Bücher Juni 2010
Gregor Weber – Kochen ist Krieg!
Weber, gelernter Koch, besucht neun verschiedene Küchen – von der Riesengastronomie der O2 World in Berlin über die Schiffskombüse auf der Fregatte Mecklenburg-Vorpommern bis zum 3-Sterne-Tempel Schloss Berg. Jede Küche folgt eigenen Regeln, 30 Gäste müssen logischerweise anders bekocht werden als 300, aber allen gemeinsam ist der Wunsch nach dem bestmöglichen Ergebnis. Und wenn ein Verwaltungsmensch bei der Bundeswehr meint, der gemeine Soldat auf der Mecklenburg-Vorpommern muss mit 5,20 Euro am Tag ausreichend versorgt sein, während im Schloss Berg für ein Menü schon mal 250 Euro fällig werden, dann zeigt das die Bandbreite des Buchs sehr anschaulich. Kochen ist Krieg! erzählt aber nicht nur von den verschiedenen Küchen, sondern viel mehr von den Menschen, die sie bevölkern. Wir lernen ehemalige Gastarbeiter kennen, die inzwischen aus einer kleinen Pizzeria ein Familienunternehmen gemacht haben, bewundern die steile und zielstrebige Karriere von Jan-Göran Barth, der mit gerade 30 Jahren für die Küche in Schloss Bellevue zuständig ist, und werden eingeführt in die lange Tradition der Bremer Schaffermahlzeit. Ich fand das Buch sehr liebevoll geschrieben; man merkt Weber an, wie gerne er in der Küche steht und wie wichtig es ihm ist, dass dem Beruf des Kochs oder der Köchin (die fehlte leider fast völlig, Chefs waren nur Kerle) Respekt entgegengebracht wird. Allerdings zeigt Kochen ist Krieg! natürlich nur die Küchen, die sich in die Töpfe gucken lassen. Geschichten über Kakerlaken und Gesundheitsämter findet man hier nicht. (Dafür gibt’s ja auch RTL 2.)
Siri Hustvedt – The Enchantment of Lily Dahl
Das ist das dritte Buch von Hustvedt, das ich gelesen habe, und ich kann allmählich sagen: Ich mag den Stil der Verfasserin so gerne, das mir fast egal ist, worum sich die Geschichte dreht. Enchantment erzählt von einer jungen Frau in einer Kleinstadt in Minnesota. Sie möchte Schauspielerin werden, arbeitet aber erstmal als Kellnerin und spielt in einer Amateurproduktion des Sommernachtstraums. Ihre alte Nachbarin hilft ihr, die Rolle besser zu ergründen; gegenüber im Hotel zieht ein Maler ein, und ihre Gäste im Café hinterlassen mehr Eindruck bei ihr als erwartet.
Das Buch kreist fast ausschließlich um Lily, was die Geschichte sehr konzentriert wirken lässt. Wir erfahren über niemanden mehr als über sie, aber trotzdem bleibt auch sie seltsam unscharf. Wir erhalten kurze Einblicke in ihr Leben und ihr Tun, aber warum sie Dinge angeht, wie sie sie eben angeht, erschließt sich selten. Trotzdem ist diese Figur für mich unwiderstehlich gewesen, vielleicht weil sie nur kurz an mir vorbeigeweht ist, bevor ich sie festhalten konnte. Entchantment hat mich emotional nicht so mitgerissen wie What I Loved, war aber deutlich besser als The Sorrows of an American.
Das Buch fängt so an:
“She had been watching him for three weeks. Every morning since the beginning of May, she had gone to the window to look at him. It was always early, just before dawn, and as far as she knew he had never seen her. On that first morning, Lily had opened her eyes and spotted a light coming from a window across the street in the Stuart Hotel, and once she had moved closer, she had noticed him in the shining square: a beautiful man standing near a large canvas. Stripped down in the heat to only his shorts, he had stood so still for a minute that he hadn’t looked real to her. But then he had started to move, using this whole body to paint, and Lily had watched him reach, stoop, lunge, and even kneel before the canvas.”
John Carlin – Playing the Enemy
Der Untertitel des Buchs lautet „Nelson Mandela and the game that made a nation“ und erzählt damit besser, um was es geht: den World-Cup-Sieg 1995 der südafrikanischen Springboks, die mit Rugby eine eigentlich weiße Sportart verkörpern, denen plötzlich aber auch alle schwarzen Südafrikaner zujubeln – das erste Mal, das Schwarz und Weiß sich als eine neue Nation fühlen.
