Die Macht von Musik
Wir sitzen mal wieder im Didaktikkurs. Dieses Mal lautet die Aufgabe, sich drei kurze Musikstücke anzuhören und ein sogenanntes Hörtagebuch zu führen. Das heißt, wir lauschen gemeinsam einem Stück, das uns nicht bekannt ist und schreiben auf, was uns spontan dazu einfällt. „Ganz egal, was. Gefühle, Stimmungen, was für Instrumente Sie hören, egal. Und los.“
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Zum Mithören: das erste Stück, das zweite, das dritte. Die Links öffnen Spotify, und ihr müsstet mal versuchen, NICHT zu gucken, was ihr da gerade hört.
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Das erste Stück. Hört sich an wie Bach, aber zu jung für Bach. Ich notiere Dinge wie Bläser, Gott, getragen, fängt in moll an und hört in Dur auf. Nachdem wir alle Stücke gehört haben, sollen wir die drei Begriffe, die uns am charakteristischsten vorkommen, an die Tafel schreiben. In der Sammlung tauchen Worte auf wie Beerdigung, christlich, Kirche, Ensemble.
Das zweite Stück dauert etwas länger. Mir kommt es fast zu lang vor; der Chor dialogisiert vor sich hin, dann trifft man sich, und immer wenn ich denke, jetzt ist Schluss, kommt noch eine Schleife. Ich treibe etwas orientierungslos dahin und schreibe „Dialog, Frieden, es leuchtet“ an die Tafel. Andere notieren Choral, Bach, Kantate, Lösung, concerto grosso, mehrstimmig, Sopran, Tenor.
Das dritte ist wieder kurz. Meine Stichworte lauten „Bekräftigung, Vertrauen, zart“, meine Mitstudierenden notieren unter anderem Ensemblebesetzungen, raten Komponistennamen, schreiben Fachbegriffe an die Tafel.
Wir lassen das alles so stehen, kommentieren nicht, lesen nur, stellen fest, was alles an der Tafel steht: Da haben wir Gattungsbegriffe, Ideen zur Struktur der Stücke, Dynamikangaben wie forte oder piano, Besetzungen und Stimmungen, die transportiert werden. Am Ende der Stunde, nachdem wir die Stücke alle dreimal gehört haben und inzwischen wissen, was es ist, meint unsere Dozentin, dass sie immer wieder fasziniert davon ist, dass beim ersten Hören alle „was richtig machen wollen“. Wir seien so verschult, dass wir eher auf wissenschaftliche Dinge achten als auf Emotionen; wir analysierten sofort, anstatt einfach zuzuhören.
Das machen wir dafür beim zweiten Durchgang. Wir beginnen mit einem bisschen autogenen Training. Für mehrere Minuten sitzen wir bequem da, haben die Augen geschlossen, hören auf die leisen Ansagen der Dozentin und spüren unseren Gliedmaßen nach, ballen die Faust, entspannen wieder, fühlen der Energie nach, die dadurch entsteht. Völlig entspannt und darauf geschult, auf den Körper zu achten, hören wir die Stücke ein zweites Mal und versuchen uns wieder ein bisschen was zu merken, das wir danach aufschreiben.
Das erste Stück beginnt mit ein paar Takten Instrumentalmusik, bevor eine männliche Stimme einsetzt. Und ohne, dass ich es darauf angelegt hätte, gehen meine Schultern nach hinten und ich atme tief ein, ganz so, als ob ich selbst singen wollte. Ich spüre auf einmal den Raum in mir, den die Stimme mir verleiht, und das Getragene, was ich beim ersten Hören empfand, wird nun zu einer Aussage, Selbstbewusstsein, Stärke. Ich merke gleichzeitig, wie glücklich mich dieses körperliche Empfinden macht.
Das fühle ich noch stärker im zweiten Stück. Wo ich mich vorher als treibend empfunden habe, will ich nun meine Arme wie beim Schwimmen bewegen, ich will mit der Musik mitgehen, sie mitnehmen anstatt mich von ihr mitnehmen zu lassen. Mir fällt es sehr schwer, weiter ruhig sitzenzubleiben, wo ich doch viel lieber einen Kopfsprung in Richtung CD-Player machen würde. Das Stück ist nicht mehr zu lang, sondern genau richtig.
Das dritte Stück bremst mich dagegen völlig aus. Jeder Bewegungsdrang ist verstummt, ich will mich auf den Fußboden legen und mich mit der Melodie zudecken, schlafen, träumen. Wundervoll.
Auch hier erfahren wir erst am Ende der Stunde die „Auflösung“, als wir alle gemeinsam unsere Eindrücke schildern. Den meisten ging es wie mir: Es war ungewohnt, als Student oder Studentin der Musikwissenschaft bewusst unwissenschaftlich zu denken, sondern nur zu fühlen. Alle, die sich melden, meinen, sie hätten die Musik viel mehr genießen können und sich ihr ohne schlechtes Gewissen hingeben können. Viele hatten ähnliche körperliche Reaktionen wie ich. Genereller Grundon des Feedbacks: „Das war einfach schön.“
Vor dem dritten Hören informierte uns die Dozentin über die Musikfeste in Deutschland, die während der Napoleonischen Besatzung entstanden. Die Befreiungskriege wurden unter einer stark religiös motivierten Propaganda geführt. In den Gottesdiensten wurden Bibeltexte gerne auf die aktuelle Situation hin umgedeutet und ermutigten das Volk zum Krieg und zu persönlichen Opfern, zum Beispiel als Soldat oder als Angehörige. Dabei spielte der gemeinsame Gesang eine große Rolle, denn Singen schafft unwillkürlich eine Gemeinschaft, die flugs zur Volksgemeinschaft umgedeutet wurde.
Mit diesen Informationen im Hinterkopf hörten wir das ganze noch mal – und jetzt war ich schlecht gelaunt! Was ich eben noch als eine getragene Weise empfunden hatte, hörte sich nun für mich an wie gezielt komponierter Trost für Gefallene. Wo ich mich eben noch in die Musik fallenlassen wollte, empfand ich sie plötzlich als billige Propaganda, die mich bloß einlullen will. Nur das dritte Stück konnte mir auch die blöde Info nicht verderben, dass ich manipuliert werden soll, das war auch beim dritten Hören schlicht wunderschön.
Auch hier sammelten wir Eindrücke: Die anderen waren nicht ganz so pampig wie ich, hörten nun aber auch das, was sie hören sollten und empfanden es ähnlich wie ich: Schade, dass wir wissen, worum es geht.
Und das war dann auch der Punkt, den die Dozentin machen wollte: Manchmal lässt es sich besser über Musik sprechen, wenn man keine Ahnung hat, wenn man nicht sofort eine Biografie im Kopf hat, wenn man den Namen des Komponisten hört (bewusstes Maskulinum, ich habe noch von keiner Komponistin im bisherigen Studium gehört), wenn man nicht sofort nach der Motivation fragt, nach der Form des Stücks, nach Regeln und Strukturen.
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Im Nachhinein war ich etwas stinkig auf die Dozentin, denn das Stück, was mir erst sehr gut gefiel und dann gar nicht mehr, war der Elias von Mendelssohn. Der wurde aber erst 1846 komponiert und in Birmingham uraufgeführt, hatte also mit den deutschen Nationalismus 1813/14 so gar nichts am Hut. Um ihren Punkt klarzumachen, hat er natürlich funktioniert, aber ich fühlte mich ein bisschen doppelt beschissen. Das hielt aber nur kurz an, denn der Elias ist schlicht zu schön, um ihn scheiße zu finden. (Eat this, Wagner.)