„Und, Anke, wie war so dein zweites Semester?“
Ich habe gelernt, dass ich mich seit den Sommerferien in der Schule nicht viel weiterentwickelt habe: Wo ich früher schon mein gesamtes Lesebuch in der ersten Ferienwoche durchgelesen hatte und dem neuen Schuljahr entgegenhibbelte, stelle ich mir heute den Stundenplan fürs nächste Semester bereits in den letzten Tagen des laufenden zusammen. Und so toll es ist, in Hamburg am Kerl zu kletten – ich muss gestehen, ich habe die Tage im März und April gezählt, bis ich wieder im Flugzeug nach München saß bzw. endlich das erste Seminar anfing.
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Ich habe gelernt, dass ich noch genauso ungeduldig auf Noten warte wie früher. Die Klausuren waren netterweise recht schnell korrigiert (die große einstündige bereits nach einem Tag!), aber auf die Benotung eines Protokolls in Musikwissenschaft und die meiner Hausarbeit in Kunstgeschichte musste ich recht lange warten. So lange, dass ich auf Twitter schon arme Dozentinnen an anderen Unis anquatschte, wie lange man denn warten müsse, bis man nachfragen (vulgo: drängeln) darf.
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Ich habe gelernt, dass mein Anspruch an meine Arbeit an der Uni genauso hoch ist wie der für bezahlte Arbeit. Unsere Klausuren sind offiziell nicht benotet; im Notenspiegel steht nur bestanden oder nicht bestanden, und wenn ich mich richtig erinnere, kann man die Tests auch ewig und drei Tage wiederholen, bis da endlich bestanden steht, was das Ganze für mich etwas absurd macht, aber Absurdität scheint im Bologna-System kein Bug, sondern ein Feature zu sein.
Insofern müsste ich nur ein, zwei Stündchen lernen und entspannt die Hälfte der Punkte einfahren, um ein bestanden zu kassieren. Mache ich aber nicht. Stattdessen lerne ich wie blöde, damit in der inoffiziellen Note, die nie jemand außer mir sehen wird, gefälligst eine verdammte 1 vor dem Komma steht. Nein, das müsste ich nicht machen. Aber wenn ich das nicht mache, kann ich auch gleich in Hamburg auf dem Sofa liegen und Comics lesen.
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Ich habe gelernt, dass mich kunsthistorische Theorien mehr interessieren als die Kunst selbst. Das hat mich etwas überrascht, denn in meinem letzten Studium war Sekundärliteratur eher ein Schmerz im Arsch. Das scheint sich netterweise geändert zu haben. Ich habe alle Texte, die uns die Dozierenden aufs Auge gedrückt haben, sehr gerne gelesen, aber vor allem die, die sich mit unserem Fach beschäftigen. Was ist Kunstgeschichte überhaupt, in welchen Ausprägungen existiert bzw. existierte sie, wie hat sie sich verändert, welche Historiker und Historikerinnen sollte man kennen, was haben sie gesagt, wann und warum und in welcher Münchner Bibliothek steht ihr Buch?
(Kleiner Anlesetipp: Caravaggio’s Deaths von Philip Sohm. Gibt’s für lau bei jstor und mit Hilfe von Google wahrscheinlich auch noch woanders. Der Text zeigt, wie sich die Kunstgeschichte von der wilden Biografie Caravaggios hat einnehmen lassen – und wie sich diese Wahrnehmung und die seiner Werke über die Jahre ändert.)
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Ich habe gelernt, wie vielfältig man Musik hören kann, dass innere Wahrnehmung eine valide wissenschaftliche Aussage sein kann und dass Zuckerwasser aus Johann Strauß Champagner macht. Ich habe allerdings außerdem gelernt, dass meine Faszination für Musik nur für anderthalb Semester ausgereicht hat.