Wenn man nur die kurze Zusammenfassung liest, kann man kaum glauben, dass ein Sportereignis einen so großen Einfluss auf 47 Millionen Menschen gehabt haben soll. Playing the Enemy beschreibt, wie wichtig es für den Prozess eines neuen Südafrikas war, dass die Schwarzen ihre Wut verlieren und die Weißen ihre Angst. Mandela weiß, dass die Schwarzen über einen weitaus größeren Schatten springen müssen, indem sie ihren Peinigern vergeben und keine Racheakte ausführen. Und er weiß, dass er der weißen Bevölkerung Mut machen muss. Seine im Nachhinein so simple Idee: ein Sportereignis zu nutzen, um ein Land zu einen.
Die Springboks waren für die schwarze Bevölkerung jahrzehntelang ein Symbol der Apartheid. Rugby war ein Sport der Weißen, und wann immer die Springboks gegen andere Teams spielten – solange sie noch im Weltverband spielen durften –, hielt das ganze schwarze Südafrika zu ihren Gegnern. Sobald die sportliche Isolation aufgebrochen wurde, stellte sich Mandela sofort hinter das Team, trug das grüngoldene Trikot und bat seine Landsleute, sich ebenfalls hinter das Team zu stellen. Die (ausnahmslos weißen) Spieler kamen ihm entgegen und sangen ab sofort bei internationalen Spielen nicht nur die alte Hymne des Landes (Die Stem), sondern auch ein Lied, das die Schwarzen jahrelang als „Gegenhymne“ gesungen hatten: Nkosi Sikelele. Nach und nach erspielte sich das Team das Vertrauen des ganzen Landes, immer mit Mandela im Hintergrund. Und nach dem World-Cup-Sieg 1995 feierten Schwarz und Weiß zum ersten Mal gemeinsam.
Das Buch liest sich wie Science-Fiction, weil man es kaum fassen kann, wie großherzig ein ganzes Land gewesen ist, ein so dunkles Kapitel wie die Apartheid zu vergeben. Gleichzeitig liest es sich voller Hoffnung, dass auch andere Länder vielleicht einmal die Größe besitzen, es Südafrika gleichzutun.
“Five minutes before the kick-off, Nelson Mandela stepped out onto the field to shake hands with the players. He was wearing the green Springbok cap und the green Springbok jersey, buttoned up to the top. When they caught sight of him, the crowd seemd to go dead still. “It was as if they could not believe what their eyes were seeing,“ said Luyt. Then a chant began, low at first, but rising quickly in volume and intensity.
Morné du Plessis caught it as he emerged out of the dressing room and down the players’ tunnel onto the filed. “(…) This crowd of white people, of Afrikaners, as one man, as one nation, they were chanting, ‘Nel-son! Nel-son!’ Over and over, ‘Nel-son! Nel-son!’, and, well, it was just … (…) I don’t think I’ll ever experience a moment like that again. It was a moment of magic, a moment of wonder. It was the moment I realized that there really was a chance this country could work. This man was showing that he could forgive, totally, and now they – white South Africa, rugby white South Africa – they showed in that response to him that they too wanted to give back, and that was how they did it, chanting, ‘Nel-son! Nel-son!’“
(Noch eine Leseprobe bei amazon.com)
Robert Venditti/Brett Weldele – The Surrogates, Vol 1
Viel besser als der Film – und wieder zwei Autoren- bzw. Zeichnernamen, die ich mir merke, denn sowohl die Sätze als auch die Bilder fand ich sehr stimmig und schön. Die Geschichte um die „mechanischen Menschen“, die von echten Menschen gesteuert werden und quasi ihr Leben übernehmen, ist in Grundzügen deckungsgleich zum Film, aber weitaus weniger krawallig. Dafür persönlicher und deprimierender. Einen Punkt hat der Film allerdings von mir bekommen, denn dort darf der männliche Hauptdarsteller immerhin eine weibliche Kollegin haben. Der Comic ist fast ausschließlich von Kerlen bevölkert, was mir immer mehr auf den Zeiger geht. Trotzdem hat mir The Surrogates sehr gut gefallen, weil es unter anderem auf einen simplen Trick zurückgreift, der mir zuerst bei den legendären Watchmen begegnet ist: jedes Kapitel mit einem geschriebenen Essay, einem Zeitungsartikel oder wie hier einmal mit einer fiktiven Produktbroschüre für die Surrogate abzuschließen. Vielleicht hat die Broschüre mich auch nur erwischt, weil ich eben selber welche schreibe und die Zeilen so mit einem anderen Interesse gelesen habe.
