaper in which it was being serialized, La Revue de Paris). Flaubert, as the author of the story, does not comment directly on the moral character of Emma Bovary and abstains from explicitly condemning her adultery. This decision caused some to accuse Flaubert of glorifying adultery and creating a scandal.
The Realist movement used verisimilitude through a focus on character development. Realism was a reaction against Romanticism. Emma may be said to be the embodiment of a romantic; in her mental and emotional process, she has no relation to the realities of her world. She inevitably becomes dissatisfied since her larger-than-life fantasies are impossible to realize. Flaubert declared that much of what is in the novel is in his own life by saying, “Madame Bovary, c’est moi” (“Madame Bovary is me”).
Madame Bovary, on the whole, is a commentary on Flaubert’s view of a self-satisfied, deluded, bourgeois culture of his time. Flaubert’s contempt for the bourgeoisie is expressed through his characters: Emma and Charles Bovary lost in romantic delusions; absurd and harmful scientific characters, a self-serving money lender, lovers seeking excitement finding only the banality of marriage in their adulterous affairs. All seek escape in empty church rituals, unrealistic romantic novels, or delusions of one sort or another.”
Ich fand die Übersetzung teilweise etwas altbacken, sofern ich das überhaupt beurteilen kann (mein Reclamheft wurde 1972 herausgegeben), aber im Großen und Ganzen habe ich das Buch sehr gerne gelesen. Ich fand es sehr spannend zu sehen, dass dieses irreale Wunschdenken nach Luxus und Status, ohne etwas dafür tun zu müssen bzw. aus dem Irrglauben heraus, dass einem das zustehe, nicht erst im Zeitalter der Fernsehsuperstars und Models, die auf der Straße entdeckt werden, entstand, sondern anscheinend schon etwas älter ist. War mir nicht so klar. (Menschen! Alle bekloppt hier.)
Annett Gröschner – Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus
Ein wunderbar melancholisches Buch, das 20 Reportagen aus den Berliner Verkehrsbetrieben vereint. Gröschner beobachtet die Menschen im Bus, in der Bahn und die Umgebung, durch die sie die BVG trägt, und erzählt zu allem und jedem eine feine Anekdote. Zum Beispiel zur Marzahner Promenade:
„Die Geschichte dieses Wohngebietszentrums ist typisch für die Planungen der achtziger Jahre. 1979 wurde dem Projektierungskollektiv des Wohnungsbaukombinats Berlin die Gestaltung der Geschäfts- und Wohnbauten entlang der späteren Marzahner Promenade im Wohngebiet 3 übertragen. Erst 1986 wurde das erste Gebäude, das Hauptpostamt Marzahn, übergeben. Das Atriumhaus galt als besondere Leistung der DDR-Architektur. Peter Kahane hat 1989 einen Film über die Schwierigkeiten bei Aufbau des Stadtteilzentrums gedreht – „Die Architekten“. Er erzählt von den Desillusionierungen eines jungen Architektenkollektivs, das ein Stückchen Postmoderne in Marzahn errichten wollte und immer wieder an Parteidoktrinen, Plankorrekturen und Lieferschwierigkeiten der Betonwerke scheitert, bis einer nach dem anderen die Gruppe verläßt. Es ist ein bedrückender Film. Als er in die Kinos kam, gab es die DDR nicht mehr. Läuft man heute über die Marzahner Promenade, hat man den Eindruck, als seien alle Auseindersetzungen sinnlos gewesen.“
Wenn ich das nächste Mal in Berlin bin, fahre ich eine der Strecken ab und gucke, wie sie sich seit 2002, dem Erscheinungsdatum des Buchs, verändert hat. Und vielleicht können die Berliner das Buch ja auch mal lesen und mir sagen, ob es wirklich so melancholisch ist oder ob ich nur Heimweh hab.
Frank Miller/Lynn Varley – Elektra Lives Again
Dieser Elektra-Band hat laut Kerl und Wikipedia eine Art Sonderstellung, weil er nur als Hardcover erschienen ist. Die Zeichnungen ähneln teilweise Gemälden, so dicht und fast plastisch sind die Farben und ihr Auftrag. Die Story selbst ist inhaltlich und optisch eine Mischung aus Träumen und Trauer; Daredevil verarbeitet den Tod Elektras, und das wird nicht nur durch die Geschichte transportiert, sondern eben auch durch die Bilder. Kann ich schwer erklären (ich scheitere immer noch an Comicrezensionen, weil so vieles neu ist, auf das ich achte), hat mich aber durchaus fasziniert. Für den Preis waren es ein paar Seiten zu wenig, und selten ist mir aufgefallen, wie sehr Comiczeichnen eine Entschuldigung für erwachsene Männer ist, überdimensonierte Frauen in engen Kostümchen zu zeichnen. Jeder Nippel wie Arno Brekers Schamhaare, aber Bullseyes Penis nur angedeutet. Isklar.
Neil Gaiman/Chris Bachalo, Mark Buckingham, Mark Pennington – Death: The Time of Your Life
Hm. Konnte man gut in einer Stunde runterlesen, fand ich aber als Comic ein bisschen dürftig. Viel mehr Text als stimmungsvolle Bilder. So ein bisschen Festival des erzählten Films mit Powerpoint-Folien. Die Geschichte selbst hat mir gut gefallen (Das Leben als Popstar versus Familie und Beschaulichkeit), aber bei Comics möchte ich doch lieber was zum Gucken als zum Lesen haben. (Im Idealfall beides. You know.)
Frank Miller/Bill Sienkiewicz – Elektra: Assassin
Mindblowing. Mir fällt kein gutes deutsches Wort für dieses Buch ein, daher: mindblowing. Die Geschichte erschließt sich erst nach ungefähr drei von den acht Kapiteln; davor hat man zwar eine Ahnung, was passiert, aber so richtig sicher sein kann man sich nicht. Und auch danach wechseln Freund und Feind ganz gerne mal die Seiten, und der ganze Wust aus Menschen, Übermenschen, Klonen und Mischungen aus allen löst sich auch nie ganz auf, sondern verwirrt bis zum Schluss – mit Schauplätzen, Zeitsprüngen und Psychospielchen. Elektra: Assassin hat mich nicht nur durch die Story fasziniert, die ich mir eher erkämpfen musste als dass sie mir erzählt wurde, sondern vor allem durch die Bilder: ihre Vielfalt, ihre Präzision, ihre Farbigkeit (ein kleiner Einblick in die Kunst von Bill Sienkiewicz ist hier zu finden). Wenn ich nicht schon von Comics begeistert gewesen wäre – spätestens hier hätten sie mich gehabt.
Joss Whedon/Brett Matthews/Will Conrad – Serenity: Those Left Behind/Serenity: Better Days
Och jo. Nach dem kurzen Leben der TV-Serie Firefly kam noch ein Kinofilm, der mich nicht umgehauen hat, aber recht unterhaltsam war – wenn auch einer meiner Lieblinge dran glauben musste. Der ist netterweise in den Comics wieder dabei, warum auch immer. Die Storys scheinen mal Serienfolgen gewesen zu sein oder zumindest Ansätze, denn so ganz reichen sie nicht an die TV-Drehbücher ran. Da fehlt dann doch ab und zu die Raffinesse oder die große Überraschung zum Schluss. Ein paar gute Sätze sind drin, aber auch nicht die Menge und Qualität, die man von Firefly gewohnt ist. Kann man lesen, kann man aber auch lassen.
Scott McCloud – Understanding Comics
Scott McCloud hat einen Comic darüber gemacht, wie Comics entstanden sind, was sie als Kunstform bedeuten und wie sie „funktionieren“. Wobei „funktionieren“ nicht bedeutet, dass McCloud dem Leser etwas über Perspektive oder Männchenzeichnen erzählt, sondern mehr in die Tiefe geht. So erklärt er zum Beispiel, was the gutter ist – nämlich die Leere zwischen zwei Panels, die der Leser selbständig ausfüllen muss (closure) und die den Konsum von Comics eben etwas schwerer macht als einen Film zu gucken, wo man alles sieht oder ein „normales“ Buch zu lesen, in dem jeder Satz eine Botschaft ist und wir im Prinzip keine mehr suchen müssen. Sehr verkürzt wiedergegeben, ich weiß. Natürlich hat Literatur auch Inhalte, die zwischen den Zeilen stehen oder dechiffriert werden müssen, aber diesen wirklich Sprung, den man optisch von einem Panel zum anderen macht und der mehr ist als nur der Blick von A nach B, den gibt es eben nur im Comic. Was eine Art des Lesens ist, an die man sich erst gewöhnen muss.
Viel spannender als dieses Handwerkszeug waren für mich aber die historischen und soziologischen Geschichten, die McCloud auftischt. So beschreibt er, wie sich Kunst vom Ikonografischen (Höhlenmalereien) über sehr realistische Darstellungen (à la Dürer) wieder hin zum Ikonografischen (Impressionismus, Kubismus, Expressionismus uswusf) gewandelt hat, was bedeutet, dass heute alles möglich ist. Eine sehr gute und ausführliche Zusammenfassung des Buchs steht hier, reingucken kann man hier. Ein kleiner Kaufhinweis: Ich glaube, wenn ich nicht wenigstens zehn Comics gelesen hätte, wäre mir dieses Buch egal gewesen, weil es voraussetzt, dass man diesem Medium eine gewisse Faszination entgegenbringt.
