„Und, Anke, wie war so dein drittes Semester?“
Ich habe gelernt, dass ich noch irrwitzig viel lernen muss und will. Ich begreife so langsam, was das Fach Kunstgeschichte alles zu bieten hat an Richtungen, Theorien, KünstlerInnen, HistorikerInnen, und ich weiß wirklich nicht, wer sich ernsthaft nach sechs popeligen Semestern hinstellt und sagt, klar bin ich KunsthistorikerIn. Ich kriege hier so viel Zeug vor die Nase und sauge es auf und wurste es in meinem Kopf durch, aber ich weiß jetzt, dass da draußen noch so wahnsinnig viel mehr rumliegt. Und wo ich im ersten Semester dachte, ach du Scheiße, drei Jahre Uni, denke ich jetzt, WAS, NUR DREI JAHRE UNI, DA SCHAFF ICH JA NIX!? Ich bin jetzt halb durch mit dem Bachelor und denke schon über den Master nach. (Und nicht über meinen Kontostand.)
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Ich habe gelernt, wie schnell ich auch in wissenschaftlichen Diskussionen auf den Barrikaden bin. Mein liebster Geschichtskurs hieß Geschlecht im Zeitalter der Extreme 1900–1939 und befasste sich mit Männlichkeitsbildern, Frauengeschichte und dem Verhältnis der Geschlechter zueinander. Und egal um welches Thema es bei den Damen ging – ich habe es nicht geschafft, darüber sachlich und distanziert zu diskutieren. Zu merken, dass wir heute noch elende Diskussionen führen, die wir schon vor 50, 100 oder 200 Jahren geführt wurden, hat mich unglaublich genervt und müde gemacht. Zu lernen, dass die dusseligen Geschlechtszuschreibungen (Frauen sind so, Männer sind so, Natur, Biologie, isso, kannste nix machen) ein Konstrukt der Aufklärungszeit sind, das aber bedingt, dass Frauen sich heute noch rechtfertigen müssen, wenn sie beruflich arbeiten wollen und Männer, wenn sie lieber Gardinen aussuchen und Kinder großziehen möchten, regt mich seit der Unterrichtsstunde auf, in der wir darüber was gelesen haben. Ich hatte 25-Jährige neben mir, die sich „nur für sich schminken“ und aufbrezeln und verkennen, dass die eigentliche Freiheit, sich schminken zu dürfen, ohne für eine Prostituierte gehalten zu werden, sich irgendwann wandelte in einen Zwang, es zu müssen, wenn man als „weiblich“ gelten will, was auch immer das heißt. Ich habe darüber diskutiert, wie sehr Konsum weiblich konnotiert ist und warum das doof ist, weil Männer schließlich auch einkaufen. Ich habe dagegen anargumentiert, dass es eine tolle Möglichkeit ist, dass „wir Frauen“ unseren Typ ständig ändern können (heute verrucht, morgen der Kumpel), weil „die Männer“ locker auf diese angebliche Freiheit pfeifen und einfach immer sie selbst sind, ohne sich verrenken zu müssen und irgendwelchen Stereotypen genügen zu wollen. Ich habe versucht zu erklären, warum Kinder und Job zwar eine kleine Freiheit, aber gleichzeitig eine große Doppelbelastung für Frauen in den 1920ern war, weil damals das Konzept „Männerarbeit im Haushalt“ schlicht noch nicht angedacht war und dass sich nicht so irrwitzig viel geändert hat, auch wegen der oben angesprochenen Zuschreibungen, die beiden Geschlechtern schaden. Ich hatte des Öfteren den „Oma Gröner erzählt vom Krieg“-Tonfall drauf und war komplett von mir selbst genervt. Der Rest des Kurses, glaube ich, nicht, aber dafür hatten die Mädels meist den verklärten „Bei mir wird alles anders“-Blick drauf. Hmja. So hab ich mit 20 auch geguckt.
Learnings für das nächste Semester: nur noch Kurse belegen, die mich persönlich nicht betreffen. Wird super.
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Ich habe gelernt, dass meine Toleranz für doofe Ausflüchte an der Uni ähnlich gering ist wie im Job, was aber damit zu tun hat, dass ich inzwischen beides kenne. Vor 20 Jahren habe ich ähnlichen Quatsch von mir gegeben und war total von der Richtigkeit desselben überzeugt. Sätze wie „Ich hab’s nicht geschafft, den Text zu lesen, ich hatte so viel zu tun“ ziehen automatisch meine Augenbrauen nach oben und ich denke dann, den Spruch solltest du mal im Arbeitsleben bringen, Hase. Im ersten Semester wollte ich noch Kontakte zu KommilitonInnen knüpfen, um mit Gleichgesinnten über Kunst reden zu können, aber ich merke jetzt doch, dass eine kleine Welt zwischen uns liegt, vor allem was die Herangehensweise an Arbeiten, Lesestoff und Deadlines geht. Ja, ich habe auch Texte fürs Dienstagsseminar manchmal erst Montag um Mitternacht gelesen, aber ich habe sie gelesen und mir nicht stattdessen eine Ausrede überlegt.
