Was schön war, Dienstag bis Freitag, 21. bis 24. März 2017 – Kunstkapsel
Am Dienstag saß ich lange im Zentralinstitut für Kunstgeschichte und las und las und las und dann las ich noch ein bisschen. Die Masterarbeit steht im Kopf quasi, und alles, was ich gerade lese, passt wie lauter kleine Steinchen ins große Mosaik. Das finde ich selbst sehr spannend mitanzusehen – auf was ich schon aufbauen kann und wie ich das, was ich noch neu lerne, bereits einordnen kann. Gleichzeitig erfreue ich mich, wie immer, an Rezeptionsgeschichte, weil die für mich meist spannender ist als das Werk selbst. Also: Wie wurde ein Bild wahrgenommen, als es frisch an der Wand hing und wie 40 Jahre später? Diese Entwicklung anhand von Aufsätzen oder Ausstellungskatalogen nachzuvollziehen, ist für mich auch immer Zeitgeschichte und nicht nur Kunstgeschichte, denn damit sich der Blick auf ein Bild ändert, muss sich eben auch der oder die Blickende ändern.
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Am Mittwoch fuhr ich zur Tochter von Leo von Welden, die mir großzügigerweise Aktenordner voll Korrespondenz, sowohl geschäftlich als auch privat, ihres Vaters geliehen hatte. Daran konnte ich nicht nur seine Ausstellungstätigkeiten nachvollziehen, sondern erfuhr auch von geplanten Ausstellungen oder wie Leo seine eigene Kunst sah bzw. wo er mit ihr hinwollte. So ganz nebenbei las sich das auch alles wie eine kleine Zeitkapsel der 50er und 60er Jahre, weil der Mann nach 45 durch ganz Europa reiste. Die vielen Postkarten haben mir sehr viel Freude bereitet, nicht nur wegen Leos Zeilen, sondern auch wegen ihrer Bildmotive.
Ich hatte der Tochter meine Arbeit schon vorher per Post geschickt – die Dame hat kein Internet – und durfte mir nun bei Tee und Kuchen anhören, dass ich Dinge herausgefunden hätte, die sie selber noch nicht gewusst hatte. Darauf war ich sehr stolz. Und bin jetzt noch trauriger, Leo erstmal liegenlassen zu müssen.
Als kleines Dankeschön durfte ich mir ein paar Werke ihres Vaters mitnehmen. Ich suchte mir eine Alugrafie mit einem religiösen Motiv aus, denn die waren vor 1933 und nach 1945 sehr stark in seinem Werk vertreten, und ich mag das, hier in Bayern jetzt eine Madonna um mich zu haben. (Im evangelischen Norden haben wir’s ja nicht so mit der Mutter Gottes.) Das zweite Bild war ein ebenso kleinformatiges, also ca. DIN-A4, Ölgemälde auf Sperrholz, das ich noch rahmen lassen werde. Es zeigt Jünger oder Apostel, jedenfalls vier längliche Gestalten in fließenden Gewändern; dabei sind die Figuren und die Farben auch recht typisch für von Weldens Spätwerk. Das letzte Bild wollte mir die Tochter zunächst nicht geben, weil es ihr so gar nicht gefiel, aber mir war das schon bei einem meiner ersten Besuche aufgefallen. Von Welden malte recht selten Stillleben, die ich ja bekanntlich sehr mag. Ich kenne einige Versuche von ihm mit runden Früchten, aber dafür hat mich leider Cézanne völlig verdorben; wenn man dessen Äpfel kennt, kann danach nichts mehr kommen (außer den Kubisten). „Mein“ Stillleben zeigt zwei Fische auf einem ovalen Teller vor einem einfarbigen Hintergrund. Sehr unspektakulär, aber recht untypisch für sein Werk, und deswegen wollte ich es haben. Ich unterstelle dem Mann ja immer, dass er ein ordentlicher Stilllebenmaler hätte werden können, wenn er sich nicht immer wieder auf seine ollen Pferde und Säufer und Paare zurückgezogen hätte, die ihm quasi minütlich aus der Feder flossen. (Der Nachlass besteht aus über 13.000 Werken, von denen gefühlt 7.000 Zeichnungen von Pferden sind.)
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Am Donnerstag rannte ich ein weiteres Mal durch die Postwar-Ausstellung im Haus der Kunst, bevor ich wieder in Aufsätzen versank, die ich dieses Mal in der Stabi fand. Ich komme sehr spät mit der Empfehlung per Blog, denn die Aussstellung läuft nur noch bis morgen, aber wenn ihr es schafft, dann sprintet doch mal durch. Mehr geht eh nicht, die ist viel zu groß für einen einmaligen Besuch.
Seit ich das erste Mal drin war, habe ich mehrfach den riesigen Katalog durchgeblättert und bin daher bei der nächsten Runde gezielt zu den Werken gegangen, die ich nochmal im Original vor mir haben wollte. Da waren zum einen zwei Werke von Gerhard Richter, der mir zwar eigentlich egal ist, mir aber im Zusammenhang mit Lüpertz und Kiefer natürlich dauernd über den Weg läuft. Die zwei Bilder (hier eins mit einem doofen Titel) in Postwar brauche ich nicht für die Masterarbeit, aber ich konnte so wenigstens mal wieder sein früheres Markenzeichen genauer anschauen – die abgemalten Fotos, deren Ölfarbe so aufgetragen wurde, dass das Motiv verwischt aussieht.