Im ersten Semester lernte ich ein paar Hintergründe zu Beethoven und lauschte der Musikgeschichte von 1700 bis 1830. In diesem Semester standen zusätzlich zur nächsten Runde Musikgeschichte Didaktik und Gehörbildung auf dem Plan. Und in den nächsten Semestern wären Kompositionslehre und Chor bzw. Orchester drangewesen. Vor letzterem hatte ich nicht so viel Panik, aber was ich mit ersterem soll, wusste ich nicht so genau. Und seit diesem Semester weiß ich, dass ich es auch nicht herausfinden möchte.
In Gehörbildung saß ich spürbarer mit Menschen zusammen, die jeden Tag musizieren als im ersten Semester. Einige kamen mit Geigen- oder Gitarrenkoffer in den Unterricht, andere erzählten von Proben mit ihrem Chor, wieder andere waren grundsätzlich zu früh da, damit sie noch zehn Minuten auf dem Klavier spielen konnten, das im Raum stand. Und ich? Ich dachte an die Kunst, an mein Blog, an Biergärten oder den Kerl. Der Unterricht selbst lief so: Intervalle hören, Rhythmen hören, Noten notieren, Musik von der CD vorgespielt bekommen und sie aufschreiben, Note für Note, nur nach Gehör. Das ist alles durchaus faszinierend, und manchmal habe ich selbst über mich gestaunt, was ich kann (oder auch nicht), aber mir wurde im Laufe des Semesters immer klarer, dass Musik für mich eher ein Hobby bleiben soll.
Das hört sich wahrscheinlich komisch an, aber ich betrachte meinen Gesangsunterricht nicht als Musizieren. (Das ist mir aber auch erst in diesem Semester klar geworden.) Es ist eher eine kleine Therapiestunde, etwas, das mich bewusst einmal pro Woche aus meiner Komfortzone jagt und mich Dinge machen lässt, die mich Überwindung kosten, die dabei aber so lohnend sind wie kaum etwas anderes. Der große Unterschied zu meinem Geigen- und Akkordeonunterricht früher ist, dass ich mit den beiden Instrumenten auf Publikum vorbereitet wurde. Ich bin solo aufgetreten, in Gruppen, im Orchester, habe Wettbewerbe gespielt und auf Weihnachtsfeiern; jede Übungseinheit habe ich im Bewusstsein absolviert, dass das irgendwer zu hören bekommt. Beim Singen ist das ganz anders. Das mache ich nur für mich, und das soll auch so bleiben. Ich will meine Musik nicht mehr teilen, und anscheinend will ich doch nicht so viel über sie wissen wie ich dachte, als ich mich an der LMU für ein Studium bewarb.
Deswegen gesellt sich ab dem nächsten Wintersemester ein neues Fach zu Kunstgeschichte, nämlich Geschichte, worauf ich mich sehr freue.
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Ich habe gelernt, dass ich immer noch lieber alleine lerne als in Gruppen, dass ich wirklich gerne in Bibliotheken sitze und mich durch ein Buch nach dem anderen fresse, dass ich genau wie bei Kinoblockbustern bei einem wissenschaftlichen Text „Oh wow“ sagen und begeistert sein kann, und dass ich überhaupt wissenschaftliche Texte weitaus mehr zu schätzen weiß als früher, vor allem weil sie kein Briefing, keine Meetingagenda, kein Reiseplan und kein Kampagnenkonzept sind.
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Ich habe gelernt, dass Wochenendbeziehungen so scheiße sind, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, dass das Internet Deutschland deutlich kleiner gemacht hat als es 1992 war. Ich habe gelernt, dass ich jetzt anscheinend zwei Wohnungen habe, die ich ohne Unterschied als Zuhause bezeichne. In der einen wohnt mein Herz, in der anderen der Kopf. Ich habe gelernt, dass man sich sehr in eine Stadt verlieben kann, mit der man gar nicht gerechnet hat.
Und in ein Studium, mit dem man auch nicht mehr gerechnet hat.