Scott McCloud – Reinventing Comics
Der Nachfolger zu Understanding Comics beschäftigt sich mit den Problemen, die Comics lösen müssten, um akzeptierter zu werden bzw. größere Leserkreise zu erreichen. Das geht los bei mehr Frauenfiguren und mehr unterschiedlichen Rassen als Hauptfiguren oder auch als Produzenten und endet bei den neuen Möglichkeiten, die das Internet für digitale Produktion und damit der Abkopplung von Verlegern, Druckereien, Auslieferern und Comicläden bietet. Das Buch ist im Jahr 2000 erschienen, und daher sind einige Ansagen McClouds schon überholt bzw. wir warten noch darauf, dass sie funktionieren (Micropayment). Trotzdem bietet auch dieser Comic einige tiefe und überlegenswerte Einblicke in das Medium – und liest sich genauso gut weg wie der erste Band.
Will Eisner – Comics and Sequential Art
Will Eisner ist der creator des Spirit und lehrte an der School of Visual Arts in New York. Comics and Sequential Art ist quasi der verkürzte Kurs zum Nachlesen. Eisner erklärt anhand seiner eigenen Werke Eigenschaften von Comics wie Perspektive, wie ein Panel Stimmungen übertragen kann, wo am besten die Sprechblase zu stehen hat usw. Ich habe das Buch wie Sekundärliteratur gelesen, also nicht besonders emotional. Aber beim nächsten Comic, den ich in der Hand hatte, sind mir auf einmal viele Dinge aufgefallen, die ich vorher nicht gesehen habe. Sehr spannend.
Warren Ellis/Darick Robertson – Transmetropolitan: Back on the Street
Danke für die Empfehlung, hat sich gelohnt. In Transmetropolitan geht es um den nöligen Journalisten Spider Jerusalem, für den Hunter S. Thompson Modell gestanden hat. Spider verlässt seine Bergeinöde, um in der verruchten Großstadt Stoff für Bücher zu finden, die er seinem Verleger noch schuldet. Die einzelnen Geschichten verbinden sich nur halbwegs schlüssig zu einem Band, und ich ahne, dass sie als Einzelhefte mehr Spaß gemacht hätten. (Ein Band = zehn Hefte.) Oder anders: Ich muss dringend noch die weiteren neun Bände kaufen. Das erste Heft gibt’s hier als PDF (12 MB).
Frank Miller – Sin City: The Hard Goodbye/Sin City: A Dame to Kill For
Sin City bzw. einen Band davon hatte ich vor Jahren, als der Film rauskam, schon mal quergelesen und fand ihn anstrengend, aber grandios bebildert. Anstrengend finde ich ihn immer noch – Frauenfiguren, die rotzige Ausdrucksweise, die direkt aus schlechten pulps kommt –, aber gleichzeitig unglaublich konsequent. Und jetzt, wo ich ein paar bunte Vergleiche habe, kommen mir die holzschnittartigen Schwarzweißbilder noch revolutionärer vor. Außerdem mochte ich die Zusammenhänge in den beiden Bänden, die in den weiteren wahrscheinlich nochmal aufgegriffen werden: Panels, die man aus dem einen Band kennt, wiederholen sich im anderen – aber diesmal sieht man sie aus einer anderen Perspektive, weil jemand anders der Erzähler ist.
Ich glaube, jetzt hab ich alle Millers durch, die das Kerl’sche Comicregal bevölkern. Reicht dann auch erstmal mit dieser Machosprache.
Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 3: Guermantes
Von den drei ersten Bänden der Recherche der herausfordernste. Gefühlt die Hälfte der gut 800 Seiten spielt in zwei Pariser Salons, auf denen jede Person ausführlich vorgestellt wird – was mit all dem Innenleben, das Proust beschreibt, großartig ist. Aber: Dann geht es in die Gespräche, und diese drehen sich unter anderem um Maler, die ich nicht kenne, die Bilder gemalt haben, die ich nicht kenne, die in Schlössern hängen, die ich nicht kenne, in denen Hoheiten wohnen, die ich nicht kenne. Bei den ersten beiden Bänden habe ich recht wenig Zeit im Anhang verbracht, beim dritten Band habe ich gleich mein Lesezeichen im hinteren Teil des Buchs gelassen, weil ich alle drei Minuten was nachgucken musste. (In diesem Zusammenhang: whatever happened to the good old Fußnote?) Ob es nun politische Anspielungen aus der Zeit um die Jahrhundertwende sind, Metaphern, die ich alleine nicht deuten konnte, Straßennamen in Paris, Hutmacher, Opernsängerinnen oder Möbeltischler – alles, was Proust erwähnt, hat irgendeine Bedeutung, und die wäre ohne den Anhang völlig an mir vorbeigegangen*. Aber im Zusammenspiel mit den ausgezeichneten Randbemerkungen war es nicht nur der herausforderndste, sondern auch der bisher lohnendste Band. Es fühlt sich an, als ob man auf einem alten Speicher rumklettert und immer mehr verstaubtes Zeug findet, und je länger man darin herumwühlt, desto besser passt alles zusammen. Ich bin mir sicher, dass ich damit Proust aber sowas von gar nicht gerecht werde, aber ich mag diesen alten Speicher von Seite zu Seite mehr. Hab ja auch nur noch 2.723 vor mir.
* (See? FUSSNOTE!) Ich bin inzwischen im vierten Band Sodom und Gomorrha (Suhrkamp Taschenbuch 3644, 1999), und dort schreibt der Kommentator über diesen Satz „Ich glaube, ich täusche mich nicht, Sie sind doch auch aus Zürich, ich meine, ich bin Ihnen dort beim Antiquitätenhändler begegnet“ (Seite 13): „Der Umgang mit Proust lehrt, daß kaum etwas in seinem Roman zufällig ist. Um so ärgerlicher ist es für einen Proust-Kommentator aus Zürich, eingestehen zu müssen, daß er an dieser Stelle vor einem Rätsel steht.“ (Seite 798)
Jeph Loeb/Tim Sale – Wolverine/Gambit: Victims
Mein erster Comic aus der X-Men-Reihe. War nett. Und damit ist nicht die kleine Schwester von Scheiße gemeint, sondern: war nett. Die Zeichnungen fand ich nicht herausragend, aber nett, die Story nicht umwerfend, aber nett, und diese Kritik ist nicht umfassend, aber nett.
Paul Dini/Bruce Timm – The Batman Adventures: Mad Love
Kaspertheater auf Papier. Der Joker kriegt einen liebestollen Sidekick namens Harley Quinn (Harlekin), die für ihn Batman erledigen will, was der alte Macho natürlich nicht gelten lassen kann. Das ganze ist quietschigbunt gezeichnet und fühlt sich wie die 50er Jahre an, hat aber trotzdem Spaß gemacht.
flix – Sag was
Ach, wie oft soll ich’s denn noch sagen. Flix ist toll, seine Bücher sind toll, seine Geschichten sind toll, seine Sätze sind toll, seine Webcomics sind toll, und ich ziehe jetzt nach Berlin, kette mich an seiner Haustür fest und hoffe, dass er mir alle Bücher signiert, die ich von ihm habe. Sind erst drei, aber alle anderen kaufe ich genau: jetzt. Und ihr bitte auch. Vor allem das hier, das sich vordergründig um eine Beziehung dreht und hintergründig um viel mehr, und weil es so gekonnt die Balance hält zwischen Drama und Komödie und ganz schrecklichen Momenten und ganz wunderbaren Gesten. (Ein Buch gelesen. Geweint.)
David Mack – Kabuki: The Alchemy
Ein Tipp vom Teilzeitgiganten, der mich außerdem auf diesen Artikel von HD Schellnack hingewiesen hat, in dem es um Mainstreamcomics (= Superheldenzeug) geht, die ich bis jetzt hauptsächlich gelesen habe. Kabuki: The Alchemy ist demnach so gar kein Mainstream – und für mich eine Offenbarung gewesen. Ich kann mich immer nur wiederholen: Die Welt der Comics ist für mich noch so unübersichtlich, dass ich mich momentan auf Empfehlungen verlasse oder eben das Kerl’sche Comicregal. Ich suche in der Gegend rum und gucke, kaufe, wenn mir der Zeichenstil gefällt oder die Story spannend klingt. Eigentlich nicht viel anders als wenn ich DVDs aussuche oder Bücher, aber da habe ich wenigstens Ansatzpunkte, die ich kenne: Schauspieler, die ich mag, oder Schriftsteller, deren Stil mir zusagt. Bei Comics fehlt mir das alles noch, und deswegen freue ich mich über jeden Hinweis auf Perlen, die mir sonst entgehen *hint* und lese alles, was Comicgate schreibt.
Kabuki ist eine mehrteilige Serie – und warum mir ausgerechnet der letzte Teil empfohlen wurde, weiß ich nicht. Allerdings ahne ich, dass ich die anderen Teile jetzt nicht mehr lesen müsste, wenn’s mir nur um die Story ginge, denn die schwingt immer mit. Dass ich sie trotzdem lesen möchte, liegt an den Bildern. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich eine graphic novel im Wortsinne zu lesen. Also eine Geschichte, die sich grafisch entfaltet und zusammen mit dem Text einen sehr dichten Eindruck hinterlassen hat. The Alchemy arbeitet eher mit Collagen als mit klassischen Zeichnungen, obwohl die auch vorkommen. Meist sieht eine Seite aber aus wie eine Schreibtischoberfläche oder ein Skizzenblock: 3D-Elemente in Fotoform oder ausgeschnitten treffen auf Kritzeleien, ein zerbrochener Fächer begrenzt die Panels, Post-its kleben auf Aquarellbildern … und so kreativ und, ich möchte sagen: fließend die visuellen Eindrücke sind, so ist auch die Geschichte. Kabuki fängt ein neues Leben an, sucht nach einem neuen Namen und einer neuen Berufung. Die findet sie im Schreiben, und das ist dann auch im Prinzip die gesamte Geschichte. Die Story entfaltet sich eher in Ãœberlegungen, Gedanken, Träumen, den Seiten eines Kinderbuchs und Briefen, die Kabuki an eine gewisse Akemi schreibt, deren Name ein Anagramm für I Make ist. Manche Sätze sind fiese Glückskeksweisheiten (dieser Kritik kommt Autor David Mack aber gleich am Anfang des Buches entgegen, wo er eine Seite fast ausschließlich mit Glückskekszetteln gestaltet), manche sind Zitate, wie sie auf jeder Aphorismenseite im Internet vorkommen, aber manche geben dem Kopf diesen gewissen Kick, der einen dann nicht schlafen lässt oder einen dazu bringt, das eigene Schaffen zu überdenken – und sich zu fragen: Was geht denn noch? Was kann ich noch machen? Und wieso warte ich darauf, bis mir jemand eine Erlaubnis dazu gibt anstatt einfach *jetzt* mit irgendwas anzufangen?
