Mein Opa war Blogger
Im Haus meiner Großeltern gab es keine Heizung. Wenn meine Schwester und ich in den Ferien zu Besuch waren, mussten wir uns erst wieder daran gewöhnen, uns nur mit kaltem Wasser zu waschen und eine Wärmflasche mit ins Bett zu nehmen. Und die war nicht mal aus Gummi: Oma hat stattdessen lieber alte Steinhägerflaschen mit heißem Wasser befüllt und sie in ein dickes, mummeliges Handtuch eingewickelt. Dann wurde die warme Rolle ins Bett gelegt, während wir uns zur Nacht fertigmachten – und als wir unter die riesigen Daunendecken gekrochen kamen, war das Bett wunderbar warm.
In der Küche und im Wohnzimmer standen zwei Öfen, die mit Brennholz befeuert werden mussten. Oma und Opa wohnten direkt am Waldrand, so dass Opa nur ein paar hundert Meter gehen musste, um frisches Holz zu finden oder dünne Bäume zu fällen und sie zuhause zu spalten. Meine Schwester und ich sind immer gerne mitgekommen, wenn Opa Bäumefällen ging. Die ganz schmalen durften wir bearbeiten; dazu haben wir ein Seil um den Stamm gelegt und daran gezogen, so fest wir konnten. Opa hat immer noch ein bisschen nachgeholfen, und irgendwann gab das Bäumchen nach und wir konnten es so weit zerteilen, dass es auf den Bollerwagen passte. Eine Axt durften wir damals noch nicht in die Hand nehmen, und daher hat Opa das Holz mit wenigen, geübten Schlägen zerkleinert. Ich mag bis heute den Geruch von frisch gespaltenem Holz sehr gerne. Es riecht ein bisschen wässrig, sehr sauber, so weiß wie das Holz, das unter der dunklen Rinde zutage tritt.
Mit dem vollbeladenen Bollerwagen sind wir dann wieder nach Hause gezogen. Die Arbeit von meiner Schwester und mir war getan; wir sind dann meist in den riesigen Garten meiner Oma gegangen, haben Erbsen direkt aus der Schale gegessen, uns in den hochaufgeschossenen Bohnenranken versteckt, Erdbeeren gepflückt, Stachelbeeren, Johannisbeeren und uns Kirschen an die Ohren gehängt. Währenddessen hat Opa begonnen, im Hühnerhof, wo sein Holzklotz stand, aus den Bäumen und Ästen Scheite zu schlagen, die er zu mehreren Holzmieten aufschichtete, die auf dem ganzen Grundstück verteilt waren.
Meine Großeltern sind beide seit mehreren Jahren tot. Ihr Haus gehört nun meinem Vater, der es vermietet hatte. Inzwischen ist die Fassade verklinkert und es gibt eine Zentralheizung. Der große Waschkessel meiner Oma, der auch mit Holz beheizt wurde und in dem ich gerne die Wäsche mit einem Holzpaddel umgerührt habe, bis mir die Arme wehgetan haben, woraufhin Oma wieder übernahm, wurde abgebaut. Aus der Abstellkammer neben der Waschküche haben meine Eltern den Schrank geschafft, der inzwischen von grauem Lack befreit und mit Bienenwachs poliert in meinem Esszimmer steht. Die Schlafzimmermöbel aus den 30er Jahren stehen bei meiner Schwester, der Esstisch bei mir, genau wie das weiße Goldrandgeschirr, das fürchterlich altmodisch ist, aber hervorragend zu meinem Silberbesteck passt.
In den letzten Jahren haben vier verschiedene Parteien in dem Haus am Waldrand gelebt. Der erste Mieter hat die helle Wandvertäfelungen in der Küche weiß lackiert. Die zweiten Mieter haben einige Bäume im Garten gefällt, darunter auch die Kirsche, die meine Großeltern zu meiner Geburt gepflanzt hatten. Die letzten Mieter hatten zwei riesige Hunde, die die letzten Reste des Gemüsegartens zunichte gemacht haben. Daraufhin hat mein Vater beschlossen, das Haus zu verkaufen, denn wenn einem etwas gehört, geht man vielleicht etwas pfleglicher damit um, als wenn man weiß, dass man irgendwann einfach gehen und alles zurücklassen kann.
Vor einigen Wochen haben meine Eltern eine Käuferin gefunden. Wir haben die letzten Erinnerungsstücke vom Grundstück geholt, die bis jetzt dageblieben sind – vielleicht auch, damit meine Schwester und ich nochmal dahin zurückkehren können. Die Betonplatte, auf der die Fuß- und Handabdrücke von meiner Schwester und mir sind, Sommer 1976. Einen Ableger vom Weinstock, der das Küchenfenster umrankt hat. Und das ganze Holz aus den noch übrig gebliebenen Holzmieten, denn auch bei meinen Eltern zuhause gibt es diverse Öfen, die befeuert werden wollen. Papa hat seit dem Tod meines Großvaters stetig Holz in Kisten nach Hause transportiert, und jetzt, nach Jahren, sind die Mieten endlich leer. Beim Einpacken der Mieten sind meinem Vater öfter einige Holzstücke aufgefallen, die so gar nicht nach frischem Holz aus dem Wald aussehen, sondern eher wie Holzreste, die Opa ebenfalls zerkleinert hat. Und auf diesen glatten Stücken hat Opa kurz notiert, wie es ihm so geht, wie das Wetter ist oder was er heute morgen als erstes in den Nachrichten gehört hat. Dann hat er das beschriftete Holzstück in die Miete geworfen, sich wahrscheinlich von seinem imaginären Leser verabschiedet und weitergearbeitet.
Mein Opa wäre heute 93 Jahre alt geworden.