Rom, Tag 4
Donnerstag, 19. Mai
Der vierte Tag in Rom. Am Montagabend dachte ich noch, die Woche überleben meine Füße nicht und so viel kann’s hier doch gar nicht zum Angucken geben, und jetzt ist es Donnerstag, und ich ahne, dass ein Leben nicht reicht, um alles anzugucken, was hier in 2000 Jahren hingebaut wurde, die Füße meckern mich zwar an, aber ich ignoriere sie, und überhaupt: Morgen ist schon der letzte Tag? WIR SIND DOCH GERADE ERST ANGEKOMMEN!
Zum Trost stehen heute die Vatikanischen Museen und eine Weinprobe auf dem Programm. Erst die Arbeit, dann der Suff. Wir traben um acht Uhr in Richtung Petersdom (die Strecke kann ich auswendig) und gehen entspannt an der Schlange vorbei, die jetzt schon fünfzig Meter lang ist, obwohl die Museen erst in einer Stunde öffnen. Deswegen ist es auch noch nicht so voll wie in Versailles, wo ich kaum den Fußboden gesehen habe geschweige denn irgendwas anderes, aber als richtig leer kann man den Laden auch nicht bezeichnen, denn ab acht dürfen alle Gruppen rein, die reserviert haben.
Wir versammeln uns erstmal im Hof, wo mehrere Schautafeln stehen, auf denen die Sixtinische Kapelle abgebildet ist, die unseren Rundgang beschließen wird. In der Kapelle darf nämlich nicht gesprochen werden, weshalb alle Reiseleiter_innen ihren Schäfchen das Meisterwerk an den Tafeln im Hof erklären.
Nochmal eine Ode an den Reiseleiter: Da steht man eben vor Schautafeln und guckt sich zum Beispiel das abgenudelte Bild mit Adam und Gott und dem Funken an – und zum ersten Mal sieht man es anders, weil der Mann einem was erzählt, was man eben nicht wusste. Nämlich dass diese Darstellung von der Erschaffung des Menschen damals eine kleine Revolution war. Bisher wurde immer Gott dargestellt, wie er Adam Leben einhauchte – nix mit Fingerzeig oder so. Diese Idee war ganz neu und musste erstmal vom Papst abgenickt werden, bevor Michelangelo sie an die Decke malen durfte. Durfte er.
Oder die Szene mit der Arche, bei der man das steigende Wasser sieht. Bisher entschieden sich die Maler immer für das Davor oder Danach – also entweder die geöffnete Arche, auf die die Tiere strömen oder nur die Arche, die gemütlich über das glatte Meer schippert. Michelangelo zeigt dagegen die Tsunami-Variante: Man sieht die Arche, auf die sich noch panisch Tiere retten, im Vordergrund steigt das Wasser, einige Menschen sind auf eine kleine Insel geflüchtet und klettern auf Bäume, aber man sieht ihnen an, dass sie wissen, dass dieser Tag ihr letzter sein wird. Eine schreckliche Situation, sehr ungewohnt für so etwas Erbauliches wie die Privatkapelle des Papstes.
Oder die Seitenwand, an der ein riesiges Gemälde den Weg zu Himmel und Hölle aufzeigt. Mittendrin sehen wir Jesus als Weltherrscher, und um ihn herum fahren Menschen ins Paradies auf oder enden im Fegefeuer. Auch hier entschied sich Michelangelo für Action statt salbungsvollem Gekuschel. Die Menschen, denen der Weg in den Himmel offensteht, schweben nicht mit Harfenklängen hinauf, sondern werden, wie das der Tod eben macht, brutal aus dem Leben gerissen. Sie werden nach oben gezerrt und geschleift, ein Mann hängt gequält am Arm eines anderen, fast so, als ob er das Paradies vielleicht doch gegen das irdische Jammertal eintauschen wollen würde. Und: Im Paradies herrscht eine ähnlich bedrückende Enge wie in der Hölle. Auch nicht unbedingt eine gemütliche Vorstellung für das Jenseits.
Ich war schon von dem Vortrag so beeindruckt, dass ich das Ding kaum noch in echt sehen wollte. Aber bis dahin war der Weg ja auch noch lang. Erstmal ein paar Statuen angucken. Als erstes: den Apoll von Belvedere.
Mein blödes Foto wird ihm nicht ganz gerecht. Von der Statue schwärmte schon Goethe, und wenn man davor steht, weiß man auch warum. Sie fühlt sich ganz anders an als die üblichen Kerle mit ihren Rüstungen oder Speeren. Apoll ist weniger muskulös, sehr grazil und vor allem: raumgreifend. Er wirkt nicht kriegerisch, sondern wohlwollend. Und er steht da eben nicht einfach rum, sondern nimmt den ganzen Raum um sich herum in Beschlag. Ich kann es schwer beschreiben, aber man kann sich ihm nicht entziehen. (Deswegen verzeihe ich ihm auch den Baumstamm, an dem er lehnt.)