Noch eine große Empfehlung. DJ Osaka, ein Freund vom kettenrauchenden, jägermeisterschluckenden Hector, verschwindet eines Abends während eines Gigs. Hector macht sich auf die Suche und trifft dabei nicht nur eine scheinbar Geistesgestörte, die mit schwarzer Farbe „Portale“ verschließen will, sondern auch einen gerade verstorbenen Kumpel, einen kleinen Jungen, dessen Vater von Parasiten befallen ist, die nur er sehen kann, und viele weitere Menschen und … äh … Wesen, die alle eine Mission haben, zu der Osaka der Schlüssel ist. Hector Umbra vermischt sehr gekonnt das reale München (ich sage nur: Hubbsi) mit einer völlig irrwitzigen Geschichte von Wahnvorstellungen. Man kann sich nie sicher sein, was auf der nächsten Seite passiert, und das Ende setzt allem nochmal eine Krone auf. Ich fand die Zeichnungen und die Kolorierung sehr gelungen, die Dialoge noch viel mehr, und würde Herrn Umbra gerne durch weitere Bände begleiten.
Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 4: Sodom und Gomorrha
Habe ich oben den Anhang gelobt? Ziehe ich hiermit zurück. Relativ zu Beginn des vierten Bandes so: „Vorahnung auf den Tod von xy.“ Ich so: „Waaah! Hey, Anhang, es gibt noch Leute, die wirklich nicht wissen, was in der Recherche passiert! Lass das Spoilern!“ Anhang so: „Warte, ich hab noch mehr Plotpoints zum Verraten. Also:“ Ich so: „Waaah!“ Hmpf. Das Tolle ist: Noch ist xy am Leben, das heißt, ich habe noch drei Bände mit Todesvorahnungen vor mir. Oder auch nicht. Vielleicht haucht er/sie ja schon im fünften Band sein/ihr Leben aus. Notfalls guck ich halt IM ANHANG nach.
Der vierte Band hat den Themenschwerpunkt Homosexualität. Der Titel ist dazu der Schlüssel: männliche Homosexuelle werden als Bewohner Sodoms bezeichnet, weibliche als Bewohnerinnen Gomorrhas. Proust skizziert die damals gängige „wissenschaftliche“ Erkenntnis, dass Schwule Zwitterwesen seien, die eigentlich lieber eine Frau geworden wären. Deswegen darf eine Hauptfigur auch auf einmal leicht weibliche Wesenszüge haben, während eine andere Figur – nämlich die Geliebte des namenlosen Erzählers – plötzlich ständig in Gefahr schwebt, von ihren Freundinnen verführt zu werden. Literarische locker room fantasies am Strand von Balbec. Ich gebe zu, dass ich bei diesem Band des Öfteren ungläubig geschnauft habe, so seltsam ist auf einmal der Umgangston Prousts mit seinen Figuren und so nervig die Verhaltensweise des Erzählers („Morgen halte ich um ihre Hand an. Oder ich mach mit ihr Schluss“). Natürlich klopfe ich mir dafür immer sofort auf die Finger und murmele, Weltliteratur, Weltliteratur!, aber ich gebe zu, dass ich mich durch diesen Band eher gequält anstatt lustvoll fortbewegt habe. Trotz der vielen angedeuteten Kussszenen. Hui.
Mary Ann Shaffer & Annie Barrows, The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society
Eine freundliche Zuwendung der Kaltmamsell, über die ich mich sehr gefreut habe. Guernsey ist ein Briefroman – oder eher: ein Roman, der in Briefen, Telegrammen und Notizen erzählt wird. Was eigentlich egal ist, denn die Form verschwindet sehr schnell hinter ihrem Inhalt. Die Journalistin und Autorin Juliet Ashton hat während des 2. Weltkriegs eine Kolumne und ein Buch geschrieben und ist nun, kurz nach Kriegsende, auf der Suche nach einem neuen Stoff. Eines Tages erhält sie einen Brief von der Insel Guernsey: Ein Mann schreibt ihr, er besäße ein Buch, das einmal ihr gehört habe. Sie fangen an zu korrespondieren, gleichzeitig erhält Juliet den Auftrag, eine Kolumne über die Liebe zum Lesen und zu Büchern zu schreiben, und so entspannt sich ganz unaufgeregt eine sehr vielschichtige Story. Es geht nicht nur um Bücher und wie sie uns retten, sondern auch um die Besetzung Guernseys durch die Deutschen, die Folgen für die Insel bzw. deren Bewohner, gute und schlechte Taten und ihre Folgen und wie scheinbare Kleinigkeiten große Auswirkungen haben. Guernsey ist eines von diesen charmanten Büchern, die einen warm umfangen und nicht mehr loslassen, bis man sie durchgelesen hat – und dann gleich nochmal von vorne anfangen möchte, weil einem die cleveren, liebevollen, unterhaltsamen Charaktere so ans Herz gewachsen sind. Ganz große Empfehlung für ein paar entspannte Stunden am Lieblingsleseplatz.
Jiro Taniguchi – Vertraute Fremde
Als ich den Comic zum ersten Mal aufschlug, habe ich gedacht, huch, das sieht ja aus wie Hergé in Japan – und habe mich dann eitlerweise ein bisschen gefreut, als ich im Vorwort las, dass sich Taniguchi sehr von der frankobelgischen Comicszene hat inspirieren lassen. Die Geschichte von Vertraute Fremde kommt einem in Grundzügen ein bisschen bekannt vor – der erwachsene Hiroshi wacht eines Tages als 14jähriger Junge in seinem Elternhaus wieder auf und erlebt seine Jugend ein zweites Mal, allerdings mit dem Wissen eines 40jährigen –, aber das Buch kann doch überraschen. Erstens weil es eine mir persönlich fremde Welt beschreibt, nämlich die des Japan in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Zweitens, weil ganz langsam eine Familie sichtbar wird, die an der Oberfläche total normal ist, aber in ihrer Tiefe natürlich ganz anders. Mir hat Vertraute Fremde sehr gut gefallen; der Comic hat sich fast meditativ angefühlt, so spärlich und doch detailreich sind die Zeichnungen (fast alle schwarzweiß), das Tempo ist gemächlich, die Sprache sehr klar und präzise (Übersetzung von Claudia Peter), und die Figuren bekommen genug Platz, um weitaus mehr zu sein als Strichmännchen auf Papier.
flix – Da war mal was
Eine Sammlung von Geschichten über die DDR, die BRD (obwohl „wir im Westen“ das ja nie sagen sollten, weil das Ostslang war) und wie wir die andere Seite gesehen bzw. kennengelernt haben. Die einzelnen Storys sind autobiografisch und werden von verschiedenen Personen erzählt, weshalb die Bandbreite von „rührend“ über *facepalm* zu „erschreckend“ geht. Wie immer bei Flix: Empfehlung.
flix – Der Swimming-Pool des kleines Mannes
Eine Sammlung seiner täglichen Tagebuchcomics. Machen auf Papier genauso viel Spaß wie in diesem Interweb. Und man muss nicht 63 Mal klicken, um zu einem seiner Lieblinge zu kommen: den Skepsis.
Audrey Niffenegger – The Time Traveller’s Wife
Beim zweiten Lesen fallen einem die Ungereimtheiten der Story noch mehr auf als beim ersten, wo man einfach nur wissen will, wie das Buch ausgeht, aber auch diesmal hat die Unlogik von Zeitreisen mich nicht davon abhalten können, die Geschichte immer noch spannend und unterhaltsam zu finden. Diesmal habe ich mich allerdings schon des Öfteren gefragt, wie Henry jemals durch die Schulzeit gekommen ist, ohne unfreiwillig zeitzureisen (der Stress vor Prüfungen!), warum niemand der Eingeweihten RTL 2 was erzählt hat und wie groß die Liebe von Clare gewesen sein muss, jahrelang auf ihren Schatz zu warten. Hat ja schon was seeeehr altmodisches. Männe macht die Welt klar, und Mäuschen sitzt zu Hause und hofft, dass er vom Zigarettenholen wiederkommt.
Alan Moore/Eddie Campbell – From Hell
Ein 600 Seiten dicker Comic, in dem Autor Alan Moore und Zeichner Eddie Campbell alle Legenden und Fakten zusammentragen, die es über Jack the Ripper je gegeben hat. Die vermischen sie dann mit eigenen Ideen und Hintergrundstorys, und daraus ergibt sich ein sehr dichtes und sehr verstörendes Bild des viktorianischen Englands. From Hell liest sich, wie der Titel vermuten lässt, eher anstrengend; man muss sich schon ein bisschen Zeit nehmen für Zeitsprünge, Freimaurertheorien, eine Menge Biografien, die zusammenlaufen, manchmal sehr detailreiche Metzeleien und leider meiner Meinung teilweise schwer entzifferbare Sprechblasen. Wenn man sich erstmal in das düstere Werk reingekämpft hat, belohnt es mit den üblichen Moore’schen Ãœberraschungen wie plötzliche Sprünge in die Gegenwart, die dem Ganzen eine spannende Zeitlosigkeit verleihen. Ich fand es sehr bemerkenswert, dass ich 600 Seiten gelesen habe, ohne einmal zu denken, hach, schönes Buch, sondern die ganze Zeit nur darauf gewartet habe, dass die fiese Geschichte endlich zu Ende ist. Nicht nur weil es anstrengend zu lesen war, sondern weil man auf jeder Seite die absolut pessimistische Grundhaltung „Menschen? Alles Arschlöcher“ so richtig schön in die Fresse kriegt.
