Bücher Oktober 2010
Joseph Conrad – “Heart of Darkness” and Other Tales
Das Buch versammelt die wohl bekannteste Novelle von Conrad und drei kürzere Geschichten, die alle ein Thema, eine Person etc. mit Heart of Darkness gemeinsam haben. An Outpost of Progress beschreibt den Aufenthalt zweier Weißer in einer Station in Belgisch-Kongo; in Karain geht es um einen malaysischen Mann, der vor einer Vision flieht; in Youth verfolgen wir die lange Reise eines Schiffs nach Bangkok und treffen Marlow, den Erzähler aus Heart, zum ersten Mal.
Ich finde es schwierig, Klassiker zu besprechen, weil alles schon gesagt wurde, weil jeder sich die Cliff Notes durchlesen kann oder die Wikipedia. Mich hat an allen Geschichten vor allem die Sprache begeistert. Das klingt wahrscheinlich blöd, aber ich habe selten Sätze gelesen, in denen ich mich vor jedem Adjektiv verbeugen wollte. Gerade die ollen Adjektive machen ja gerne aus hübschen Geschichten überfrachteten Schmonz, aber hier hatte ich bei so ziemlich jedem Wort das Gefühl, dass jemand sehr lange über eben dieses Wort nachgedacht und es erst nach stundenlangem Abwägen hingeschrieben hat. Die Sprache Conrads ist nicht nur präzise und transportiert so unglaublich viel, sondern sie hat mich mal wieder – schon lange nicht mehr gehabt, dieses Gefühl – ehrfürchtig werden lassen. Ehrfürchtig vor den Möglichkeiten, die ein paar Buchstaben auf Papier eröffnen.
“I remained to dream the nightmare out to the end, and to show my loyalty to Kurtz once more. Destiny. My destiny! Droll thing life is – that mysterious arrangement of merciless logic for a futile purpose. The most you can hope from it is some knowledge of yourself – that comes too late – a crop of unextinguishable regrets. I have wrestled with death. It is the most unexciting contest you can imagine. It takes place in an impalpable greyness, with nothing underfoot, with nothing around, without spectators, without clamour, without glory, without the great desire of victory, without the great fear of defeat, in a sickly atmosphere of tepid scepticism, without much belief in your own right, and still less in that of your adversary. If such is the form of ultimate wisdom, then life is a greater riddle than some of us think it to be. I was within a hair’s breadth of the last opportunity for pronouncement, and I found with humiliation that probably I would have nothing to say. This is the reason why I affirm that Kurtz was a remarkable man. He had something to say. He said it. Since I had peeped over the edge myself, I understand better the meaning of his stare, that could not see the flame of the candle, but was wide enough to embrace the whole universe, piercing enough to penetrate all the hearts that beat in the darkness. He had summed up – he had judged. ‘The horror!’ He was a remarkable man.”
Jonathan Franzen – Freedom
Ich mag Familiengeschichten. Ich mag die Erzählweise von Franzen in Freedom, die mir weitaus weniger schwafelig vorkam als in The Corrections – aber ich muss zugeben, dass das Buch lange her ist und ich mich kaum daran erinnern kann; nur dass ich einige Seiten quergelesen habe, weil ich ungeduldig wurde. Hier war es genau das Gegenteil: Ich hätte gerne noch 500 Seiten mehr gehabt, dir mir von Patty erzählen, einer Hausfrau, ihrem Mann Walter, der sich mehr und mehr für die Umwelt einsetzt, Richard, ihrem Collegefreund, der immer nur Musik machen wollte, den Kindern, Nachbarn, Kollegen und wie sie alle gemeinsam 20, 30 Jahre älter werden.
Freedom fühlt sich manchmal an wie die Beschreibung eines einzigen, großen Luxusproblems: Die Figuren sind allerschönste Mittelklasse, sie müssen nicht überlegen, woher morgen das Mittagessen kommt oder ob die Kinder sich das College leisten können, sie sind nicht krank, keine Randgruppe und trotzdem ist das Leben manchmal so schwer, dass man morgens nicht aus dem Bett möchte. Und weil ich selber so ein schönes Mittelklassekind bin, kann ich niemandem im Buch böse sein, dass es ihm oder ihr gerade schlecht geht wegen Dingen, die Menschen in anderen Erdteilen und anderen Lebensumständen als „Geht’s noch?“ abtun würden. Ganz überstürzt zusammengefasst wäre Freedom: Freiheit ist eine Last. Eine schöne, aber eine Last. Aber da sind netterweise noch ein paar Nuancen, die das ganze vom satten Wohlstandsbuch zum scharfen Porträt werden lassen. Ich verkneife mir gerade den Zusatz „einer Generation“, aber insgeheim finde ich doch, dass es passt.
