Beseelt


(Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Monika Rittershaus)

Ich war am Mittwoch abend mal wieder in der Oper. Diesmal nicht in der Deutschen, sondern in der Staatsoper Unter den Linden, wo Tschaikowskys Eugen Onegin gegeben wurde. Daniel Barenboim dirigierte, und als Lenski sollte Rolando Villazón auftreten, den ich noch nie live gesehen habe, sondern nur im Fernsehen. Also hab ich ein bisschen mehr Geld als sonst in eine richtig gute Karte investiert, noch drei Stunden vor Aufführungsbeginn auf der Webseite nachgeguckt, ob’s irgendwelche Änderungen gab – gab’s nicht –, mich vorfreudig in meine Opernklamotten geschmissen und mir ein Taxi gegönnt. Vor der Oper standen dann aber nicht nur wartendes Publikum, sondern auch freundliche Zettelverteiler, die jedem Ankömmling so mitteilten, dass Herr Villazón leider nicht singen könne, aber die Rolle spielen werde. Mpf.

Egal. Man ist ja nicht nur wegen des Tenors hier. Ich habe erstmal die Millionen von Kronleuchtern angeguckt, die im Haus verteilt sind, habe Ausschau nach Schulklassen gehalten, die mich nerven könnten (keine da, Karten waren zu teuer) und mich ängstlich in mein enges Sesselchen am Gang gequetscht, das mich sofort die Beinfreiheit der Deutschen Oper hat vermissen lassen. Ich mag sowohl moderne Opernhäuser als auch die kleinen, plüschigen, aber sobald ich sitze und versuche, meine Knie irgendwo unterzubringen, bin ich absoluter Verfechter der modernen Häuser. Neben mir saß eine alte Dame aus Holland mit ihrem geschätzt 50jährigen Sohn (?), der mit seinen 1,90 Körpergröße zwei Stunden neben mir gelitten hat. In der Pause entschuldigte er sich sofort, dass er mir so auf die Pelle gerückt sei, um seine Beine irgendwo unterzubringen, was ich so nett fand, dass ich im zweiten Teil mit ihm den Platz getauscht habe. Seine Mutter hat mir dann noch erzählt, dass der einzige Vorteil vom Altersschrumpfen sei, dass man wieder überall Platz habe, als es auch schon weiterging.

Aber erstmal zum Anfang: Wir saßen im ersten Rang und konnten schön aufs Parkett runtergucken, wo sich eine Dame so ziemlich mit Türenschluss noch in die zweite Reihe Mitte quetschte (Murphy’s Law: Leute, die zu spät kommen, sitzen IMMER in der Mitte). Zehn Sekunden, nachdem sie saß, kam Villazón auf die Bühne und entschuldigte sich auf Deutsch, dass er nicht singen könne, er habe eine Luftröhrenentzündung und alles versucht, aber es ginge nicht. Wir möchten ihm verzeihen und trotzdem den Abend genießen, denn es seien schließlich noch viele andere wundervolle Sänger da, ein großartiges Orchester und ein tolles Stück. Das Publikum klatschte – und die Dame aus der zweiten Reihe drängelte sich wieder zum Ausgang.

Gut, kann ich verstehen, aber nur widerwillig. Wenn ich zum, keine Ahnung, Oasis-Konzert gehe und mir mitgeteilt wird, dass Liam nicht singen kann, sie aber ne prima Alternative haben, dann hör ich mir das trotzdem erstmal an. Wenn’s doof ist, kann ich ja immer noch gehen. Aber so respektlos dem restlichen Ensemble gegenüber zu sein, sofort den Saal zu verlassen, weil EIN Sänger eine Vertretung ranlässt, fand ich dann doch ziemlich blöd. Das restliche Publikum auch, und es wurde nicht nur in unserer Ecke im Rang ein bisschen lästerlich getuschelt. (Wie die Vögel in The Birds.)