PS: Das Besondere an From Hell ist übrigens sein Anhang, in dem Moore so ziemlich zu jeder Seite erzählt, woher er diesen und jenen Fakt hat, was ausgedacht ist, warum es ausgedacht ist und wie gut das Buch ist, aus dem er den Fakt zitiert. Den Anhang zu lesen dauert ungefähr genauso lange wie das eigentliche Werk, und danach braucht man nochmal was zu trinken.
Nick Abadzis – Laika
Ein Tipp von Nerdcore, der mir schon in der Empfehlungsmail geschrieben hat, dass der Comic „heartbraking“ sei (und der selber auch mit den Tränen zu kämpfen hatte). Ihr ahnt, was kommt: Wenn schon ein Kerl einen Kloß im Hals hat, sieht das bei mir gleich doppelt so schlimm aus. Ich habe die letzten 40 Seiten des Comics nur unter Schniefen und mit erhöhtem Taschentuchverbrauch durchgehalten, so fies geht einem die Geschichte von Laika, dem ersten Lebewesen im All, ans Herz. Eigentlich doof, denn natürlich weiß man, wie die Story endet. Und genau das ist für mich ein Zeichen dafür, wie gut und intelligent dieser Comic ist: Gerade weil man weiß, was passiert, müsste man ja eigentlich auf alles vorbereitet sein. Ist man aber so gar nicht. Laika verwebt die Geschichte des leitenden Raketenentwicklers, der eine Gulag-Vergangenheit mit sich rumschleppt, mit der der Hundetrainerin und ihres Vorgesetzten und natürlich der fiktiven von Laika, einer Streunerin, die auf Moskaus Straßen eingefangen wird. Ganz vorsichtig und nie mit dem Holzhammer streut Abadzis Motive von Freiheit, Träumen, Schicksal und Loyalität, sei es dem eigenen Staat oder einer Person gegenüber, in die Geschichte. Die Zeichnungen sind relativ schlicht, was ich aber ganz angenehm fand, da ich mit dem Inhalt schon genug zu kämpfen hatte. Große Empfehlung.
Stevan Paul – Monsieur, der Hummer und ich
Den Herrn Paul kenne ich eher als den Herrn Paulsen, nämlich aus diesem Blog und seinem Foodblog Nutriculinary. Daher kenne ich auch seine Art, über Essen zu schreiben und habe mich daher sehr auf das Buch gefreut, auf die vielen Adjektive, die genauso lecker sind wie das zu beschreibende Objekt und über diese seltsame begeisterte Neugierde, die in jeder Zeile mitschwingt. Das Buch ist dann auch genau so, wie ich es mir vorgestellt habe: lauter kleine Geschichten aus der Küche, aus Sicht eines Gastes oder völlig andere Vignetten, in denen Essen eine Rolle spielt. Und Franz Josef Strauß. Und Opa Paulsen. Und Paul Bocuse. Ich habe jede einzelne geliebt und werde sofort den Kartoffelsalat nachkochen, denn netterweise gibt es zu jeder Geschichte das passende Rezept. Etwas zu nörgeln habe ich allerdings schon: Das Buch ist mit knapp 180 Seiten viel zu dünn! Herr Paulsen, ich erwarte dringend eine Fortsetzung.
Terry Moore – Strangers in Paradise (Pocket Edition 1)
Der erste Teil einer x-teiligen Saga über Francine und Katchoo, zwei junge Damen aus Houston. Die beiden beschäftigen sich sehr mit den Kerlen und wie nervig diese sind oder wie nett oder wie anhänglich oder oder oder, und nebenbei können sie sich nicht so recht entscheiden, ob sie selber nicht doch vielleicht auf Frauen stehen. Strangers in Paradise ist durchaus unterhaltsam, aber leider so gehaltvoll (und von den Storylines so weltfremd) wie eine Vorabend-Soap. Hat mich nicht richtig begeistern können. (Soviel zum Thema – laut Wikipedia – „Wir machen mal nen Comic für Frauen.“ Und: Ich hab immer ein schlechtes Gewissen, wenn mir Lesergeschenke nicht so recht gefallen.)
Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 5: Die Gefangene
Nach dem vierten Band, in dem ich dem Erzähler schon dauernd eine reinhauen wollte, ist der fünfte noch schlimmer – und bedrückender. Marcel kann sich immer noch nicht entscheiden, ob er Albertine liebt oder nicht, gesteht sich aber ein, dass er sie nur deshalb bei sich haben möchte, damit das kein anderer kann – und Albertine sagt zu allem ja, führt aber ein Doppelleben, hinter das Marcel allmählich kommt. Das Thema Homosexualität schwingt wieder bei allem mit; diesmal bekommt Charlus die Ablehnung seiner Umwelt zu spüren, während Marcel sich pennälerhaft ausmalt, was Albertine wohl mit ihren Gespielinnen macht. Der Tonfall des Buchs wird immer unangenehmer, die freudige Entdeckung seiner Umwelt weicht beim Erzähler nach und nach immer tiefergehenden Beobachtungen, die nicht nur ihm, sondern auch dem Leser allmählich an die Nerven gehen (nein, nicht auf. An). Auch in Die Gefangene treiben wir uns wieder auf einem Salon herum, der diesmal aber nicht vom üblichen Small Talk regiert wird, sondern von einem handfesten Eklat und sehr unschönen, direkten Worten. Ich war sehr überrascht, dass aus der plüschigen Recherche auf einmal ein finsteres Psychogramm geworden ist und bin gespannt auf die beiden letzten Bände.
John Berendt – The City of Falling Angels
Berendt beginnt sein „Sachbuch“ (mir gefällt hier der englische Ausdruck non-fiction besser, weil eben die Fiktion, die Erzählung, mit drin steckt) mit dem Brand des Opernhauses in Venedig 1996 und beendet es mit dem endgültigen Schuldspruch der Brandstifter und der glorreichen Wiedereröffnung 2003. Dazwischen beschreibt er den Prozess, aber einen viel größeren Raum nehmen weitere Bewohner Venedigs ein. Reiche Gönner, amerikanische Stiftungsgründer, die Mätresse von Ezra Pound, der Dichter Mario Stefani, der angeblich erfolgreichste Hersteller von Rattengift weltweit und viele weitere Personen erzählen Berendt aus ihrem Leben, und der schreibt das ganze relativ wertungsfrei auf. Mir hat Angels ein kleines bisschen weniger gefallen als das gefühlt viel dichtere Midnight in the Garden of Good and Evil, aber ich mag Berendt Stil sehr gerne, weil er immer ein Adjektiv parat hat, mit dem ich nicht gerechnet habe.
David Mazzucchelli – Asterios Polyp
Eine fantastische graphic novel. Asterios ist ein 50jähriger Architekt, von dem nie ein Gebäude gebaut wurde, weswegen er an einem College lehrt. Sein ganzes Leben ist für ihn ein Spiel der Gegensätze. Nie so simpel wie schwarz/weiß, aber sein arrogant-klares Weltbild kommt ihm ziemlich in die Quere, als er versucht, seine Ehe zu retten. Eines Tages schlägt der Blitz in sein Appartement ein; das entstehende Feuer verbrennt seinen gesamten Besitz, worauf er sich mit seinem letzten Geld eine Busfahrt in den mittleren Westen kauft und ein neues Leben als Automechaniker beginnt. Asterios Polyp erzählt nicht nur diese Geschichte, sondern auch die seiner Frau, seines toten Zwillingsbruders, einer Neuentdeckung von Orpheus in der Unterwelt, von neuen Kompositionstechniken und alten Gottheiten – und ist dabei auf jeder Seite eine optische Überraschung, obwohl alles wunderbar zusammenpasst. Und nebenbei: großartige Frauenfiguren.
(The Comic Reporter schreibt viel, viel mehr über Asterios. Und zeigt ein paar Bilder.)
Alison Bechdel – Fun Home: A Family Tragicomic
Fun Home ist eine sehr schlaue und poetische Autobiografie in Comicform, die sich auf wenige einschneidende Erlebnisse von Autorin Alison Bechdel konzentriert: ihr Coming-out, der Tod ihres Vaters, die Enthüllungen nach seinem Tod, die ihr eigenes Leben noch nachträglich beeinflussen bzw. die sie alte Erinnerungen reflektieren lässt. Das Buch fühlt sich sehr intim an; man kann Bechdel fast beim Denken und Fühlen zugucken, es scheint, als ob der Comic vor den Augen des Lesers entsteht, weil er sich so langsam und doch so zwingend entfaltet. Mir haben sowohl die Zeichnungen gefallen, die sehr detailreich waren und mich an die Ligne claire erinnert haben. Und noch mehr mochte ich den Tonfall, der erstens durch eine sehr starke weibliche Stimme beeindruckt und zweitens durch sehr kluge (manchmal etwas neunmalkluge) Anmerkungen zum großen Gatsby, Ulysses und, ja genau, dem ollen Proust, der mich schon seit Monaten begleitet.
