„Dick, doof und arm? Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert“
Das Buch von Friedrich Schorb werde ich auswendig lernen, damit ich ein paar Argumente habe gegen das übliche Stammtischgeblubber des zusammenbrechenden Sozialstaats, weil wir ja alle immer fetter werden, gegen die Forderungen, dass dicke Kinder ihren Eltern weggenommen werden müssten, weil die ja quasi Verbrecher sind, und generell gegen das dämliche „Ihr müsst nur weniger essen und euch mehr bewegen“-Geseier (was genauso sinnvoll ist wie einem anorektischen Menschen zu sagen, er oder sie müsste „nur mehr essen“).
Schorb erklärt zum Beispiel, woher eigentlich die Monsterzahlen kommen, die von einer Epidemie sprechen und dass sie Blödsinn sind:
„Seit der WHO-Konferenz vom Juni 1997 gilt weltweit ein BMI kleiner als 18,5 als Untergewicht, ein BMI zwischen 18,5 und 25 als Normalgewicht, ein BMI größer als 25 als Ãœbergewicht, und ein BMI größer als 30 als krankhaftes Ãœbergewicht bzw. Adipositas. (…) Innerhalb weniger Jahre (übernahmen) weltweit praktisch alle staatlichen Gesundheitsministerien, -institute, -behörden und unabhängige bzw. halbstaatliche Gesundheitsorganisationen die neuen Grenzwerte. Mit zum Teil erheblichen Konsequenzen. So wurden 1998 mit Ãœbernahme der WHO-Grenzwerte durch das US-amerikanische Gesundheitsinstitut (NIH) mehr als 35 Millionen US-Amerikaner übergewichtig, ohne ein Gramm zugelegt zu haben. Die USA hatten zuvor auf eigener Datenbasis weniger strenge Grenzwerte festgelegt. Frauen galten dort zuvor erst ab einem BMI von 27,8 als übergewichtig und ab einem BMI von 32,3 als adipös. Die Werte für Männer lagen bei 27,3 respektive 31,1.“
Er weist auf den Fakt hin, dass viele Studien zu Übergewicht von Pharmakonzernen finanziert werden, die ganz zufällig gerade ein paar Abnehmpillen in der Mache haben oder Medikamente zum Senken des Blutdrucks oder des Cholesterinspiegels – wobei die Grenzwerte da durch Lobbyarbeit auch gerne nach unten korrigiert werden.
Das Buch erklärt (zum 1000. Mal), dass Diäten in 95% aller Fälle nicht funktionieren und dass leider immer noch niemand genau weiß, warum einige Menschen dick werden und andere bei genau der gleichen Nahrung nicht, und dass wir noch weniger wissen, wie wir wieder schlank werden können. Und ich rede hier nicht von den zwei, drei Kilo, die wir uns im Winter anfuttern und im Sommer wieder loswerden, sondern ich rede von „richtigem“ Übergewicht, das eben gerne wiederkommt.
Schorb weist auch auf die Verantwortung der Medien hin, die sich ebenfalls gerne an der Panikmache beteiligen:
„Die Süddeutsche Zeitung berichtete (im April 2007) unter der Ãœberschrift „Deutsche sind die dicksten Europäer“ über das Zahlenwerk (eine Studie von 2005 der beiden Organisationen IASO und IOTF, International Association for the Study of Obesity und International Obesity Task Force, die beide zu zwei Dritteln von Pharmakonzernen finanziert werden, Anm. Anke). Zwei Drittel der Deutschen seien zu dick, das sei europaweiter Rekord. (…) Doch schon nach einigen Tagen wurden die ersten kritischen Stimmen laut. Das Robert-Koch-Institut hielt den Vergleich für fragwürdig, da die IASO alte und neue Datensätze miteinander verglichen hatte. So datierten die Vergleichszahlen aus Dänemark aus dem Jahr 1992, die aus Malta waren sogar von 1984, die deutschen Daten dagegen waren erst 2002 erhoben worden. Zudem waren die Erhebungsmethoden nicht einheitlich, so wurden zum Beispiel Befragungs- und Messdaten vermischt. Manche der Studien, so auch die deutsche, hatten nur Menschen im Alter von 25 bis 69 Jahren berücksichtigt. In anderen Studien wurde die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen, bei denen Ãœbergewicht am seltensten auftritt, mitberücksichtigt.
Neville Rigby von der IASO wehrte sich gegen den Vorwurf, Falschmeldungen zu verbreiten, mit dem Argument, man habe im Kleingedruckten sehr wohl darauf hingewiesen, dass die Daten nur bedingt miteinander vergleichbar seien. Es sei seiner Organisation gar nicht darum gegangen, eine Rangliste der dicksten Nationen in Europa zu erstellen.