Simon Majumdar (Stephan Gebauer, Ãœbers.) – All you can eat
Ein freundliches Geschenk von Herrn Siepert, denn sonst hätte ich Herrn Majumdar eher im Original (Eat my globe) gelesen. Das Buch fängt mit Simons Kündigung an und befasst sich dann mit seiner einjährigen Reise einmal um die ganze Welt, um eben die ganze Welt zu essen. Er schläft nicht nur in Hotels, sondern vor allem bei Menschen, die er im Internet über Foodblogs oder Fressforen kennengelernt hat. Und genau das macht die Mischung des Buchs so angenehm: Es geht nicht nur ums Essen, sondern auch um verschiedene Menschen, Lebensentwürfe, kurze Eindrücke von Städten und Ländern. Betonung auf „kurz“, denn leider dauert die Reise nicht zehn Jahre, sondern eben nur eins, und in diesem hat Simon immerhin fast 30 Länder unter einen Hut bekommen. Von mir aus hätte das Buch fünfmal so dick sein dürfen, denn immer, wenn man sich gerade irgendwo heimisch fühlt, ist das Kapitel zuende und das nächste Flugzeug wartet. Diese Hektik überträgt sich logischerweise auch auf den/die Leser_in, und so bin ich etwas hungrig und mit einem kindischen „Mehrmehrmehr!”-Gefühl zurückgeblieben, als ich das Buch zugeklappt habe.
Majumdar betreibt netterweise mit seinem Bruder das wunderbare Londoner Fressblog Dos Hermanos, und dort kann man mehr von ihm und seinem Bruder, den er nur TGS (The Great Salami) nennt, lesen. Ãœbersetzt klingt der Mann so:
„ „Finnland?!“, kreischte ich. „Das ist das einzige Land, dessen Essen einen schlechteren Ruf hat als das englische!“
Darauf begann Martina, mir die Vorzüge des finnischen Essens zu schildern. Das war keine leichte Aufgabe, denn die einzige finnische Speise, die ich bis dahin kennengelernt hatte, war etwas mit dem Namen Korvapuusti, ein zähes Frühstücksgebäck, das sich eher als Waffe denn als Nahrung eignete. Doch schließlich überzeugte sie mich mit dem Angebot, einen Jagdausflug mit einem Freund ihrer Famlie zu organisieren, der nur zwei englische Worte kannte. Wie ich herausfinden sollte, war eines davon „Wodka“; das andere war überhaupt kein englisches Wort.“
Jon McGregor – If Nobody Speaks of Remarkable Things
Wunderschön. In Remarkable werden zwei Erzählstränge miteinander verwoben: Der eine berichtet im Zeitlupentempo von verschiedenen Einwohnern einer Straße in England. Wir erfahren sehr früh, dass am heutigen Tage noch etwas Schreckliches geschehen wird, und während wir uns diesem Ereignis nähern, das wirklich erst kurz vor Schluss aufgelöst wird, erfahren wir mehr und mehr über die Menschen, die daran beteiligt sind. Der zweite Erzählstrang ist aus der Ich-Perspektive geschrieben; eine der Bewohnerinnen erinnert sich an den Tag vor drei Jahren, muss sich aber mit Dingen befassen, die ihr heute passieren. Beide Erzählstränge fließen manchmal ineinander; was in einem erzählt wird, taucht im anderen kurz auf, und beide zusammen ergeben ein sehr dichtes Bild – von Menschen, ihrer Geschichte, ihrer Vergangenheit, was sie bewegt, was sie antreibt.
Ich mochte an dem Buch die ständige Ungewissheit und gleichzeitig die Gewissheit, dass sich am Ende alles ändern wird. Zudem hat mir der fast poetische Stil sehr, sehr gut gefallen. Die Beobachtungen sind sehr präzise, aber nie simpel beschreibend. Alles, was gesagt wird, gibt dem Erzählten einen tieferen Sinn, eine neue Ebene. Mir fällt es gerade etwas schwer, diesem Buch gerecht zu werden, denn obwohl es fast sezierend geschrieben ist, hat es für mich sehr viel Gefühl transportiert. Und alles, was ich zitiere, wird dem Werk ebenfalls nicht gerecht. Ich versuche es trotzdem mal und lege euch dieses Buch ganz dringend ans Herz.