Bryan Lee O’Malley – Scott Pilgrim’s Precious Little Life, Vol. 1
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das ein Leser- oder Followertipp war. Wenn ja, hab ich mal wieder ein schlechtes Gewissen, denn so toll fand ich die Wuselnase Scott mit seiner Band und seinem präpubertären Herzschmerz leider nicht. Die Zeichnungen waren mir zu beliebig (ich musste mich immer an Sommersprossen oder Frisuren orentieren, um festzustellen, wen ich gerade vor mir habe), und die Geschichte war dann auch eher ein auf 160 Menge Seiten gestreckter Facebook-Dialog („… und dann hab ich ne schräge Frau kennengelernt, für die ich meine jetzige Freundin totaaal vergessen hab.“ – „Ach was?“). Das Buch hat auch kein Ende, sondern einen Cliffhanger, aber selbst der hat mich nicht davon überzeugt, dass ich dringend die restlichen Bände kaufen müsste.
Marcel Proust/Eva Rechel-Mertens (Übers.) – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 6: Die Flüchtige
Wenn der Erzähler in den ersten fünf Bänden schon eine Menge Zeit mit Introspektive verbracht hat, dann macht er im sechsten fast nichts anderes. Seine Geliebte hat ihn verlassen, und er sinniert nun, wie er die Gute wieder zurückkriegt. Sie schreiben sich Briefe, für die man beide mal wieder gehörig durchschütteln möchte („Ich schreibe ihr, dass sie wegbleiben soll, denn dann weiß sie, dass sie zurückkommen soll“ – WAAAAH!), lernt aber gleichzeitig noch mehr über den anstrengenden Charakter der Hauptperson. Ich fand es wie immer sehr spannend, ihm bei seinen Gedankengängen zuzugucken, auch wenn sie mich wahnsinnig gemacht haben. Schließlich erhält Marcel eine Todesnachricht, und damit beschäftigt sich so gut wie der komplette Rest des Bändchens (420 Seiten ist für die Recherche ja lächerlich): Wie geht es Marcel beim ersten Lesen, wie beim zweiten, wie beim ersten Schock, wie beim allmählichen Vergessens der betreffenden Person. Hört sich wie immer spinnert an, liest sich aber unwiderstehlich.
Charles Burns – Black Hole
Spooky stuff. Diesen Comic habe ich abends nur gelesen, wenn ich wusste, dass der Kerl noch wach war, damit er mir notfalls eine plüschige Geschichte von regenbogenfarbenen Einhörnern und langhaarigen Prinzessinnen in ihren Unterwasserschlössern aus Gold erzählen könnte. Tagsüber war die bizarre Geschichte etwas leichter zu verdauen. Es geht um High-School-Schüler und -Schülerinnen, der Mode nach zu urteilen, in den 70er Jahren. Einige von ihnen sind von einer sexuell übertragbaren Krankheit befallen, was einigen von ihnen Schwänze wachsen lässt oder einem anderen einen zweiten Mund am Hals, der sogar sprechen kann. Das Buch dreht sich um vier Charaktere, erzählt die Geschichte von einem von ihnen, springt wieder zu den anderen, setzt alle vier in Verbindung und konzentriert sich wieder auf eine Figur.
Was das Buch so verstörend macht, ist nicht nur der Inhalt, den ich mal als Metapher auf der Erwachsenwerden und den schwierigen Umgang mit Sexualität deute, sondern die Zeichnungen. Das Buch ist gefühlt zu 80 Prozent schwarz, die weißen Flächen sehen aus wie mit dem Holzschnittmesser aus dem Papier gefräst. Die Bilder sind sehr präzise und gleichzeitig sehr reduziert, was die grotesken Krankheitsmuster noch unheimlicher erscheinen lässt. Und hinter allem scheint eine große, schwere Schwärze nur darauf zu warten, alles zu überfluten. Nicht unbedingt ein Gute-Laune-Buch, aber definitiv eins, das mich sehr beeindruckt hat.
Marcel Proust/Eva Rechel-Mertens (Übers.) – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit
Das große Finale – das sich gar nicht wie eins anfühlt, sondern eher wie ein langer Abschied von den vielen Figuren, die einen über 3.500 Seiten begleitet haben. Die Realität hält kurz Einzug in die Recherche: Der Erste Weltkrieg reißt einige der Charaktere mit sich, die Witwen gehen neue Verbindungen ein, und daraus entstehen neue Verwandschaftsverhältnisse, die beim letzten Salon des Buchs wie immer für Gesprächsstoff sorgen.
Das Hauptmotiv des siebten Bandes ist aber die Zeit. Endlich wird dem Erzähler klar, wie viel er schon davon verschwendet hat und wie wenig ihm noch bleibt. Er findet seine Berufung – Schriftsteller –, aber in dem Moment, in dem er weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll, naht sich ihm der Tod. Ganz blöd könnte man die vielen, vielen Buchseiten also mit „Nutze den Tag“ zusammenfassen, aber ich ahne, dass man damit Proust nicht ganz gerecht wird.
Wie es mir damit geht, eines der ganz großen Werke der Weltliteratur durchgelesen zu haben, habe ich hier aufgeschrieben.
Gerbrand Bakker/Andreas Ecke (Übers.) – Oben ist es still
Ganz andere Schiene als der Herr Proust. Wenige Worte, wenig, was passiert, karge Landschaft, viel Regen – und doch brodelt im ganzen Buch so viel Last, die Hauptfigur Helmer mit sich herumschleppt. Er ist 55, die eine Hälfte eines Zwillingspaares, und das Buch beginnt damit, dass Helmer seinen alten Vater vom Erdgeschoss in den ersten Stock des elterlichen Hauses trägt, damit dieser sterben kann. Im Laufe des Buchs erfahren wir, wie es der anderen Zwillingshälfte geht, dessen Freundin, deren Sohn und eben Helmer und seinem Vater, die viel Zeit aufarbeiten. Mit wenigen Worten und noch weniger Taten. Ich mochte die klare, einfache Sprache sehr gerne, die viel Raum für eigene Gedanken lässt und einen doch zielgerichtet an die Hand nimmt. Danke an Isa für den Hinweis.
Warren Ellis/Darick Robertson – Transmetropolitan 2 – Lust for Life
Der zweite Sammelband der Storys um Spider Jerusalem, dem Comicreporter, der Hunter S. Thompson nachempfunden wurde. Genauso gut wie der erste, wenn auch die Überraschung über die futuristische (und sehr anstrengende) Welt fehlte. Dafür versteckt sich in diesem Band zwischen den ganzen Schimpfworten, Obszönitäten, Folterfernsehen und sprechenden Polizeihunden eine Geschichte über eine Frau, die sich in unserer Zeit per Kryonik hat einfrieren lassen. Sie wird brutal in der Zukunft geweckt, auf die sie natürlich überhaupt nicht vorbereitet ist – und die sie sich garantiert etwas puscheliger vorgestellt hat. Ich fand das Gedankenspiel sehr interessant: Was ist mit den ganzen Nasen, die sich heute auf Eis legen lassen? Mal abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass man sie wiederbeleben kann, aber wenn doch: Wird es ihnen so gehen wie der Frau in der Geschichte, die vor allem feststellen muss, dass die Gegenwart den Besuch aus der Vergangenheit so gar nicht zu würdigen weiß? Ein fast poetischer Einschub im lauten Transmetropolitan.
Guido Sieber – Des Engels letzter Fall
Ein Relikt von 1992 aus dem Kerl’schen Regal. Optik: als ob ein schlechtgelaunter Max Beckmann Comics zeichnet. Sehr expressiv, vulgär – und damit sehr faszinierend. Sprache: selten so gelacht und politisch mehr als unkorrekt. In Engel geht es um einen, ja genau, Engel, der vom Teufel verführt wird, sich die Hölle mal anzugucken, weil in ihr deutlich mehr los ist als im Himmel, in den ja keiner mehr kommt, denn wer ist heute schon ohne Sünde. Oder wie der Engel es ausdrückt: „Wir kriegen nur noch Totgeborene, ewig Kranke, Verhungerte, na dritte Welt und so! Kein schöner Anblick! Das kann ich dir sagen! Kannst dir ja vorstellen, dass da nicht allzuviel zu tun ist. Die meisten von uns sind erstmal auf unbefristete Zeit zwangsbeurlaubt.“ — Teufel: „Junge, Junge.“ Ein zweiter Handlungsstrang beschäftigt sich mit Herrn el Lobo, einem Privatdetektiv, der eher damit beschäftigt ist, peinliche Anmachsprüche loszulassen als seinen Job zu machen, weswegen er über kurz oder lang den Engel trifft, der sich gerade auf verbotenem Terrain bewegt. Engel hat ein paar philosophische Einschübe, die aber netterweise fast untergehen im krachledernen Getümmel. Schönes Ding.
Kyle Baker – Why I hate Saturn
Auch schon etwas älter (1990) und daher teilweise leicht angestaubter Humor. Saturn erzählt von Anne, einer bewusst dauerbetrunkenen Schriftstellerin, die sich mit einer Kolumne über Wasser hält, keinen Führerschein oder ID hat und sich mit ihrem Kumpel Ricky total tiefsinnige Diskussionen darüber liefert, was Männer an Frauen tollfinden (hint: tits and ass). Der Comic liest sich wie eine gezeichnete Sitcom und hat teilweise sehr hübsche Captions, nervt aber nach einer kurzen Zeit ziemlich. Auch wegen der angesprochenen tits-and-ass-Problematik. Und der jammerigen Heldin.
Muriel Barbery/Gabriela Zehnder (Übers.) – Die letzte Delikatesse
Barberys erster Roman und gleichzeitig der vor dem Welterfolg Die Eleganz des Igels. Beim Igel mochte ich den versponnenen und teilweise arg überkandidelten Sprachstil ja ganz gerne, aber Delikatesse hat fast konstant genervt. Die Struktur ist allerdings spannend: Ein im Sterben liegender Restaurantkritiker erzählt davon, wie er ein letztes Mal ein bestimmtes Gericht essen will, wenn er nur wüsste welches, weshalb er sich in einer Rückschau an vieles erinnert, was er schon gegessen hat. Um seine Kapitel herum erzählen andere, wie sie diesen Kritiker zu Lebzeiten wahrgenommen haben: kurz gesagt, als Mistkerl. Das Dumme ist, dass Barbery zu wenig aus dieser Idee macht; die einzelnen Kapitel sind viel zu kurz, um Tiefe entwickeln zu können, weswegen die Hauptfigur ein blödes Klischee bleibt.