Ich kannte von Tschaikowsky bisher nur seine Ballette, ein paar Sinfonien und … äh … Kleinkram, aber noch keine Oper. Ich habe mir brav den Inhalt vorher durchgelesen, aber nicht das Libretto, vor allem deshalb, weil die Aufführung am Mittwoch nicht in deutscher, sondern in russischer Sprache mit Obertiteln war. Heißt: Ich kann entspannt mitlesen. Trotzdem habe ich in den ersten Minuten erstmal sortieren müssen, wer da jetzt gerade mit wem auf der Bühne interagiert. Denn: Die Inszenierung von Achim Freyer hatte auf den ersten Blick gar nichts mit dem Text oder der Handlung zu tun. Von Anfang an waren fast alle Beteiligten des Stücks auf der Bühne, die Sänger tummelten sich mit einigen Tänzern und dem Chor auf einer weißen Schräge, auf der sie viermal hintereinander so ziemlich die gleiche Choreografie vollführten. Dabei bewegten sich alle in streng abgezirkelten Bewegungen, deren Sinn ich meist nicht ergründen konnte. Da wurden Stühle durch die Gegend getragen, die Arme ausgebreitet, es wurde sich hingelegt, man stand wieder auf, man ging vorwärts und rückwärts einmal die Bühne rauf und runter … und das alles in Zeitlupe. Nicht nur die Bühne war weiß, sondern auch die Kostüme sahen aus wie schmutzigweiße, schlichte Umhänge, Jacken, Kleider. Ab und zu traten ein paar bunt gewandete Sänger auf und wieder ab, und das war’s. Zum Ende der Choreografie änderte sich das Licht dramatisch (z.B. von weiß zu blutrot und giftgrün), bis es schlagartig verlosch – und alles wieder von vorn begann.

Meine Simpelinterpretation wäre: Alles wiederholt sich, wir machen immer die gleichen Fehler, bewegen uns in einer vorgezeichneten Schleife und haben keine Chance, etwas zu ändern. Ich weiß nicht, ob das zu kurz gegriffen ist, aber lustigerweise wollte ich mir darüber gar keinen Kopf machen. Ich fand den Kontrast zwischen der leidenschaftlichen Musik und den hingebungsvollen Stimmen zur abgezirkelten Inszenierung so spannend, dass ich teilweise vergessen habe zu atmen – und daraufhin den ersten fiesen Hustenanfall meines Lebens in einer Oper bekommen habe. Ich hätte mich gehasst.

Es gibt moderne Inszenierungen, die mir auf den Keks gehen, weil ich sie nicht verstehe, oder weil ich nur darauf warte, dass mal wieder wer nackt über die Bühne rennt und mit Blut um sich wirft oder ähnlichen Schmonz veranstaltet. Es gibt aber auch Inszenierungen, die mich einfach erwischen, und ich kann nicht mal sagen, warum. Die hier hat mich erwischt: mit ihrer Schlichtheit, die gleichzeitig wahnsinnig kompliziert aussah, mit ihrer sehr grafischen Ausprägung und mit ihrer Dramatik, die sich gerade aus dem Fehlen jeder Dramatik ergab. Ich kann’s nicht erklären, ich weiß nur, dass ich selten so begeistert aus einer Oper gekommen bin wie Mittwoch abend. Ich bin dann so fürchterlich dankbar, dass ich an etwas so Wunderbaren teilhaben durfte, so etwas Besonderes sehen konnte. Dass es Menschen gibt mit so unterschiedlichen Talenten, die so hart dafür arbeiten, dass ich nach drei Stunden dumm grinsend im Taxi nach Hause schaukele und mich beseelt fühle.

Es hat natürlich nicht allen gefallen; natürlich war auch wieder ein Buh-Rufer in meiner Nähe, nur lustigerweise – das hab ich noch nie erlebt – wurde der von seinen Nachbarn in Grund und Boden diskutiert. Sein Gebrülle: „ES GEHT HIER UM LEIDENSCHAFT UND NICHT UM ZOMBIES!“, wurde sofort niedergeklatscht, und danach haben sich mehrere Leute um ihn geschart, um ihn zu bitten, doch zu respektieren, dass es dem Rest anscheinend gefallen habe. Woraufhin sich ein kurzer, verbaler Schlagabtausch entsponn, den ich bis zum Satz „Ich bin selber Künstler, ich weiß, wie man Tschaikowsky interpretieren muss“ mitangehört habe, bevor ich zum Sektstand geflüchtet bin.

Die stimmliche Vertretung für Villazón hat übrigens in schwarzem Anzug am Bühnenrand gestanden und bekam einen ordentlichen Applaus. Villazón ist, was ich sehr bemerkenswert fand, nicht mit den anderen Solisten zum Verbeugen nach vorn gegangen, sondern ist hinten bei den Tänzern geblieben, bis die anderen ihn nach vorne gebeten haben. Und so hätte er sich wahrscheinlich angehört, wenn er denn hätte singen können.

Wer sich das Stück angucken möchte: Es läuft leider nur noch einmal am 25. Oktober, und ich weiß natürlich nicht, ob es noch Karten gibt.