(Auf Deutsch heißt das Buch Nach dem Regen und wurde von Anke Caroline Burger übersetzt, aber ich habe leider keinen Text online gefunden, um euch zu sagen, ob die verzaubernde Sprache auch übersetzt funktioniert.)
“The man with the ruined hands sits in a chair in his front garden and looks at the net curtain wafting in and out of the open window.
The veil she wore on their wedding day was white, it was like the curtain. It was smooth, silk maybe, and when she breathed it drifted out from her face like a feather. This was many years gone now, their wedding day, but it is like no time at all.
The look in her face when she lifted the veil, the delight, the pride, the beautiful in her soul, could be yesterday.
Her face, was beautiful.
Her hands, was beautiful.
Her skin, was smooth and clear and unbroken, when she touched him lightly it felt like water trickling across his body. She would move her hand across his face to see if she wanted him to shave before the evening meal, and when she was done his skin would feel clean of the dust of the day.
She was tall, and strong, and she kept her hair coiled tightly around the back of her head and she had intricate paintings on the secret parts of her body. She was a wonderful woman, but this was not enough to help her. He loved her deeply, but this was not enough to help her. Please, darling, she called out to him, through the door, the closed door. Please darling can’t you help me she called. He could not reach to her, he was not enough.
The door was stuck, in the heat, it was swollen, the wood of the door in the frame, the frame it was too small, like a wedding ring on a very hot day.
It was so very hot.
She said darling I am very hot I cannot breathe please can’t you reach me.
The paint on the door was coming away, it was bubbles, blistering, each time he touched it he felt knives across his skin and into his bones. The metal of the doorhandle, when he touched, it melted his hand like butter, it sunk into his skin like an axe into a tree and the hot air and the poisonous paint in his lungs, he thought he would die but he did not. He did not die.
She said my God my God what is happening.
He sits in his garden on a folding wooden chair, this man with the burnt hands, and the sun is shining and his daughter is playing with another girl in the street and he is okay but he is not okay.”
(Noch eine Leseprobe bei amazon.com)
Brian Wood/Becky Cloonan – Demo
Demo versammelt zwölf Geschichten, die als Einzelhefte erschienen sind. Als die Serie begann, ging es hauptsächlich um junge Menschen, die über besondere Kräfte verfügen – sie sind aber keine Superhelden, sondern „normale“ Menschen, die mit ihren Fähigkeiten mehr oder weniger auf Kriegsfuß stehen. Meist machen diese Kräfte ihnen das Leben eher schwer anstatt es zu erleichtern. Je länger die Serie dauert, desto mehr verschiebt sich der Schwerpunkt hin zu Beziehungen, dem Erwachsenwerden, großen Entscheidungen. Mir haben fast alle Geschichten gefallen, einige waren etwas schwächer, andere hingegen hatten eine sehr clevere Idee, wie zum Beispiel die von Kate, deren Äußeres sich ständig ändert, je nachdem, wer sie anschaut bzw. wer welche Erwartungen an sie hegt. Sie ist auf der Suche nach dem Menschen, der sie so sieht, wie sie ist. Klassisches Thema, intelligent umgesetzt. Zusätzliches Schmankerl: Die Zeichnungen von Betty Cloonan ändern sich ebenfalls von Story zu Story; man erkennt zwar ihren Stil immer wieder, aber trotzdem passen sich die Bilder den Protagonist_innen an.
Tim O’Brien – The Things They Carried
O’Brien war als gut 20-Jähriger in Vietnam als Soldat, und 1990 erschien diese Kurzgeschichtensammlung, die sich mit seiner Zeit im Krieg beschäftigt. Was mich an dem Buch so fasziniert hat, ist seine Form: Es erzählt nicht eine Geschichte nach der anderen, sondern schiebt Erklärungen ein, verwirrt, indem es Dinge in Frage stellt, die eine Seite vorher gegeben scheinen und berichtet nicht nur über die Kriegszeit, sondern auch über die Jahre davor und danach. Man weiß bis zum Schluss nicht, welche Geschichte jetzt wahr ist und welche nicht, aber das ist natürlich egal, denn es macht die einzelnen Begebenheiten nicht weniger faszinierend, abstoßend, spannend, beeindruckend, was auch immer.