Direkt nebenan: die Laokoon-Gruppe.
Ähnlich faszinierend wie Apoll, weil die Statue so unglaublich lebendig wirkt, obwohl sie einen Todeskampf zeigt. Laokoon versucht, sich und seine Söhne vor einer Schlange zu retten, aber es wird ihm nicht gelingen. Hat nichts mit der Sixtinischen Kapelle zu tun, aber auch hier gucken wir uns wieder einen fürchterlichen Moment an. Vielleicht zieht es uns deshalb so in den Bann.
Der rechte Arm des Laokoon war lange Zeit verschollen, und man glaubte, er sei lang ausgestreckt, was der olle Besserwisser Michelangelo stets angezweifelt hatte. Er meinte, der Arm müsste verschränkt sein (was er auch ist), denn dann ist der Kopf der höchste Punkt der Statue und nicht der Arm. Außerdem bilden so Kopf – Schulter – Schulter – Kopf eine schöne Linie.
Ich persönlich konnte mich an den Füßen nicht sattsehen, warum auch immer.
Auf unserem weiteren Weg kamen wir am Torso von Belvedere vorbei, von dessen Bauchnabel der Reiseleiter nicht müde wurde zu schwärmen; an einem riesigen Becken, das wohl mal zu Neros persönlichen Geplantsche gehauen wurde; der gestern erwähnten Gartenzwergsammlung und dann an dieser Statue:
Sie ist eine der wenigen, bei der die Augen erhalten sind. In der Antike waren die ganzen Statuen nämlich nicht weiß, wie wir sie kennen, sondern bunt bemalt, und sie hatten Augen.
Ein ewig langer Gang war mit alten Wandteppichen geschmückt, an denen wir wortlos vorbeischlenderten und dabei diverse asiatische Tourist_innen fast umrannten; im nächsten Saal warteten Landkarten, für die ich gerne etwas mehr Zeit gehabt hätte, aber noch toller war die Decke in dem Saal. Sie war so unfassbar reich geschmückt und verziert und goldig und bunt, dass daneben der Spiegelsaal von Versailles (bis jetzt meine Blaupause für Wow!) wie eine Barbiewohnung aus den 80ern aussieht. Ich glaube, das ist der zweite Raum in meinem Leben, in den ich reingekommen bin und wirklich Wow! gesagt habe. Außerdem bin ich fassungslos stehengeblieben, was eine blöde Idee ist, weil dir sofort jemand in die Hacken läuft. Es wurde allmählich voller.
Kurz vor der Sixtinischen Kapelle kommen die Stanzen des Raffael, vier Zimmer, die von Raffael und seiner Schule ausgemalt wurden. Auch hier kann ich kaum sagen, wie sehr es mich beeindruckt hat, diese Wandgemälde zu sehen. Bisher habe ich Raffael immer irgendwie puttig-plüschig in Erinnerung gehabt, ihn aber nie mit dieser Farbgewalt und Raffinesse in Verbindung gebracht, die einige der Bilder der Stanzen haben.
Im zweiten Zimmer, der Stanza di Eliodoro, haben mich zwei Details fasziniert. Die beiden Wände haben jeweils ein Fenster in der Mitte, um das Raffael sehr geschickt „rumgemalt“ hat. Die eine Wand zeigt eine Kirchenszene mit Altar, und wie wir ja gestern gelernt haben, führen zum Altar Stufen hinauf. Das Fenster ist quasi eine perspektivisch korrekte Trennung der beiden Altarseiten; auf der einen gehen Menschen die Stufen hinauf, auf der anderen wieder hinunter. (Fast wie im Comic.) Auch auf der gegenüberliegenden Seite wird eine Geschichte erzählt: Hier ist es Petrus im Gefängnis, der befreit werden soll. Auf der linken Seite werden die Wachen überwältigt, in der Mitte sehen wir den gefangenen Petrus, und auf der rechten führt ein Engel den nun befreiten Petrus über die bewusstlosen Wachen hinweg.
Ich fand den Unterschied zwischen Michelangelos und Raffaels Bildern so faszinierend, vor allem, weil die beiden gleichzeitig an ihren Großprojekten gearbeitet haben. Während Michelangelo viel mehr Wert auf die Menschen und ihre beweglichen Körper legte, auf seltsame Verdrehungen und Muskeln, stand für Raffael die Bildkomposition im Vordergrund. Seine Menschen sind keine Idealtypen, sondern „normale“ Gestalten, die weitaus weniger entrückt aussehen. Vielleicht sind sie deshalb nahbarer; ich persönlich wäre gerne noch viel länger bei ihnen geblieben.