Das dazu auch noch einen ganz schlimmen Tonfall drauf hat, voller Worte, die schmeckig klingen sollen und doch nur schiefe Bezüge sind. Wie zum Beispiel „Die Fleischklößchen, mit dem gebührenden Respekt für ihre Festigkeit gebraten und trotz der Feuertaufe kein bißchen trocken, erfüllten meinen Mund des professionellen Fleischfressers mit einer warmen, würzigen, saftigen und kompakten Welle des Kauvergnügens. Die süßen Paprikaschoten, ölig und frisch, besänftigten meine von der männlichen Strenge des Fleisches beherrschten Geschmacksknospen und bereiten sie erneut auf diesen mächtigen Angriff vor.“
„Meinen“ Mund des Fleischfressers? „Welle des Kauvergnügens“? Und dann sind da noch etliche seltsame Ãœbersetzungsschnitzer drin, wie zum Beispiel „Ich machte einen langen Spaziergang auf der Omaha Beach“ – im Französischen ist „Strand“ weiblich, bei uns aber nicht. Ich weiß nicht, ob der Verlag Delikatesse innerhalb von fünf Minuten auf den Markt geworfen hat, als sich abzeichnete, dass Igel so toll laufen würde – wenn ja: dumme Idee.
(Für gute Fressbeschreibungen empfehle ich ja immer Herrn Paul. Bei dem klingt das nämlich so, als ob er alles wirklich gegessen hat anstatt sich in einem kleinen Schreibstübchen nur vorzustellen, wie wohl Frikadellen mit Gemüse munden.)
Daniel Clowes – Ghost World
Ich klaue für die Inhaltsangabe mal die Wikipedia leer –
“Ghost World follows the day-to-day lives of best friends Enid Coleslaw (formerly “Cohn”) and Rebecca Doppelmeyer, two cynical, pseudo-intellectual and intermittently witty teenage girls recently graduated from high school in the early 1990s. They spend their days wandering aimlessly around their unnamed American town, criticizing popular culture and the people they encounter while wondering what they will do for the rest of their days. As the comic progresses and Enid and Rebecca make the transition into adulthood, the two develop tensions and drift apart.”
– weil es die perfekte Inhaltsangabe ist. Und weil einige der benutzten Worte genau ausdrücken, warum mir Ghost World so gut gefallen hat: cynical, witty, tension, pseudo-intellectual, popular culture. Die beiden Mädchen schlendern durch eine Geschichte, die ein bisschen schwieriger zu erfassen war als sie es in „geschriebener“ Form gewesen wäre. Mir ist selten der gutter, der Raum zwischen den Panels, größer vorgekommen als hier. Sehr viel bleibt unausgesprochen, aber genau das macht das schmale Büchlein so gut.
Garth Ennis/Steve Dillon – Preacher Vol. 1: Gone to Texas
Jau. Satter Aufschlag. Die Preacher-Serie war ein freundlicher Lesertipp (ich weiß leider nicht mehr, ob per Twitter, Mail oder sonstwie), und auf diesem Wege möchte ich dem Leser ärgstens dafür danken, denn ich bin völlig hingerissen. Preacher erzählt die völlig absurde Geschichte von Jesse, einem Priester, der von einem Wesen namens Genesis besessen ist. Genesis ist das Ergebnis einer heißen Nacht zwischen einem himmlischen und einem höllischen Wesen. Und weil Genesis Jesse ganz schön nervt und nebenbei seine gesamte Kirche in Schutt und Asche gelegt hat, macht sich Jesse jetzt auf die Suche nach Gott, um ihm mal die Meinung über seinen Saustall da oben zu sagen. Ihm zur Seite stehen Cassidy, ein Vampir, und Tulip, seine Ex, die von Cassidy gerne Turnip genannt wird und ständig eine Knarre in der Handtasche hat. Ich könnte jetzt noch 30 Zeilen weitere hirnrissige Plotpoints aufzählen, aber stattdessen möchte ich euch Preacher einfach ans Herz legen. Die Zeichnungen sind eher naja, die zahlreichen Metzeleien gerade noch im erträglichen Bereich, aber dafür sind die Dialoge schön krachledern, und in die Hauptfigur würde ich mich, wenn sie auf einer Leinwand wäre, sofort verknallen.
Bill Watterson – The Complete Calvin & Hobbes
Wie Tim und Struppi – alle paar Jahre muss ich das einfach durchlesen. Denn “in the end, all our games turn into Calvinball.”
Garth Ennis/Steve Dillon – Preacher Vol. 2: Until the end of the world
Weiter geht’s mit dem Pastor und seiner Suche nach Gott. In diesem Sammelband erfahren wir mehr (als wir wissen wollen) über die Kindheit von Jesse Custer, wer sich hinter dem schicken Namen Jesus de Sade verbirgt und dass es eine Organisation namens grail gibt, die ganz eigene Pläne für die Welt hat, wenn Armageddon kommt und die Erde einen Erlöser braucht. Genauso wie der erste Band: Ich hab ihn atemlos verschlungen, aber glücklicherweise den dritten schon griffbereit neben mir gehabt.
Garth Ennis/Steve Dillon – Preacher Vol. 3: Proud Americans
Allmählich verstehe ich die Faszination von Comicserien: Genau wie Fernsehserien bieten sie die Möglichkeit, mal eben aus der Handlung auszusteigen und sich etwas näher mit der einen oder der anderen Figur zu beschäftigen, ihr mehr Hintergrund zu geben und so ihre Aktionen in der Gegenwart zu erklären. In Band 3 erfahren wir mehr über Jesses Vater und seine Zeit in Vietnam, wie Cassidy zum Vampir geworden ist und kriegen es weiterhin mit den Verschwörern vom grail zu tun. Weiterhin hohes Tempo und viel Blut – kurz: derbe Unterhaltung.
Garth Ennis/Steve Pugh, Carlos Ezquerra, Richard Case – Preacher Vol. 4: Ancient History
Hach, endlich andere Zeichner! Die Zeichnungen von Dillon sind, mit Verlaub, relativ eindimensional, weswegen ich es sehr genossen habe, hier endlich mal was zum Gucken zu haben. Die erste Geschichte in Ancient History, The Saint of Killers, befasst sich mit eben diesem, dem Saint of Killers, der von den Engeln auf Jesse angesetzt wurde. Hier erfahren wir, warum er so viel Hass in sich trägt und wie er zum Job des himmlischen Rächers gekommen ist. Die Bilder von Pugh und Ezquerra haben weitaus mehr Tiefe und vielfältigere Bildkompositionen von Dillon, weswegen mir dieser Band auch bisher am besten gefallen hat.
Richard Case darf sich dann in The Story of You-Know-Who an der Geschichte mit Arseface austoben, dem armen Kerl, der sich nach dem Tod von Kurt Cobain das Hirn rauspusten wollte, allerdings scheiterte und jetzt mit einem Gesicht wie ein Arsch rumläuft. Arseface ist ein sehr eigenwilliger comic relief, der sich von Anfang bis Ende durch die Preacher-Saga zieht und mir sehr ans Herz gewachsen ist. (Der Band nennt Arseface You-Know-Who, weil der Verlag das Wort arse nicht auf einem Titel sehen wollte. Meine ich jedenfalls irgendwo gelesen zu haben.)
In The Good Old Boys, dem dritten Teil des Bandes, darf nochmal Ezquerra ran und mit Dennis die fiesen Verwandten von Jesse wiederbesuchen, mit denen wir doch eigentlich schon abgeschlossen hatten. Auf den Teil hätte ich locker verzichten können, denn er hat so gar nichts mit der Priester-Handlung zu tun.
Garth Ennis/Steve Dillon – Preacher Vol. 5: Dixie Fried
Dieser Band spielt fast ausschließlich in New Orleans, es geht um Voodoo und wie Jesse endlich Genesis loswerden will, und nebenbei um Cassidy und eine Truppe von Vampirgroupies. Alles ein bisschen hektisch und seltsam – nicht ganz so mein Ding. Immer noch okay, aber hier hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass Ennis selbst nicht mehr wusste, wo die Reise hingehen soll. Deswegen wahrscheinlich auch die Liebeserklärung von Cassidy, die so gar nicht zu ihm passt und ihn allmählich zu einer Nervensäge macht, die er vorher absolut nicht war – was ich den Autoren ziemlich übel nehme.
Garth Ennis/Steve Dillon, Peter Snejbjerg – Preacher Vol. 6: War in the sun
Geht gut los, mal wieder mit einem anderen Zeichner, der uns mehr Hintergrund über Herrn Starr verrät, der den grail anführt und ein dickes Huhn mit Jesse zu rupfen hat. Dann darf wieder Dillon ran; jetzt scheint es zum Showdown zwischen dem grail und Jesse zu kommen – natürlich geht alles ganz anders aus als geplant, einer unserer Helden stirbt … oder nicht? und der Band endet mit einem riesigen Fragezeichen. Verdammte Cliffhanger.
Garth Ennis/Steve Dillon – Preacher Vol. 7: Salvation
Wieder ein langer Einschub, der Jesse zu einem Sheriff in einem Kaff in Texas macht. Er findet jemanden aus seiner Vergangenheit wieder, und endlich trifft er Gott, um sich endgültig mit ihm anzulegen.
Garth Ennis/Steve Dillon, John McCrea – Preacher Vol. 8: All hell’s a-coming
Nach acht Bänden endlich mal mehr zu Tulips Vergangenheit. Und allmählich steuert dann doch alles auf ein Ende zu. Reicht jetzt auch.