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Anthony Holden – The Man Who Wrote Mozart
The Man ist eine Biografie über Lorenzo Da Ponte, der Librettist von drei Mozart-Opern. Der Mann ist fast 90 Jahre alt geworden, und daher ist seine Zeit mit Mozart auch nur ein kleiner Teil seines langen Lebens – wenn Sie sich das bitte mal in der Wikipedia durchlesen würden? Genau diesen Wikipedia-Eintrag habe ich nur überflogen, als ich die Mozart-Biografie gelesen habe, in der Da Pontes Leben kurz angerissen wird, und ich dachte, das klingt spannend, darüber willst du Genaueres lesen. Spannend war Da Pontes Leben sicher, aber The Man kann das leider nicht transportieren.
Der Stil war durchaus lesbar, aber es kam mir manchmal wie eine bloße Aneinanderreihung von Jahreszahlen und Anekdoten vor. Mir hat ein bisschen der rote Faden gefehlt, ein Grundgefühl, eine Grundhaltung, die die vielen Fehltritte und falschen Entscheidungen erklärt, weswegen Da Ponte trotz diverser Karrieren und Umzüge an seinem Lebensende ziemlich verarmt und ziemlich verbittert war. Ich habe eine Einordnung in die Historie vermisst, die um Da Ponte herum passiert. Einige wenige Fakten haben mich sein Leben immerhin ein bisschen besser verstehen lassen, so zum Beispiel die Tatsache, dass Komponisten und Librettisten ihre Werke selbst gedruckt und sie dann zur Vorstellung verkauft haben; damit konnte erstens das Publikum mitlesen, was auf der Bühne gesungen wurde (das habe ich mich ja immer gefragt, ob jemals jemand eine Sopranistin verstanden hat, ohne zu wissen, was sie singt) und es war zweitens eine kleine Einnahmequelle für die Künstler. Solche Details machen für mich eine Biografie fassbar, und davon gab es leider viel zu wenige.
Audrey Niffenegger – Her fearful symmetry
The Time-Traveller’s Wife fand ich ja sehr schnuffig, und deswegen wollte ich natürlich wieder ein Schnuffibuch haben. Hab ich aber nicht bekommen. Symmetry fängt irgendwie unangenehm und voller Vorahnungen an, wird dann zu einer viktorianischen Gespenstergeschichte und endet genau da, wo ich es nicht haben wollte.
Alles beginnt mit einem Todesfall: Elspeth stirbt, die Geliebte von Robert; beide wohnen in London in getrennten Wohnungen im gleichen Haus, das neben einem Friedhof steht, auf dem Robert Führungen macht und über den er ein Buch schreibt. Die dritte Partie des Hauses ist ein niederländisches Paar, wovon der Ehemann Martin unter Neurosen leidet, das Haus so gut wie nie mehr verlässt, drei Stunden duscht und den Fußboden mit der Zahnbürste schrubbt. Elsbeth hinterlässt ihre Wohnung den Zwillingstöchtern ihrer Zwillingsschwester (ja, genau), die in Amerika wohnen und die sie nie gesehen hat. Julia und Valentina werden von Anfang an als recht unterschiedlich charakterisiert, und genauso gehen sie auch mit London um: Die eine entdeckt es, die andere hat Angst vor der tube, die eine freundet sich mit Martin an, die andere mit … einer dicken Spoilerwarnung.
Wo ich die Personen zunächst alle unscharf und irgendwie belanglos fand, fand ich sie im Laufe des Buchs immer rätselhafter. Einzig Martin bleibt sich treu, und er ist, trotz seines nervigen Lebensstils, der einzige Lichtblick für mich im Buch gewesen. Allen anderen möchte ich nicht im Dunkeln begegnen. Und in einem Buch eigentlich auch nicht.