Ein kurzer Abschied von Raffael, der sich in einem Zimmer selbst porträtierte; er ist der Typ, der uns anschaut –
–, dann sprinteten wir durch die moderne Kunst, für die ich auch gerne nochmal wiederkommen würde, und dann standen wir am Fuß einer Treppe, die uns endlich in die Sixtinische Kapelle leiten würde. Inzwischen waren anscheinend alle Gruppen hier angekommen. Mehrere Aufseher deuteten wiederholt auf die dutzendweise rumstehenden Schilder mit Piktogrammen – nicht sprechen, nicht fotografieren –, und dann schoben wir uns gemeinsam über die Türschwelle. Hier ein Foto. (Haha.)
Ich gucke mal wieder auf meine Füße, während ich den Raum betrete, und noch bevor ich wieder nach oben schauen kann, höre ich den ersten Aufseher in der Kapelle: “Don’t stop. Keep walking.” Daher kam ich nicht dazu, wow! zu sagen, aber das soll ich ja eh nicht. Nach zehn Schritten, in denen ich nur die Masse um mich herum wahrnehme, gucke ich endlich nach oben. Weit nach oben. Die Decke mit dem Gemälde ist doch weiter weg als ich dachte, und ich kann kaum etwas erkennen. Hinter mir höre ich nochmals die Aufseher: “Shhhhh! No photo! Quiet!”, was relativ sinnlos ist, denn anscheinend sagen alle wow!, wenn sie reinkommen und hören auch nicht mehr damit auf. Einige Blitzmerker aus unserer Reisegruppe unterhalten sich ernsthaft darüber, warum man sich hier nicht unterhalten soll, während ich mir einen freien Platz in der Mitte der Kapelle suche, um stehenzubleiben und zu gucken. So. Das ist sie also. Die Sixtinische Kapelle. Erfüllt von vielsprachigem Gemurmel und den blaffenden Anweisungen Shhhh, no photo und quiet. Neben mir fotografiert ein Trottel auch noch mit Blitz, worauf zwei Sekunden später ein Aufseher neben ihm steht – “You go!” – und ihn gnadenlos zum Ausgang zerrt. Was natürlich wieder Gemurmel der Umstehenden zur Folge hat. Ich glaube, als Aufseher in der Kapelle muss man abends ne Menge meditieren oder Egoshooter spielen, um nicht irgendwann mit einem Flammenwerfer zur Arbeit zu kommen.
Wenn man den ganzen Quatsch um sich rum ausblendet, kann man aber endlich mal gucken. Die hohe Decke mit den vielen Einzelbildern ist wirklich zu weit weg. Wenn ich nicht wüsste, dass Gott über mir Adam seinen Finger entgegenstreckt, würde ich es nicht erkennen. Trotzdem kann ich die frisch restaurierte Farbigkeit genießen, die schiere Größe, und trotz des Gemurmels die seltsam erhabene Stimmung. Man spürt, dass man gerade etwas Besonderes sieht. Ich erkenne ein knalliges Orange, ein helles Gelb von verschiedenen Gewändern, ich bewundere die vielen Blautöne, und schließlich setze ich mich auf die lange Bank, die an der Wand langgeht und gucke einfach nach oben. Ich nehme kein besonderes Bild mit, sondern ein Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann. Und das knallige Orange.
(Die Stanzen und die Kapelle zum Selberangucken.)
Aus der Kapelle stolpert man wieder in den Petersdom, den wir uns aber nicht nochmal angucken wollen. Wir haben zwei Stunden frei, bevor uns ein Bus – ein Bus! wir müssen nicht mehr laufen, wobei eher das Rumstehen allmählich die Füße tötet – in die Katakomben bringt. Der Kerl und ich suchen uns eine winzige Trattoria, in der keine offensichtlichen Touris sitzen; ich esse endlich Pizza, und obwohl ich ahne, dass sie tiefgekühlt war, fand ich sie fantastisch. Zurück ins Hotel, duschen, abtrocknen, wieder anziehen, ab zum Bus.