Das Spannendste an Postwar für mich war die neue Zeiteinteilung. Ich bin damit aufgewachsen, dass es im Mai 1945 in Deutschland eine Art Stunde Null gab (Ende der NS-Zeit). Dass das Quatsch ist, weiß ich inzwischen, denn vieles aus der NS-Zeit wurde in die Bundesrepublik und die DDR und auch das wiedervereinigte Deutschland geschleppt. Aber gab es andere Zäsuren? Gab es, und es ist mir fast peinlich, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Postwar benennt den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 als weltweiten Einschnitt. Das nukleare Zeitalter unterscheidet sich gravierend vom nicht-nuklearen und es bezieht die gesamte Welt mit ein. Daher ist in der Ausstellung auch nicht nur der übliche westeuropäisch-nordamerikanische Kanon der Kunstgeschichte zu sehen, sondern Werke von allen Kontinenten.
Ich fand es einerseits spannend zu sehen, dass gewisse Stilistiken sich weltweit durchsetzten, dass es aber gleichzeitig – natürlich – verschiedene Themen gab, die verarbeitet wurden und das in unterschiedlichen Weisen. Der Raum, der sich auf die Atomzeit bezieht, ist der letzte, und in den ging ich dieses Mal gleich zu Anfang, denn dort hingen zwei Werke, die einem schlicht den Atem rauben. Es sind zwei der insgesamt 15 sogenannten Hiroshima-Tafeln, und das Bild unter dem Link zeigt die rechte Hälfte einer der beiden Tafeln. Die Tafeln überwältigen nicht nur durch ihr Motiv, sondern auch durch ihre wandeinnehmende Größe. Ich musste daran denken, dass in Deutschland die Zerstörung des Landes nicht so schnell – wenn überhaupt – bildlich aufgearbeitet wurde. Mir fällt spontan nur so vage ein Richter ein, der, wenn ich mich richtig erinnere, deutsche Ruinen malte, aber erst in den 60ern. Wobei der Wiederaufbau, soweit ich weiß, ein Thema der DDR-Kunst war. (Ich muss das nochmal nachlesen.)
Mir persönlich waren außerdem die eher propagandistischen Werke aus der Sowjetunion und China wichtig (dieses Bild von Li Xiushi ist so still und so großartig), und ich habe mich gefreut, meinen ersten Willi Sitte im Original zu sehen. Generell habe ich gerne die Abteilung „Neue Menschenbilder“ betrachtet, wo mir mal wieder Maria Lassnig auffiel und ich Ibrahim El-Salahi und Ismail Fattah kennenlernte.
Ein weiteres Thema waren „Formsuchende Nationen“, die sich nach 1945 bildeten. An einer Wand hingen Bilder aus dem neu gegründeten Israel neben Bildern aus Palästina, die notgedrungen sehr unterschiedliche Aussagen hatten. Ich stand sehr lange vor diesem Werk von Mitchell Siporin – und fast ebenso lange vor einem thematisch völlig anderen, nämlich einer Baumrinde, die mit Pigmenten bemalt war und von Mawalan Marika stammte.
Ich lernte außerdem viele arabische Künstler und Künstlerinnen kennen; besonders im Gedächtnis geblieben ist mir dieses Werk von Jewad Selim. Das wollte ich unbedingt noch einmal anschauen, genau wie diese Skulptur, die sich aus der Wand zu schrauben scheint, von Lee Bontecou, oder eine, die an der Wand lehnt, aus verklebten Schnüren und Kautschuk besteht und mit jeder Klebestelle Wollen, aber nicht Können sagt, von Tetsumi Kudo.
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Den Freitag verbrachte ich wieder im ZI. Das Internet bzw. blöde Artikel bzw. noch beziehungsweiser Dinge, die diese Artikel in mir auslösten, hatten mich Donnerstag abend in eine veritable Sinnkrise geworfen, aus der ich Freitag morgen noch nicht herausklettern konnte. Zunächst war der Plan, traurig unter der Bettdecke zu bleiben, aber ich erinnerte mich daran, dass ich mich schon mal aus dieser Stasis befreien konnte, indem ich strunzdumm in eine Bibliothek fuhr und dort die Bücher ihren Zauber wirken ließ. Das funkionierte gestern auch. Statt mich mit Selbstvorwürfen zu geißeln oder Dinge anzuzweifeln, die ich mir hart erkämpft hatte, konzentrierte ich mich auf meine Arbeit, den Spaß, den ich an ihr habe und die vielen Dinge, die ich erlesen und erlernen kann. Das Selbstbewusstsein kam zurück, die Zweifel waren (vorerst) verscheucht, und ich fand weitere Mosaiksteinchen.
Die Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte ist mein Bällebad.
— Anke Gröner (@ankegroener) 24. März 2017