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Ich habe gelernt, dass das Leben an zwei Orten gleichzeitig manchmal Vorteile hat. Gut, die Nachteile überwiegen – anderthalbfache Miete, Flugkosten, Fernbeziehung, mein Lieblingsshirt liegt grundsätzlich am anderen Ort und ich weiß nie, wo was im Kühlschrank vorrätig ist –, aber ich kann nicht nur in einer, sondern in zwei Staatsbibliotheken Bücher ausleihen. Ha!
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Ich habe gelernt, dass ich stolz auf meine Leistungen bin und freiwillig viel für gute Noten tue.
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Ich habe gelernt, dass ich immer weniger Verständnis für die Beschränkung von Wissen habe. In meinen ersten beiden Semestern Kunstgeschichte habe ich mich, warum auch immer, um Zeitschriftendatenbanken etwas herumgedrückt; in meinem wirklich grandiosen Basiskurs Geschichte wurde ich allerdings liebevoll gezwungen, mich da mal durchzuwühlen. Und, man glaubt es kaum, so ein Aufsatz ist echt schneller durchgelesen als ein Buch! Wer hätte es gedacht. Und es gibt zu jedem noch so obskuren Thema jemanden, der sich schon mal darüber Gedanken gemacht hat, damit ich sie zitieren kann. Aber: Man kommt nicht an alle Gedanken ran. Viele Zeitschriften sind noch nicht digital erhältlich (warum, wenn sie gedruckt irgendwo rumliegen?) und viele andere befinden sich hinter Bezahlschranken. Selbst die Journale, für die meine wunderbare Institution einen Zugang übers Uninetz bereitstellt, geben manchmal erst Artikel raus, die vor, sagen wir: 2008 erschienen sind. Hallo? Ich kann verstehen, dass die HerausgeberInnen dieser Magazine ihre neuen Ausgaben nur gegen Geld zur Verfügung stellen, aber hey: Fünf Jahre alte Artikel für wissenschaftliche Zwecke nicht umsonst abrufbar zu machen, ist einfach lächerlich. Gilt auch für nicht-wissenschaftliche Zwecke, wenn ich’s mir recht überlege. Was nützt das ganze Wissen, wenn niemand rankommt? Ich hätte meiner geschätzten Leserschaft in den letzten Monaten gerne alles verlinkt, was ich lese, because awesome. Geht aber nicht, außer diese Leserschaft ist selbst in irgendwelchen Uninetzen unterwegs. Doof, das. Ändert das!
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Ich habe gelernt, dass ich wissenschaftliche Texte inzwischen wie Literatur verschlinge. (Okay, bei Kunstgeschichte sind auch ne Menge bunte Bilder in den Büchern, das hilft.) Ich lese den Kram so unglaublich gerne, dass es mich selbst immer wieder verblüfft. In jedem Text stecken so viele neue Gedankengänge, denen ich folge, über die ich nachdenke, während der Text weiterfließt, und am Ende tauche ich aus den Buchstaben genauso neu auf wie nach einem Ausstellungsbesuch oder einer guten Vorlesung. Ich nehme aus jedem Text so viel mit und kann es beim nächsten Text, im nächsten Seminar, bei der nächsten Hausarbeit anwenden. Klingt simpel, aber in den letzten Jahren war ein Buch für mich ein abgeschlossener Kosmos, der damit endete, dass ich den Band zurück ins Regal stellte. Jetzt wirken Seiten, Sätze, Worte viel länger nach und auf einmal ergibt vieles Sinn, dem ich vor anderthalb Jahre noch schulterzuckend oder ratlos gegenüberstand. Ich glaube, ich habe das Konzept „Wissenschaft“ verstanden.
