Tagebuch Samstag, 30. September 2023 – Herrndorf

„Aber was er trotzdem in dieser Phase ein für alle Mal für sich organisiert, ist ein Lebensstil, den er bis zu seinem Tod beibehalten wird: mit wenig auskommen, zu Hause arbeiten, solange es geht. Ewig rennt er mit den gleichen weißen Turnschuhen mit hohem Schaft in Nürnberg herum, bis die Sohlen wie Krokodilsmäuler herunterklappen. Wenn er bei seinen Eltern in Norderstedt ist, will seine Mutter mit ihm unbedingt neue Klamotten und Turnschuhe kaufen, aber Wolfgang weigert sich, und wer verstünde das nicht, er ist fast Ende zwanzig. Eines Tages aber klingelt in Norderstedt das Telefon, und Wolfgang erzählt seinen Eltern eine Geschichte: dass er mit seinen Turnschuhen durch die Fußgängerzone von Nürnberg gelaufen sei und ihn ein Mann angesprochen habe. Er arbeite beim Sportartikelhersteller Adidas in Herzogenaurach, habe der Mann gesagt, ob er Herrndorf dessen Turnschuhe für das Adidas-Archiv abkaufen könne? Für hundert Mark?

Mag sein, dass Herrndorf seinen Eltern nur eine gute Geschichte erzählt hat, um sie zu beruhigen. Mag aber auch sein, dass sie stimmt. Dass er seine zerfledderten Sneaker direkt dort in der Fußgängerzone ausgezogen und dem Mann von Adidas für hundert Mark in die Hand gedrückt hat, um danach barfuß nach Hause zu laufen: Das ist nicht ganz unwahrscheinlich. Herrndorf fuhr ia auch mit Calvin barfuß in die Uni nach Erlangen. Und die Firma Adidas in Herzogenaurach, eine halbe Stunde nördlich von Nürnberg, unterhält tatsächlich eine historische Sammlung der Sportartikel aus ihrer Produktion: unter anderem mit sechzehntausend Schuhen, die sorgfältig konserviert werden. Bei der Abteilung für ‚History Management‘ in Herzogenaurach können sie das Rätsel aber nicht lösen: ‚Wir haben eine intensive Recherche bei uns im Archiv durchgeführt, müssen Ihnen aber leider mitteilen, dass wir keine Aufzeichnungen über diesen Vorgang in unseren Akten finden konnten.‘ Ohne den Namen des Schuhmodells oder des Adidas-Mitarbeiters sei es schwierig, noch weiter zu forschen, das Archiv sei auch erst 2009 professionalisiert worden.“

Tobias Rüther: „Herrndorf. Eine Biographie“, Berlin 2023, S. 76/77.