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Friedrich Schorb – Dick, doof und arm: Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert
Darüber habe ich hier schon ausführlich geschrieben.
Wolfgang Herrndorf – Tschick
Schön. In Tschik fahren der 14-jährige Maik und sein Freund Andrej/Tschick in einem geklauten Lada aus Berlin raus Richtung Walachai. Dass es die gibt, hat die Wikipedia Maik erklärt, und nachdem er sich seiner Meinung nach eh zum Affen gemacht hat, als er der angebeteten Tatjana ein selbstgemaltes Porträt von Beyoncé geschenkt hat, ist es ihm auch egal, als plötzlich Tschick in einem gestohlenen Auto vor ihm steht und sagt, los, steig ein. Auf ihrer Reise treffen die beiden, wie es bei Roadmovies (wie heißt das Wort, wenn’s um Bücher geht?) nunmal so ist, seltsame Menschen, ihnen passieren seltsame Sachen, und nachher haben wir alle was gelernt. Könnte total banal sein, ist es aber nicht, weil Herrndorfs Stil keinen Deut nachgemacht klingt („Wie reden 14-Jährige heute wohl so?“), sondern immer echt und nah dran und genau richtig und dann doch wieder sehr erwachsen und allgemeingültig und gut. Schön eben.
John Layman/Rob Guillory – Chew Vol. 2: International Flavor
Von Chew 1 war ich ja hin und weg – von Chew 2 nicht ganz so. Der Stil ist immer noch toll, die Sprache, die Figuren, die Zeichnungen, alles hübsch, aber die großen Überraschungen haben hier gefehlt. Wo ich im ersten Band kaum den Mund wieder zubekommen habe vor lauter Freude über die ganzen irren Einfälle, war ich hier freundlich-interessiert, aber mehr auch nicht. Egal. Immer noch besser als viele andere Comics, und deswegen wird auch der dritte Band gekauft, sobald er rauskommt. (Los, komm raus.)
Mike Mignola/Christopher Golden/Tom Sniegoski/Ryan Sook/Curtis Arnold/Brian McDonald/Derek Thompson/Matt Smith – B.P.R.D.: Hollow Earth & Other Stories
Das Hellboy-Universum besteht nicht nur aus meinem liebsten roten Comichelden, sondern auch aus seinen Kumpels und Kumpelinen, die im Bureau for Paranormal Research and Defenses arbeiten und die Welt sauber halten von Trollen, Monstern, Aliens und dem ganzen anderen Zeug, was sich die vielen, vielen Verfasser da oben ausdenken. In Hollow Earth retten Abe und der Homunkulus Elizabeth aus einem Mönchskloster, in dem noch ein paar andere Wesen leben. Auch die weiteren kurzen Geschichten beleuchten den Hintergrund der Hellboy-Freunde und unterfüttern so die „richtigen“ Geschichten. Aus der B.P.R.D.-Reihe gibt es diverse Bände, die noch gelesen werden möchten. Sie entschuldigen mich?
(Leseprobe bei amazon.de)
Wolfgang Herrndorf – Diesseits des Van-Allen-Gürtels
Hat mir nicht ganz so gut gefallen wie Tschick. Eigentlich hat’s mir mehr so pflichtbewusst gefallen wie einem Klassiker gefallen müssen und Citizen Kane. In Diesseits versammeln sich mehrere Kurzgeschichten, die sich an winzigen Berührungspunkten aufeinander beziehen, aber ansonsten unabhängig und in verschiedenen Stilen bzw. Erzählperspektiven dahingleiten. Immer wenn ich erwartet habe, dass jetzt eine Pointe oder Auflösung oder irgendwas käme, war die Geschichte zuende. Was mich ziemlich genervt hat, weil ich die Figuren durch die Bank spannend fand und gerne gewusst hätte, was genau jetzt mit ihnen passiert. Der Stil Herrndorfs hat mich etwas über meine enttäuschte Haben-haben-haben-Haltung hinweggetröstet, und alleine für den folgenden Satz habe ich das Buch dann doch gerne im Regal:
„’Heidi’, hatte Holm gesagt, ‘Das Weltall ist unendlich groß. Das entspricht der Größe von unendlich vielen Fußballfeldern.’“