The Things They Carried stand auf der Auswahlliste zum Pulitzerpreis und klingt so:
“Often in a true war story there is not even a point, or else the point doesn’t hit you until twenty years later, in your sleep, and you wake up and shake your wife and start telling the story to her, except when you get to the end you’ve forgotten the point again. And then for a long time you lie there watching the story happen in your head. You listen to your wife’s breathing. The war’s over. You close your eyes. You smile and think, Christ, what’s the point?
This one wakes me up.
In the mountains that day, I watched Lemon turn sideways. He laughed and said something to Rat Kiley. Then he took a peculiar half step, moving from shade into bright sunlight, and the booby-trapped 105 round blew him into a tree. The parts were just hanging there, so Dave Jensen and I were ordered to shinny up and peel him off. I remember the white bone of an arm. I remember pieces of skin and something wet and yellow that must’ve been the intestines. The gore was horrible, and stays with me. But what wakes me up twenty years later is Dave Jensen singing “Lemon Tree” as we threw down the parts.”
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Gerbrand Bakker (Andreas Ecke, Übers.) – Juni
Der Nachfolger vom wunderbaren Oben ist es still. Juni hat mir nicht ganz so gut gefallen wie Oben, aber das lag garantiert genau an den Beschreibungen, die das Buch so gut machen (ja, ich weiß, der Satz ist ein Widerspruch, folgt mir bitte). Das Buch spielt nicht nur in einem Juni, sondern in zweien, die 40 Jahre auseinander liegen, aber immer noch eine Verbindung haben. Es geht um eine Familie mit drei Söhnen und das Dorf, in dem sie leben. Wir begegnen den Personen sehr unmittelbar, ohne jede Einführung, bekommen sie vorgesetzt und müssen uns mit ihnen und ihren manchmal seltsam scheinenden Aktionen befassen. Wir erfahren im Laufe der Geschichte immer mehr aus ihrer Vergangenheit, und irgendwann wissen wir auch, was im Juni passiert ist. Gerade die Beschreibungen der Jahreszeit, des Wetters, der Hitze, der knackenden Bäume, der Windstille haben dem gesamten Buch eine fast fühlbare Schwere auferlegt; ich habe das Buch meist auf dem Weg zur Arbeit gelesen und dabei fast immer in einem klimatisierten Bus gegessen, und trotzdem hat mich diese sommerliche Schwüle erfasst, und ich fand es teilweise sehr anstrengend, die Buchseiten umzublättern. Genau das macht das Buch so gut – und eben gleichzeitig so anstrengend. Aber es lohnt sich auf jeden Fall. Wieder ein Schriftsteller für die Lieblingsautorenliste.
(Leseprobe bei amazon.de)
Harvey Pekar – American Splendor
Hm. Ja, ich weiß, American Splendor hat seinen Platz in der Ruhmeshalle der Comics aus guten Gründen: Die Serie hat quasi den autobiografischen Comic begründet, sie beschäftigt sich mit dem alltäglichen Leben, sie findet Geschichten, wo eigentlich keine sind (eben im alltäglichen Leben), ja, weiß ich alles. Trotzdem hat mich das Buch alles andere als begeistert. Das mag daran liegen, dass ich mir seitenlang das Leben eines schlecht gelaunten Mannes anhören musste, dessen Alltag mir einfach egal war. Nichts gegen alltägliche Szenerien und Beschreibungen; dieses Blog macht auch nichts anderes, und ungefähr 80% meiner Blogroll erzählen mir auch nur, was sie zum Frühstück hatten und wie’s ihnen so geht, und ich lese das sehr, sehr gerne. Aber American Splendor fand ich einfach doof. Aus dem Bauch raus doof.
Mir hat allerdings der Einblick in das Cleveland der 60er und 70er Jahre gefallen; teilweise waren die Zeichnungen sehr detailreich, was aus einer belanglosen Story dann eben doch etwas Spannendes gemacht hat. Meistens war ich aber genervt von der Hauptfigur, die ja nicht einmal eine Figur ist. Und wenn ich mich mal als Kostverächterin outen darf: Ich mag auch Robert Crumb nicht, und von ihm stammt ein Großteil der Zeichnungen.