Garth Ennis/Steve Dillon – Preacher Vol. 9: Alamo
Yep, Ende. Ein bisschen zu viel krude Bibelkunde zum Schluss, aber immerhin ein Ende, das zur Serie passt, sowohl zum Tonfall als auch zu den Figuren. Wenn ich es den Jungs auch immer noch übelnehme, aus Cassidy ein Arschloch gemacht zu haben. Jetzt, wo ich alle Bände durchgelesen habe, kann ich eine recht warme, wenn auch keine jubelnde Emfehlung abgeben; dafür war zwischendurch dann doch viel Füllmaterial, das mich ab und zu etwas genervt hat.
(Und so klingt das, wenn ich zwischendurch keine Lust habe, direkt nach dem Zuklappen des Buchs darüber zu schreiben, sondern erst sechs Bände lese und dann nochmal nachblättern muss, was in den einzelnen Dingern passiert ist.)
Gerard Way/Gabriel Bá – The Umbrella Academy: Apocalypse Suite
Hmja. Tolle Zeichnungen, keine Frage. Alleine wegen Bá würde ich mir den zweiten Band, Dallas, auch noch kaufen – aber nur, wenn der eine etwas besser Story hat. The Umbrella Academy handelt von sieben Kindern, die alle von verschiedenen Frauen ohne jede Vorwarnung geboren und dann von einem außerirdischen Professor adoptiert werden, der sie zu Superhelden heranzieht. Jedenfalls teilweise. Hört sich krude an, macht aber erstmal Spaß, weil man völlig ahnungslos in die Geschichte geworfen wird. Die vielen, kleinen Storys, die als Einzelhefte erschienen sind, fügen sich auch zu einem großen Gesamtbild zusammen, aber in sich waren sie mir zu fahrig, zu wenig ausformuliert, zu sehr auf die Show aus als auf eine Handlung. Ich habe Umbrella gerne gelesen … nein, ich habe Umbrella gerne angeschaut, aber so richtig umgehauen hat es mich nicht. Eher etwas ratlos zurückgelassen.
Sachbuch und der gefühlte Nachfolger von Battle Cry of Freedom, dem Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg, das ich nicht müde werde zu loben. Mit „Reconstruction“ wird die Zeit direkt nach dem Krieg bezeichnet, in der mal eben eine komplette neue Gesellschaftsordnung gefunden werden musste, in der Schwarz und Weiß zusammenleben, und gleichzeitig zwei Staatenbünde, die Union und die Konföderierten, wieder zur USA zusammenwachsen wollten; die Zeitspanne, die das Buch behandelt, geht gerade einmal von 1863 (Emancipation Proclamation) bis 1877 – die Zeit, in der so ziemlich die letzten Akte der Reconstruction stattfanden und so gut wie alle Südstaaten viele Gesetze der Gleichberechtigung wieder zurücknahmen und neue erließen, die Schwarze weiterhin als Bürger zweiter Klasse behandelte. Diese Zeit bezeichneten weiße Südstaatler perfiderweise als Redemption.
In der kurzen Zeit der Reconstruction hat sich viel getan: Viele der Südstaatenplantagen konnten sich nicht mehr halten, jetzt wo Arbeit auf einmal bezahlt werden musste bzw. erstmal Leute gefunden werden mussten, die sie machen wollten. Das Buch behandelt die wechselnden Wirtschaftsverhältnisse, die Kaufkraft (oder den Mangel derselben) der schwarzen Bevölkerung; dass Frauen und Kinder den Wandel anders erlebten als die Männer (schwarze Kinder durften erstmals Schulen besuchen, teilweise sogar mit Weißen zusammen, Frauen weigerten sich in der Mehrzahl, weiter auf Feldern zu arbeiten und zogen sich eher ins Haus zurück). Das Buch berichtet über die Entstehung des Ku-Klux-Klan, den Wandel der Republikaner (die mit Lincoln die Abschaffung der Sklaverei überhaupt erst auf die politische Bühne brachten) von Radikalen zu Realisten und den weiter bestehenden Rassismus, der sich schließlich in der Wahl der Demokraten und der Zeit der Redemption niederschlug. Diese Zeit brachte eine weitere Widerlichkeit mit sich, mit der sich das nächste Buch auf meiner Liste schwerpunktmäßig auseinandersetzt: die Schaffung von Gesetzen (eine Vorstufe der Jim-Crow-Laws), die zu nichts anderem da waren als Schwarze zu verhaften, sie zu Geldstrafen zu verurteilen, die sie nicht bezahlen konnten, um sie dann an wohlhabende Farmer oder Minenbesitzer zu überstellen – de fakto: zu verkaufen –, die sie monate-, teilweise jahrelang rechtelos ausbeuteten. Gründe, die zur Verhaftung führen konnten, waren zum Beispiel unflätige Wortwahl, wenn weiße Frauen anwesend waren oder schlicht, ohne ein Ziel unterwegs zu sein (vagrancy).
Weitere Kapitel befassen sich mit den Umständen, in denen diese Veränderungen stattfanden: die Industrielle Revolution sorgte ebenfalls für eine deutliche Veränderung auf dem Arbeitsmarkt bzw. der Arbeitsbedingungen (Fabriken statt kleiner shops), der Bahnausbau und der Weg nach Westen, was zu mehr Investition im Westen als im Süden führte, und die Situation der Indianer und Einwanderer.
Das Buch liest sich etwas zäh, und der Tonfall ist nicht ganz so begeisternd wie in Battle Cry. Dafür ist das Werk sehr ausführlich und lässt so ziemlich jeden mal zu Wort kommen, der in der Zeit was gesagt haben könnte. Kein Wunder, dass Reconstruction laut Buchrücken heute als classic work und als Standardwerk über die Reconstruction gilt. Ich war nicht ganz so begeistert wie nach Battle Cry, weil mir der erzählende Stil besser gefallen hat als der hier vorherrschende, relativ unpersönliche und teilweise sehr detaillierte, informiert bin ich jetzt aber bestens.
Douglas A. Blackmon – Slavery by another name
Pulitzerpreisgekröntes Buch über die Lebensumstände der Schwarzen nach dem Civil War. Slavery geht zeitlich noch über das Ende der Reconstruction hinaus und beschreibt die Zeit bis zum 2. Weltkrieg. Das Buch ist weitaus „reportagiger“ geschrieben – ganz vorsichtig würde ich es mit In Cold Blood von Capote vergleichen.
Blackmon hangelt sich an verschiedenen Personen bzw. Familiengeschichten entlang, beschreibt deren Lebensläufe und zieht dann das Bild ganz groß auf, indem er das Leben Einzelner in den großen Kontext stellt. Mir hat der Stil sehr gut gefallen, der Inhalt logischerweise deutlich weniger. Reconstruction hat sich weitgehend in Stillschweigen gehüllt, wenn es um hate crimes ging; Slavery schreckt nicht davor zurück, blutige Details zu beschreiben. Das ganze ist sehr weit weg vom Sensationsjournalismus, aber trotzdem schwer zu verdauen. Vor allem wenn man sich bewusst macht, dass der ganze Irrsinn gerade einmal 100 Jahre her ist.
Slavery skizziert die verschiedenen Strömungen sehr nachvollziehbar; also wie aus den verfeindeten Süd- und Nordstaaten plötzlich wieder Nachbarn wurden, die beide der Meinung waren, dass Schwarze Weißen zu dienen hätten. Blackmom erwähnt Darwin, dessen 1859 erschienenen Theorien (Origin of Species) plötzlich zu übelster Rassenkunde ausgenutzt wurden. Und er zeigt den großen Unterschied in der Behandlung von Schwarzen im Vergleich zur Zeit vor dem Bürgerkrieg: Während Sklaven eine finanzielle Investition waren, um die man sich kümmern musste, um ihre Arbeitskraft zu erhalten, waren Gefangene, die an Minen oder Farmen verkauft wurden, schlicht Material, nicht besser als ein Arbeitstier. Die Käufer wussten, dass der Nachschub nie versiegen würde, weswegen die Schwarzen in den Minen oder auf den Feldern buchstäblich bis zum Tode ausgebeutet wurden. Die Käufer konnten sich auf die Zuträgerdienste von örtlichen, bestechlichen Sheriffs und Friedensrichtern verlassen, die willkürlich Schwarze aufgriffen, sie unter fadenscheinigen Vorwänden verhafteten und sie dann gegen ein relativ geringes Entgelt weiterverkauften. Das Geld wanderte in ihre eigenen Taschen, und die Käufer hatten eine billige Arbeitskraft. Das ganze System wurde natürlich nicht Sklaverei genannt – denn die war ja verboten –, sondern es trug den unschönen Namen involuntary servitude, gegen das es (noch) keine Gesetze gab.
Das Buch zeigt sehr deutlich auf, warum die Situation der Schwarzen in den USA bis heute nicht als gleichberechtigt angesehen werden kann. Generationen von Schwarzen hatten nicht den Hauch einer Chance, aus ihrer Armut oder ihrer „Kriminalität“ auszubrechen. Bis heute geben Banken Schwarzen weniger gern Kredite als Weißen, bis heute verlieren Wohngebiete an Wert, wenn Schwarze dorthinziehen. Das Buch zitiert Martin Luther King, der 1967 sagte: “The South deluded itself with the illusion that the Negro was happy in his place; the North deluded itself with the illusion that it had freed the Negro. The Emancipation Proclamation freed the slave, a legal entity, but it failed to free the Negro, a person.” Große Empfehlung.
