Bücher 2009, Juli
Eine kurze Erklärung, wie meine derzeit monatlichen Bücherlisten entstehen: Wann immer ich ein Buch durchgelesen habe, öffne ich den Blogeintrag, der ziemlich zu Anfang eines Monats entsteht und dann über vier Wochen fortgeführt wird, und ergänze ihn um mein neuestes Leseerlebnis. Daher klingen diese Einträge manchmal stilistisch etwas durcheinander, weil ich nicht alles in der gleichen Stimmung aufschreibe. Oder sie widersprechen sich selber – wie hier beim ersten und vorletzten Buch.
Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 3: Guermantes
Von den drei ersten Bänden der Recherche der herausfordernste. Gefühlt die Hälfte der gut 800 Seiten spielt in zwei Pariser Salons, auf denen jede Person ausführlich vorgestellt wird – was mit all dem Innenleben, das Proust beschreibt, großartig ist. Aber: Dann geht es in die Gespräche, und diese drehen sich unter anderem um Maler, die ich nicht kenne, die Bilder gemalt haben, die ich nicht kenne, die in Schlössern hängen, die ich nicht kenne, in denen Hoheiten wohnen, die ich nicht kenne. Bei den ersten beiden Bänden habe ich recht wenig Zeit im Anhang verbracht, beim dritten Band habe ich gleich mein Lesezeichen im hinteren Teil des Buchs gelassen, weil ich alle drei Minuten was nachgucken musste. (In diesem Zusammenhang: whatever happened to the good old Fußnote?) Ob es nun politische Anspielungen aus der Zeit um die Jahrhundertwende sind, Metaphern, die ich alleine nicht deuten konnte, Straßennamen in Paris, Hutmacher, Opernsängerinnen oder Möbeltischler – alles, was Proust erwähnt, hat irgendeine Bedeutung, und die wäre ohne den Anhang völlig an mir vorbeigegangen*. Aber im Zusammenspiel mit den ausgezeichneten Randbemerkungen war es nicht nur der herausforderndste, sondern auch der bisher lohnendste Band. Es fühlt sich an, als ob man auf einem alten Speicher rumklettert und immer mehr verstaubtes Zeug findet, und je länger man darin herumwühlt, desto besser passt alles zusammen. Ich bin mir sicher, dass ich damit Proust aber sowas von gar nicht gerecht werde, aber ich mag diesen alten Speicher von Seite zu Seite mehr. Hab ja auch nur noch 2.723 vor mir.
* (See? FUSSNOTE!) Ich bin inzwischen im vierten Band Sodom und Gomorrha (Suhrkamp Taschenbuch 3644, 1999), und dort schreibt der Kommentator über diesen Satz „Ich glaube, ich täusche mich nicht, Sie sind doch auch aus Zürich, ich meine, ich bin Ihnen dort beim Antiquitätenhändler begegnet“ (Seite 13): „Der Umgang mit Proust lehrt, daß kaum etwas in seinem Roman zufällig ist. Um so ärgerlicher ist es für einen Proust-Kommentator aus Zürich, eingestehen zu müssen, daß er an dieser Stelle vor einem Rätsel steht.“ (Seite 798)
Jeph Loeb/Tim Sale – Wolverine/Gambit: Victims
Mein erster Comic aus der X-Men-Reihe. War nett. Und damit ist nicht die kleine Schwester von Scheiße gemeint, sondern: war nett. Die Zeichnungen fand ich nicht herausragend, aber nett, die Story nicht umwerfend, aber nett, und diese Kritik ist nicht umfassend, aber nett.
Paul Dini/Bruce Timm – The Batman Adventures: Mad Love
Kaspertheater auf Papier. Der Joker kriegt einen liebestollen Sidekick namens Harley Quinn (Harlekin), die für ihn Batman erledigen will, was der alte Macho natürlich nicht gelten lassen kann. Das ganze ist quietschigbunt gezeichnet und fühlt sich wie die 50er Jahre an, hat aber trotzdem Spaß gemacht.
flix – Sag was
Ach, wie oft soll ich’s denn noch sagen. Flix ist toll, seine Bücher sind toll, seine Geschichten sind toll, seine Sätze sind toll, seine Webcomics sind toll, und ich ziehe jetzt nach Berlin, kette mich an seiner Haustür fest und hoffe, dass er mir alle Bücher signiert, die ich von ihm habe. Sind erst drei, aber alle anderen kaufe ich genau: jetzt. Und ihr bitte auch. Vor allem das hier, das sich vordergründig um eine Beziehung dreht und hintergründig um viel mehr, und weil es so gekonnt die Balance hält zwischen Drama und Komödie und ganz schrecklichen Momenten und ganz wunderbaren Gesten. (Ein Buch gelesen. Geweint.)
