Gebt mir ein A!
Merke: Nie zu gut gelaunt zum Gesangsunterricht kommen, sonst werden deine blöden Gackeranfälle gleich musikalisch verwurstet – zum Beispiel im Schwips-Lied aus Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß, wo ein paar Zeilen lauten: „Vorhin trank ich nur aus einem Glas, jetzt trink’ ich aus zwei’n, wie kommt denn das? Und dann denk’ ich nach, wenn ich nur wüsst’, hab ich heute schon geküsst? Nein, nein, nein, nein, ha, ha, ha, ha, ha, ha ha.“ Und ich dachte, nach 1000 Jahren Akkordeon-Unterricht müsste ich nie wieder was mit Polkas zu tun haben.
Zum Ausgleich habe ich mich auch noch am Schluss von The Ballad of Baby Doe von Douglas Moore vergehen dürfen. (Es gibt amerikanische Opern. Eat this, „Amerika hat keine Kultur“-Schwätzer.) Das Stück jagt mein armes Stimmchen bis zum zweigestrichenen h hinauf, was eigentlich nur ein marginales Problem sein sollte – in den Übungen komme ich inzwischen bis zum dreigestrichenen d. Noch zwei Töne bis zur Königin der Nacht. In my dreams.
Ich weiß nicht, warum ich in den Ãœbungen so hoch komme, in den Liedern selbst aber sofort zurückzucke bei allem, was übers e” hinausgeht. Wahrscheinlich, weil ich für diese Töne wirklich ne Menge Luft und Courage und vor allem Kraft brauche. Ich hätte nie gedacht, dass Singen so anstrengend ist. Ich fange wirklich an, bei den Ãœbungen zu schwitzen und empfinde die Lieder, die wir danach singen, fast als Erholung. Solange sie unter dem e” bleiben, versteht sich. Die Anstrengung rührt nicht nur daher, dass ich mich darauf konzentrieren muss, die richtigen Töne zu treffen. Das klappt eigentlich fast immer. Was anstrengend ist, ist die Konzentration darauf, bei hohen Tönen nicht plötzlich lauter zu werden (was ich unwillkürlich will) oder bei tiefen Tönen leiser (was ich unwillkürlich will) oder bei tiefen Tönen den Mund allmählich zu schließen (was ich … you get the idea) oder oder oder. Ich muss darauf achten, die Zunge vorne an den Zähnen zu lassen, um den Raum, den mein Mund beschreibt, so groß wie möglich werden zu lassen. Ich muss darauf achten, ab und zu mal Luft zu holen, damit ich nicht am Ende einer Phrase völlig außer Atem bin. Ich muss aber auch darauf achten, nicht zu geräuschvoll oder zu lange Luft zu holen, so dass unschöne Pausen entstehen, die der Komponist nicht vorgesehen hatte. Soviel zum Thema, ach sing einfach drauflos, denk nicht zuviel nach. Ich ahne allmählich, was mir noch alles in Fleisch und But übergehen muss, bevor ich wirklich „einfach so drauflos“ singen kann.
Aber wie sagt Tony immer so schön: Alle Organe, die wir zum Singen benutzen, sind eigentlich nicht dafür vorgesehen. Der Mund ist zum Kauen da, die Stimmbänder zum Sprechen, der Kehlkopfdeckel dient zum Schutz der Luftröhre, die Nase zum Riechen usw. Wenn wir singen, zweckentfremden wir diese Organe. Und deswegen müssen wir ihnen manche Reflexe austreiben, um richtig singen zu können. Gestern musste ich zum Beispiel eine Übung machen, bei der ich von gaaaaanz weit oben den Ton in einer langen Bewegung bis ganz nach unten fallen lassen musste. Klang wie ein schlechter Soundeffekt im Film, wenn ein Flugzeug abstürzt oder wie ein abschwellendes Sirenengeheul. Immer, wenn ich nach unten gegangen bin, habe ich fast instinktiv den Mund schließen wollen, meine Schultern hingen immer weiter runter, und selbst meine Augen wollten in Richtung Boden blicken. Es hat einige Versuche gekostet, den Mund aufzulassen, geradeaus zu gucken und so zu tun, als würde man wachsen, während man immer tiefer singt, damit man nicht so in sich zusammenfällt.
Was aber am anstrengendsten war, war natürlich erstmal den hohen Anfangston zu kriegen. Und der war deshalb anstrengend, weil ich vergessen musste, dass ich mich gerade total zum Klops mache. Tony fragte mich anscheinend arglos nach meinem Lieblingssschauspieler, worauf ich natürlich „Kiefer Sutherland“ sagte.
Tony: Nee, Kiefer ist doof. Noch wen?
Anke (beleidigt): Viggo Mortensen.
Tony: Nee, Viggo ist auch doof. Noch wen?
Anke (jetzt isses auch egal): Russell Crowe?
Tony: Ja, Russell ist gut. Ich möchte, dass du jetzt auf diesem Ton (hier bitte einen widerlich hohen Klavierton vorstellen) „Aaah, Russell“ singst. Wie eine 13jährige, die ihn an der Straßenecke sieht und ihm hinterherkreischt.