Jiro Taniguchi (Josef Shanel/Matthias Wissnet, Übers.) – Die Sicht der Dinge
Mein zweiter Taniguchi – zu dem ich fast dasselbe schreiben könnte wie zum ersten: sehr gemächlich, sehr detailreich, Dialoge vielleicht ein bisschen „geschrieben“, passen aber zum sehr „gezeichneten“ Bild. Ja, ich weiß, das klingt doof, weil’s ein Comic ist, aber bei anderen Comics habe ich manchmal das Gefühl, die Bilder seien eher Geschwindigkeit oder Action oder wildes Farbenspiel, und bei Taniguchi sind sie eben gezeichnet. Ganz fein und präzise – und genauso entwickelt sich auch hier eine Familiengeschichte, fein und präzise. Ich mag den Mann, ich kauf mir seine anderen Bücher jetzt auch.
Thomas Glavinic – Das Leben der Wünsche
Der erste Glavinic, von dem ich nicht so ganz begeistert war. Die Arbeit der Nacht war bösestes Gruseln, Das bin doch ich! wildestes Lachen und Das Leben der Wünsche … nun ja … eher verständnislose Langeweile mit wenigen Augenblicken, in denen ich daran erinnert wurde, weswegen ich Glavinic eigentlich gerne lese. Zum Beispiel mit schönen, unerwarteten Worten – so wie der feine Regen, der auf ein Dach „nadelt“. Oder mit Absätzen wie dem hier: „Ein Mann mit roter Baseballkappe, dem ein Eis gerade von der Tüte kippte. Ein brünettes Mädchen, die Stirn gerunzelt, Zigarette zwischen den Fingern, dessen vulgärer Mund jemandem etwas zuzurufen schien. Eine alte Frau, wie traumverloren. Offene Münder, Blicke, Masse, Anonymität. Ein Moment. Das war es. Deswegen macht er Fotos. Diese Sekunde hatte es gegeben, ohne dass sie jemand als solche wahrgenommen hatte. Eine Linie bestand aus einzelnen Punkten, die niemand sah. Die Zeit war eine Linie, und das hier war ein Punkt.“
Wünsche erzählt von Jonas, dem eines Tages ein seltsamer Kerl drei Wünsche erfüllen will. Jonas, alter Fuchs, wünscht sich sofort, nicht nur auf drei Wünsche beschränkt zu sein, woraufhin der seltame Kerl ihn warnt: Es geht nicht um das, was er will, sondern um das, was er sich wünscht. Woraufhin in Jonas’ Leben so einiges passiert, das er so nicht direkt formuliert, aber sich anscheinend tief drinnen gewünscht hat. Die meiste Zeit war ich mit WTF-vor-mich-Hinmurmeln beschäftigt, aber wie gesagt, ein paar Momente hat das Buch dann doch.
PS: Die professionelle Kritik ist übrigens überhaupt nicht meiner Meinung.
Yukito Kishiro – Battle Angel Alita: Tears of an Angel
Yay, mein erster Manga! Also der erste nach Akira, das ich vor ungefähr 20 Jahren gelesen habe. Alita besteht aus mehreren Bänden, die mehrere Hefte in sich vereinen. Der Kerl hatte eben Tears im Regal stehen, in das ich einfach mal blind reingegriffen habe, und was soll ich sagen? Ich fand’s sehr unterhaltsam. Gut, an die großen Glubschaugen von japanischen Comics werde ich mich wohl nie gewöhnen, aber mir hat die Story des Cyborgmädchens sehr gut gefallen. Jedenfalls wenn sie den Bösewichtern die Blechschädel zerkloppt. Wenn sie großäugig (haha) ihren geliebten Hugo anhimmelt und sich nicht traut, ihm zu sagen, dass sie ihn totaaal süüüüß findet, fand ich Alita eher doof.
Und wieder was gelernt: Die Oberkategorie Manga teilt sich in viele Unterkategorien: Alita ist ein Seinen-Manga. Irgendjemand einen Tipp für einen Josei-Manga?
Michael Köhlmeier – Idylle mit ertrinkendem Hund
Ein sehr kurzes Buch, das aber lange nachhallt. Köhlmeier beschreibt, wie sein Lektor ihn zuhause besucht, wie ungewohnt der Übergang vom Siezen zum Duzen ist, wie sich der Lektor überhaupt wie ein Eindringling anfühlt und wie es dem Ich-Erzähler dabei geht. Auf einem Spaziergang trifft der Lektor einen anscheinend halterlosen Hund, der ihn begleitet – und einen Tag später trifft er ihn wieder, diesmal zusammen mit dem Ich-Erzähler. Als sie ihn rufen, bricht der Hund ins Eis ein, auf dem er stand, und die beiden Männer müssen sich entscheiden: Wer bleibt, wer holt Hilfe.
Die Geschichte mit dem Hund ist nur der Aufhänger: Viel mehr Raum nimmt die verstorbene Tochter des Ich-Erzählers ein, über die er schreiben will und nicht kann. Idylle ist, um das mal vorwegzunehmen, eine Erzählung über die Tochter, die Ehefrau, den Umgang mit Trauer. Und sie ist sehr vorsichtig, einfühlsam und schlicht wunderbar.
Mike Mignola – Hellboy: Wake the Devil
Mein erster Hellboy – und garantiert nicht der letzte. Wake the Devil ist nicht der erste Band, daher habe ich mir die Vorgeschichte (wer ist dieser Höllenjunge überhaupt?) mal in der Wikipedia durchgelesen. Das war relativ hilfreich, denn in Devil springen nicht nur die Angestellten des Bureau for Paranormal Research and Defense zwischen den USA, Norwegen und Rumänien hin und her, sondern auch noch Rasputin, ein paar auferstandene Nazis, griechische Göttinnen, ein Homunkulus und ein Kopf im Glas wie aus Futurama. Die Geschichte ist viel zu spinnert, um sie aufzuschreiben, aber sie hat mir gerade durch ihren völligen Irrwitz sehr gut gefallen. Noch besser gefallen haben mir allerdings die Zeichnungen und die unglaublich intensive Kolorierung. Sehr reduzierter Strich, recht kantig und eigenwillig, und sobald der rote Hellboy ins Bild kommt, hat keine andere Farbe mehr eine Chance. Besonders der Kampf Hellboy versus Hekate sieht einfach fantastisch aus: olivgrün gegen knallrot, einfarbiger Hintergrund, absolute Konzentration auf die zwei Figuren. So viel Kraft hat kein Kinofilm.
Glaubst du nicht? Guckstu:
Mike Mignola – Hellboy: Conqueror Worm
Okay, dusseliger Titel – auch wenn er auf Edgar Allan Poe zurückgeht –, aber großartiges Ding. Hellboy legt sich wieder mit Nazis an, die 60 Jahre im All oder im Eis verbracht haben, der Homunkulus steht ihm zur Seite, und es tauchen lustige und weniger lustige Aliens auf, die dem Teufelskerl das Leben schwer machen. Hat mir noch besser gefallen als Devil – und weil das leider die einzigen beiden Hellboys waren, die der Kerl im Regal hatte, muss ich jetzt ne Menge Geld ausgeben, um mir ALLE ANDEREN zu kaufen. Oder erstmal die weiteren Mignolas lesen, die netterweise noch im Regal sind. Zum Beispiel:
Dan Raspler/Mike Mignola – Batman: Legends of the Dark Knight #54 – Sanctum
Bisher habe ich die schönen, bibliotheksfreundlichen Paperbacks gelesen, in denen mehrere dieser dünnen Heftchen zu einem ordentlichen Band zusammengefasst wurden. Sanctum ist eins der dünnen Heftchen aus der Legends of the Dark Knight-Serie, die insgesamt (laut Wikipedia) 214 Hefte umfasst. Ich fand es lustig, das klassische amerikanische Comicformat kennenzulernen – mit gezeichneter Werbung und Leserbriefen am Schluss. Kennt man ja gar nicht mehr, wenn man Blogs liest. Sanctum stammt aus dem Jahre 1993 und ich habe es, wie gesagt, gelesen, weil Mike Mignola die Zeichnungen gemacht hat (und, wenn ich die Credits richtig interpretiere, auch an der Story beteiligt war). Liest sich durch die schmale Seitenzahl von gerade einmal 32 natürlich viel zu schnell weg, aber selbst auf so kleinem Rahmen kann man schon was Schönes über die Fledermaus und einen viktorianischen Mörder in seinem Mausoleum erzählen. Fühle mich zum ersten Mal wie ein „richtiger“ Comicleser.
Howard Chaykin, John Francis Moore/Mike Mignola – Ironwolf: Fires of the Revolution
Hm. Nein. Bisschen viel von allem. Ironwolf spielt in einer nicht näher definierten Zukunft, wo sich ein Empire aus Planeten gebildet hat, das von einer doofen Kaiserin regiert wird. Dagegen rebelliert unter anderem Ironwolf, bis er eines Tages mit seinem Raumschiff vom Himmel geholt wird, ins Koma fällt und erst acht Jahre später wieder aufwacht. Hätte nett werden können, ist aber völlig überfrachtet mit Vampiren, Ewiglebenden, Ironwolfs Bruder, Katzenmenschen, Drogensüchtigen, Dealern und noch ein paar anderen Nasen, die für eine halbgare Pointe am Ende sorgen. War mir alles zu viel und zu wenig durchdacht, und selbst Mignolas Zeichnungen kamen mir sehr gezähmt vor.
Walter Simonson/Mike Mignola – Wolverine: The Jungle Adventure
Naja. Mignolas eigener Stil ist hier überhaupt nicht zu erkennen, dafür haben die Kerle zu viele Muskeln und die wenigen weiblichen Figuren zu wenig an, aber dafür ist die Story wenigstens halbwegs unterhaltsam. Wolverine trifft im Dschungel einen Stamm, der ihn für eine Gottheit hält, dann nervt Apocalypse ein bisschen rum, und zum Schluss ist alles wieder gut.