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Ich habe erleichert festgestellt, dass der Fachwechsel von Musikwissenschaft zu Geschichte eine sehr gute Idee war. Geschichte ergänzt mein geliebtes Hauptfach deutlich besser als die Musik, auch wenn die Kurse in Musik viel emotionaler und puscheliger waren und ich mich immer sehr gefreut habe, in ihnen zu sitzen. In Geschichte ist es weniger innerer Jubel, aber dafür, genau wie im Hauptfach, irrsinnige Neugier, über die ich mich manchmal wundere, die ich aber gleichzeitig freudig zur Kenntnis nehme. Selbst aus dem Kurs, dessen Dozentin ich eher so meh fand, der sich etwas zog und ein extrem undiskussionsfreudiges TeilnehmerInnenfeld hatte, selbst aus dem bin ich jedesmal rausgekommen mit dem Gedanken, ach guck, was du jetzt wieder weißt und gelernt hast und was du mit anderen Dingen in Verbindung bringen kannst. Der Kurs ging über Zeitschriften und Journale der Aufklärungszeit, und ich glaube, ich habe diese Zeit noch nie so gut verstanden wie jetzt. Denn lustigerweise puzzelt mein Kopf nicht nur die kunstgeschichtlichen Entwicklungen in den historischen Ablauf, sondern auch die alten Kenntnisse aus der Musikwissenschaft und der Fortentwicklung der Klassik von Haydn über Mozart zu Beethoven passen auf einmal. Haben sich die zwei Semester Müsique dann doch gelohnt.
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Ich habe wiederholt festgestellt, wie sehr ich es mag, in Bibliotheken zu sitzen. Das wird immer toller, weil ich allmählich weiß, wo überall die Uni München welche hat, in welcher ich lieber bin als in anderen (bessere Stühle, bessere Luft, besseres Licht, größere Auswahl an freien Plätzen) und vor allem: wie gut ich dort arbeiten kann. Mit dem neuen Fach kam auch eine neue Bibliothek ins Spiel, nämlich die im Historicum, die die größte geschichtswissenschaftliche Bibliothek Deutschlands ist. Und so gerne ich unsere überschaubare KuGi-Bib mag – die Historicums-Bibliothek hat sofort den ersten Platz in meinem Herz erobert. Fünf Stockwerke voller Bücher und Zeitschriften winseln in Freistunden um meine Anwesenheit, und ich gebe jedesmal nach, obwohl ich in acht Minuten mit dem Fahrrad zuhause sein könnte. Aber zuhause gucke ich eh bloß Serien weg, während ich in der Bibliothek auch gerne mal was für eine Automarke texte, Magazinartikel für einen neuen Kunden verfasse oder ohne Plan an das Regal mit den Zeitschriften gehe (mein Liebling: das Archiv für Kulturgeschichte) und mich irgendwo festlese.
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Ich habe in meiner Lieblingsvorlesung über Ausstellungskonzepte der letzten 60 Jahre gelernt, dass Kunst nicht nur aus Werken besteht, sondern aus Ideen und Positionen. Es geht in der zeitgenössischen Kunst nicht mehr um das Bild oder die Skulptur, die vor mir steht, sondern um den gedanklichen Prozess, der in sie eingeflossen ist. Es geht nicht mehr um den Geniebegriff, den wir seit der Renaissance mit uns rumschleppen und der jahrhundertelang einen großen Künstler oder eine große Künstlerin definiert hat. Der Weg von Alleskönner Leonardo zu Beuys, der bekanntlich sagte, jeder wäre ein Künstler, ist mir zum ersten Mal klargeworden. Ich habe gelernt, dass Kunst nicht im luftleeren Raum entsteht und/oder zeitlos ist, dass sie nicht nur einen Geistesblitz braucht oder ein einmaliges Talent. Ich habe gelernt, dass Kunst bedeuten kann, sich mit dem Selbst, der Umgebung, dem politischen Klima oder anderer Kunst zu befassen und das alles seine Richtigkeit und Wertigkeit und Sinnhaftigkeit hat, wenn man sich darauf einlässt. Diese Vorlesung war ein größeres Geschenk als die Dozentin wahrscheinlich ahnt.
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Ich habe mal wieder festgestellt, dass ich für alles zu begeistern bin, wenn es mir anständig präsentiert, erklärt, vorgesungen, vorgemacht wird. Das ist einerseits toll, andererseits doof, weil: Vor dem Studium so RENAISSANCE RULES! Nach dem ersten Semester so GOTISCHE KATHEDRALEN, BITCHES! Nach dem zweiten ALTER, SKULPTUREN! Und nach dem dritten ZEITGENÖSSISCHE KUNST WHERE HAVE YOU BEEN ALL MY LIFE?
Ich muss im vierten Semester meine Vertiefungskurse wählen und ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was ich vertiefen will. Und „Hauch einer Ahnung“ ist schon ein Euphemismus.