Deswegen sind Kiefer und Viggo auch doof, weil ihre Namen so einen fies kleinen Mund machen. Bei „Russell“ geht man aber mit einem „a“ nach oben, was bedeutet, dass es sich leichter singen lässt. Also habe ich jeden Gedanken daran verdrängt, wie sich das wohl auf dem Gang anhört, was ich hier tue und habe lustig „Aaaa, Raaassaaall“ gesungen. Bis zum d”’, Baby. Jetzt kann Herr Crowe kommen. Und wenn er nett ist, singe ich ihm auch noch besoffen eine Polka vor. Stößchen!
In den Übungen um Welten höher zu kommen, ist ganz normal. Dafür sind sie ja gedacht! ;-)
In Liedern muss man die Töne aber oft über irgendwelche komischen Sprünge oder in irgendeinem unbequemen Rhythmus erreichen, und dann kann man sich auf den Ton nicht richtig vorbereiten (Mund auf, Zunge runter, Nase etc. ) und verfällt in Schreckensstarre.
Da es bei Dir auch das e ist: Bei mir liegt da der Registerwechsel und ich habe jahrelang geübt (mit Ãœbungen!), um da halbwegs drüber zu kommen. Ab g” wird’s dann wieder einfacher!
Und zu Russell: Ãœber e” kann man als Sopranistin sinnvollerweise nur noch den Vokal a singen. Das ist sogar wissenschaftlich-anatomisch erwiesen. Angeblich stört das den Hörer auch gar nicht.
Birgit am 22. March 2005
Das beruhigt mich jetzt wirklich :-)
Anke am 22. March 2005
Ach ja, nochwas: Wenn ein hoher Ton nicht gelingt, liegt es immer an dem Ton/den Tönen vorher! Das predigen jedenfalls die Gesangspädagogen. Und meine Erfahrung gibt ihnen recht. Da Du offenbar wie ich unterhalb von e” auch einfach singen kannst, ohne Dir viel Mühe zu geben, stimmt der Sitz meist da unten schon nicht, und oben rächt es sich dann.
Was ich interessant fand: die Bemerkung Deines Lehrers, dass wir unsere Organe zum Singen zweckentfremden. Ich habe mich nämlich immer gefragt, ob das mit dem “Zunge runter” und was der Verrenkungen mehr sind, eine Marotte meiner Lehrerin ist und wie das eigentlich die Leute machen, die einfach von Natur aus singen können? Das macht doch niemand instinktiv?
Birgit am 22. March 2005
Vielleicht können die Naturbegabten eben wirklich einfach ohne große Anstrengung und Technik über vier Oktaven singen, während die Halbwegsbegabten das nur durch Technik und ewiges Üben hinkriegen. Genau wie manch andere Seiltanzen können, weil ihr Gleichgewichtssinn einfach da ist, während andere auch da diesen Sinn erst soweit trainieren müssen, bis er für diese seltsame Aktivität funktioniert.
Ist aber nur ne Anke-Theorie. Ich singe erst seit einem halben Jahr, ich weiß noch nicht wirklich, was ich da tue. Wahrscheinlich freue ich mich auch deshalb tagelang über einen wirklich gut getroffenen Ton oder eine schöne Stimmfarbe, die bei mir auch extrem tagesformabhängig ist.
Auch so eine Sache, über die ich mir vorher nicht wirklich einen Kopf gemacht habe: dass Singen genauso Üben und Technik voraussetzt wie jedes andere Instrument. Ich lehne jedenfalls immer dankbar ab, wenn mich Leute fragen, ob ich ihnen was vorsinge. Wenn jemand erst seit einem halben Jahr Klavier spielt, will auch noch keiner eine Kostprobe hören, weil man weiß, dass das noch nicht so der Bringer ist. Aber bei einer Singstimme denkt man automatisch, dass das sich sofort klasse anhört.
Anke am 22. March 2005
Um keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen: Ich bin auch keine Profi-Sängerin.
Ich habe zwar von Kindheit an gesungen, ganz klassisch in Chören, habe aber nicht so die grandiose Stimme. Zwischendurch konnte ich viele Jahre gar nicht mehr singen und wenn, dann ein bisschen im Alt, beim d” brach meine Stimme weg. Das saß viele Jahre als große Trauer in mir und trieb mich manchmal zu Tränen, bis ich schließlich durch Zufall eine Frau traf, die mir ihre Gesangslehrerin empfohlen hat. (Früher hatte ich auch schon mal Unterricht gehabt, aber nicht so systematisch).
Und jetzt habe ich, nach mehreren Jahren Unterricht, endlich wieder eine Stimme und komme hoch wie nie. :-)
Was ich auch nicht wusste: Nicht nur die Technik muss man üben, sondern auch die Muskeln trainieren, wie beim Sport! Ohne Training geht nichts.
Ich habe mich immer übrigens immer geniert zu erzählen, dass ich Gesangsunterricht nehme. Das kam mir immer so prätentiös vor bzw. ich dachte, die anderen fänden es prätentiös, obwohl man ja einem Klavierlerner auch nicht unterstellt, dass er Horowitz werden will. Aber mittlerweile gibt es offenbar eine ganze Menge Leute, die das auch machen – das finde ich toll!
Viel Spaß also weiterhin, Du singst ja schon eine ganze Menge für die kurze Zeit!
Birgit am 22. March 2005