Ihr Ziel hatte die IASO aber so oder so erreicht: die deutsche Öffentlichkeit und die Bundesregierung zu alarmieren und zum Handeln zu treiben. Eine schlampig zusammengeschusterte Datensammlung ohne jeden Neuigkeitswert brachte das Kabinett am 4. Mai 2007 – gerad einmal zwei Wochen nach der Veröffentlichung der Zahlen – dazu, einen nationen Aktionsplan gegen Übergewicht ins Leben zu rufen.“
Und Schorb widerlegt die Zahlen, die den Dicken einen Riesenanteil an den Kosten der Krankenversicherung zur Last legen. Die Bundesregierung hat gerne die Zahl von 70 Milliarden im Angebot, die Übergewicht die Krankenkassen kosten würden. Diese Zahl beruht auf einer Studie von 1993 zu „ernährungsbedingten Krankheiten“:
„In dieser Studie wurden alle Krankheiten, die nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft irgendwie in Zusammenhang mit Ernährung stehen, erfasst und die Kosten, die deren Behandlung jährlich verursacht, addiert. Unter den genannten Krankheiten befinden sich unter anderem zahlreiche Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gicht, Diabetes, Karies, Osteoporose sowie diverse Krebserkrankungen. 30,3 Prozent aller Kosten im Gesundheitswesen seien durch die genannten Krankheiten verursacht, schreiben die Autoren. Diese 30,0 Prozent werden seitdem regelmäßig auf die Gesamtausgaben im Gesundheitswesen angerechnet. (…)
Seriöse Schätzungen nennen sehr viel bescheidenere Zahlen als die Bundesregierung. Auf gerade mal 530 Millionen Euro jährlich schätzen beispielsweise die Gesundheitsökonomen von Lengerke, Reitmeier und John die durch Ãœbergewicht und Adipositas verursachten Kosten. (…) Sie haben die Arztbesuche sowie die Länge und Dauer von Krankenhausaufenthalten nach dem BMI der Studienteilnehmer aufgeschlüsselt. Ihr Ergebnis überrascht, denn deutlich häufiger zum Arzt bzw. zur Behandlung ins Krankenhaus musste einzig die schwer Adipösen mit einem BMI größer 35. Bei ihnen war auch der durchschnittliche Krankenhausaufenthalt länger als bei den Studienteilnehmern mit niedrigerem BMI. Während sich Personen mit moderater Adipositas (BMI 30–35) in ihren direkten medizinischen Kosten statistisch nicht signifikant von Normalgewichtigen bzw. Ãœbergewichtigen (BMI 25–30) unterschieden hätten, ergäben sich für Personen mit starker Adipositas eine erhöhte Nutzung des Gesundheitswesens und damit einhergehend höhere Kosten. (…) Diese 530 Millionen sind angesichts eines Volumens von über 240 Milliarden Euro Gesamtkosten im Gesundheitswesen tatsächlich nicht mehr als die sprichwörtlichen Peanuts.“
Die schwer Adipösen sind übrigens auch keine fette Masse, die auf uns zuschwabbelt: Gerade einmal zwei Prozent der Gesamtbevölkerung bewegt sich in diesem BMI-Rahmen. Aber derartige Zahlen stören bei der Islam-Debatte ja auch keinen. Und nebenbei: Ja, wir sind dicker als noch vor 100 Jahren. Aber dafür leben wir auch statistisch gesehen circa 40 Jahre länger und gesünder. Vielleicht ist die Zunahme des durchschnittlichen Bauchumfangs einfach der Preis dafür? Den ich jetzt gar nicht mal so schlecht finde.
Ich persönlich fand das Buch sehr wohltuend, aber ich ahne, dass es sowieso nur Menschen wie ich lesen, die sich täglich mit dem Dicksein auseinandersetzen. Ich hab noch ein Zitat als Rausschmeißer, das ich mit Rotstift unterstreichen und es allen Schwätzern an die Backe nageln möchte, die sich keine Sorgen darüber machen, dass jedes zweite Mädchen zwischen 7 und 15 schon mal eine Diät gemacht hat:
„Spaß am Kochen und Essen, am Ausprobieren und am gemeinsamen Experimentieren schon bei Kindern zu fördern; Kindern und Jugendlichen dabei zu helfen, den Umgang mit und das Verhältnis zum eigenen Körper zu reflektieren; die Vielfalt von Körpern anzuerkennen und zu schätzen, statt sie schon im Kleinstkindalter in Kategorien zu pressen; Lebensfreude zu fördern statt Leistungsdruck und schlechtes Gewissen zu vermitteln: Das alles wären würdige Ziele für den nächsten nationalen Aktionsplan.“