Die Katakomben liegen etwas außerhalb von Rom und dienten den ersten christlichen Gemeinden als Friedhof. Wobei das jetzt nach lauschigen Gräbern unter immergrünen Bäumen klingt. Stattdessen klettern wir in ein Labyrinth aus dunkelgrauem Tuffstein. Es ist nicht so düster und eng und klaustrophobisch wie ich erwartet hatte, aber trotzdem würde ich es nicht unbedingt als gemütlich bezeichnen. Wir haben die Calixtus-Katakomben besichtigt, in die man gruppenweise, nach Sprache geordnet, eingelassen wird. Man kommt also an, wartet, bis genügend deutschsprachige Menschlein da sind, und dann rattert der Führer oder die Führerin einen Vortrag runter: 20 Kilometer Gänge. 500.000 Gräber, davon 45% Kindergräber. Über 100 Jahre Ausgrabungsdauer. Was sie einem nicht erzählt: Die Luft in den Katakomben ist weitaus besser als ich dachte, denn man sieht ab und zu den Himmel am Ende der langen Luftschächte. Außerdem kann man noch einige Wandmalereien erkennen, aber im Prinzip guckt man sich 20 Minuten lang Tuffsteinwände mit Löchern drin an.
Wir klettern wieder nach oben und steigen in den Bus, denn nun beginnt der entspannte Teil des Tages: ein Besuch in Frascati auf dem Weingut Casale Marchese. Ich habe in den ersten Rom-Tagen, wo immer es ging, Frascati zum Essen bestellt und hatte jedesmal das Gefühl, die Flasche käme direkt aus dem Supermarktregal. Der Wein war ziemlich geradaus und flach, blubberte manchmal ein bisschen, war aber nie etwas, an das ich mich lange erinnern wollte. Ich stellte mich geistig auf etwas Besseres ein, als der Busfahrer dem Reiseleiter zurief, dass er gerne einen Umweg über die Via Appia Antica machen könne. Ich verstand natürlich nur „Via Appia Antica“ und fing sofort an, hysterisch zu fiepsen, denn das habe ich bedauert, seit ich die Reise gebucht habe: keine Via Appia im Programm. Der Rest des Busses fiepste auch, und so hielten wir spontan und ungeplant an einer Straße an, die plötzlich von modernem Asphalt in riesige, graue, glatte Steine überging. In den Ritzen zwischen ihnen hatte sich Kies und Schotter gesammelt, und alles zusammen war eine einzige Ruckelpiste.
Das scheint aber kein italienisches Auto zu stören, denn die wenigen Karren, die sich vom „Hier bitte nicht langfahren, außer du bist ein Krankenwagen“-Schild nicht beeindrucken lassen, bremsen nur minimal ab, bevor sie ihr Fahrwerk mit der Folterstraße quälen. Die Straße verbindet einen noblen Vorort mit einer Verbindungsstraße zu Rom, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, und ehe man einen Schlenker fährt, macht man eben die Antike platt. War mir egal, ich trocknete mal wieder Tränchen, mit denen ich gar nicht gerechnet hatte. Aber genau wie das Kolosseum schleppe ich diese Straße schon so lange mit mir rum, dass ich es kaum glauben kann, sie selbst zu sehen. Beziehungsweise kann ich es kaum glauben, auf den gleichen Steinen rumzulaufen, auf denen vielleicht Caesar mal rumgelaufen ist. Wobei der wohl eher im Streitwagen gefahren ist, denn die Via Appia diente vor allem dazu, die Truppen schnellstmöglich aus der Stadt zu kriegen.
Nach zehn Minuten ist die allgemeine Rührung vorbei, und die Fahrt geht weiter. Es wird sehr hügelig, viel grüner, wir kommen an einem See vorbei, an den ewig langen Resten des einzig gut erhaltenen Aquädukts (FIEPS!) und an der päpstlichen Sommerresidenz, bevor der Bus durch das winzige Frascati schaukelt und ich alle Sinne auf Wein einstelle. Uns wurde vom Gutsbesitzer erklärt, wie sie Wein und Oliven anbauen und was alles so für antike Steine auf ihren Grundstücken gefunden wurden. Unter anderem war ein Teil des Guts früher eine Station, an der Pferde gewechselt wurden bzw. man Rast machen konnte, weil hier eine frische Wasserquelle sprudelte. Aus der Zeit ist noch ein Brunnen erhalten – und ein paar unanständige Gravuren in den Steinen um den Brunnen. Mit dem Satz „Sie stehen gerade auf einem Phallussymbol“ habe ich jedenfalls nicht gerechnet.
Den Rest des Abends habe ich mit wohliger guter Laune zugeschüttet; sowohl der Weiß- als auch der Rotwein, den wir genossen, war wunderbar, dazu wurden immer neue Platten mit Porchetta, Schinken, Salami, Pecorino und Bruschetta aufgetragen, die Luft war warm, die Konversation entspannt, und überhaupt war das Leben gerade mal wieder ganz, ganz großartig. Was war nochmal Hamburg?