David Mack – Kabuki: The Alchemy
Ein Tipp vom Teilzeitgiganten, der mich außerdem auf diesen Artikel von HD Schellnack hingewiesen hat, in dem es um Mainstreamcomics (= Superheldenzeug) geht, die ich bis jetzt hauptsächlich gelesen habe. Kabuki: The Alchemy ist demnach so gar kein Mainstream – und für mich eine Offenbarung gewesen. Ich kann mich immer nur wiederholen: Die Welt der Comics ist für mich noch so unübersichtlich, dass ich mich momentan auf Empfehlungen verlasse oder eben das Kerl’sche Comicregal. Ich suche in der Gegend rum und gucke, kaufe, wenn mir der Zeichenstil gefällt oder die Story spannend klingt. Eigentlich nicht viel anders als wenn ich DVDs aussuche oder Bücher, aber da habe ich wenigstens Ansatzpunkte, die ich kenne: Schauspieler, die ich mag, oder Schriftsteller, deren Stil mir zusagt. Bei Comics fehlt mir das alles noch, und deswegen freue ich mich über jeden Hinweis auf Perlen, die mir sonst entgehen *hint* und lese alles, was Comicgate schreibt.
Kabuki ist eine mehrteilige Serie – und warum mir ausgerechnet der letzte Teil empfohlen wurde, weiß ich nicht. Allerdings ahne ich, dass ich die anderen Teile jetzt nicht mehr lesen müsste, wenn’s mir nur um die Story ginge, denn die schwingt immer mit. Dass ich sie trotzdem lesen möchte, liegt an den Bildern. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich eine graphic novel im Wortsinne zu lesen. Also eine Geschichte, die sich grafisch entfaltet und zusammen mit dem Text einen sehr dichten Eindruck hinterlassen hat. The Alchemy arbeitet eher mit Collagen als mit klassischen Zeichnungen, obwohl die auch vorkommen. Meist sieht eine Seite aber aus wie eine Schreibtischoberfläche oder ein Skizzenblock: 3D-Elemente in Fotoform oder ausgeschnitten treffen auf Kritzeleien, ein zerbrochener Fächer begrenzt die Panels, Post-its kleben auf Aquarellbildern … und so kreativ und, ich möchte sagen: fließend die visuellen Eindrücke sind, so ist auch die Geschichte. Kabuki fängt ein neues Leben an, sucht nach einem neuen Namen und einer neuen Berufung. Die findet sie im Schreiben, und das ist dann auch im Prinzip die gesamte Geschichte. Die Story entfaltet sich eher in Ãœberlegungen, Gedanken, Träumen, den Seiten eines Kinderbuchs und Briefen, die Kabuki an eine gewisse Akemi schreibt, deren Name ein Anagramm für I Make ist. Manche Sätze sind fiese Glückskeksweisheiten (dieser Kritik kommt Autor David Mack aber gleich am Anfang des Buches entgegen, wo er eine Seite fast ausschließlich mit Glückskekszetteln gestaltet), manche sind Zitate, wie sie auf jeder Aphorismenseite im Internet vorkommen, aber manche geben dem Kopf diesen gewissen Kick, der einen dann nicht schlafen lässt oder einen dazu bringt, das eigene Schaffen zu überdenken – und sich zu fragen: Was geht denn noch? Was kann ich noch machen? Und wieso warte ich darauf, bis mir jemand eine Erlaubnis dazu gibt anstatt einfach *jetzt* mit irgendwas anzufangen?
Noch eine große Empfehlung. DJ Osaka, ein Freund vom kettenrauchenden, jägermeisterschluckenden Hector, verschwindet eines Abends während eines Gigs. Hector macht sich auf die Suche und trifft dabei nicht nur eine scheinbar Geistesgestörte, die mit schwarzer Farbe „Portale“ verschließen will, sondern auch einen gerade verstorbenen Kumpel, einen kleinen Jungen, dessen Vater von Parasiten befallen ist, die nur er sehen kann, und viele weitere Menschen und … äh … Wesen, die alle eine Mission haben, zu der Osaka der Schlüssel ist. Hector Umbra vermischt sehr gekonnt das reale München (ich sage nur: Hubbsi) mit einer völlig irrwitzigen Geschichte von Wahnvorstellungen. Man kann sich nie sicher sein, was auf der nächsten Seite passiert, und das Ende setzt allem nochmal eine Krone auf. Ich fand die Zeichnungen und die Kolorierung sehr gelungen, die Dialoge noch viel mehr, und würde Herrn Umbra gerne durch weitere Bände begleiten.
Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 4: Sodom und Gomorrha
Habe ich oben den Anhang gelobt? Ziehe ich hiermit zurück. Relativ zu Beginn des vierten Bandes so: „Vorahnung auf den Tod von xy.“ Ich so: „Waaah! Hey, Anhang, es gibt noch Leute, die wirklich nicht wissen, was in der Recherche passiert! Lass das Spoilern!“ Anhang so: „Warte, ich hab noch mehr Plotpoints zum Verraten. Also:“ Ich so: „Waaah!“ Hmpf. Das Tolle ist: Noch ist xy am Leben, das heißt, ich habe noch drei Bände mit Todesvorahnungen vor mir. Oder auch nicht. Vielleicht haucht er/sie ja schon im fünften Band sein/ihr Leben aus. Notfalls guck ich halt IM ANHANG nach.
Der vierte Band hat den Themenschwerpunkt Homosexualität. Der Titel ist dazu der Schlüssel: männliche Homosexuelle werden als Bewohner Sodoms bezeichnet, weibliche als Bewohnerinnen Gomorrhas. Proust skizziert die damals gängige „wissenschaftliche“ Erkenntnis, dass Schwule Zwitterwesen seien, die eigentlich lieber eine Frau geworden wären. Deswegen darf eine Hauptfigur auch auf einmal leicht weibliche Wesenszüge haben, während eine andere Figur – nämlich die Geliebte des namenlosen Erzählers – plötzlich ständig in Gefahr schwebt, von ihren Freundinnen verführt zu werden. Literarische locker room fantasies am Strand von Balbec. Ich gebe zu, dass ich bei diesem Band des Öfteren ungläubig geschnauft habe, so seltsam ist auf einmal der Umgangston Prousts mit seinen Figuren und so nervig die Verhaltensweise des Erzählers („Morgen halte ich um ihre Hand an. Oder ich mach mit ihr Schluss“). Natürlich klopfe ich mir dafür immer sofort auf die Finger und murmele, Weltliteratur, Weltliteratur!, aber ich gebe zu, dass ich mich durch diesen Band eher gequält anstatt lustvoll fortbewegt habe. Trotz der vielen angedeuteten Kussszenen. Hui.
Mary Ann Shaffer & Annie Barrows, The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society
Eine freundliche Zuwendung der Kaltmamsell, über die ich mich sehr gefreut habe. Guernsey ist ein Briefroman – oder eher: ein Roman, der in Briefen, Telegrammen und Notizen erzählt wird. Was eigentlich egal ist, denn die Form verschwindet sehr schnell hinter ihrem Inhalt. Die Journalistin und Autorin Juliet Ashton hat während des 2. Weltkriegs eine Kolumne und ein Buch geschrieben und ist nun, kurz nach Kriegsende, auf der Suche nach einem neuen Stoff. Eines Tages erhält sie einen Brief von der Insel Guernsey: Ein Mann schreibt ihr, er besäße ein Buch, das einmal ihr gehört habe. Sie fangen an zu korrespondieren, gleichzeitig erhält Juliet den Auftrag, eine Kolumne über die Liebe zum Lesen und zu Büchern zu schreiben, und so entspannt sich ganz unaufgeregt eine sehr vielschichtige Story. Es geht nicht nur um Bücher und wie sie uns retten, sondern auch um die Besetzung Guernseys durch die Deutschen, die Folgen für die Insel bzw. deren Bewohner, gute und schlechte Taten und ihre Folgen und wie scheinbare Kleinigkeiten große Auswirkungen haben. Guernsey ist eines von diesen charmanten Büchern, die einen warm umfangen und nicht mehr loslassen, bis man sie durchgelesen hat – und dann gleich nochmal von vorne anfangen möchte, weil einem die cleveren, liebevollen, unterhaltsamen Charaktere so ans Herz gewachsen sind. Ganz große Empfehlung für ein paar entspannte Stunden am Lieblingsleseplatz. Und nochmal ein dickes Danke für das schöne Geschenk.