Paris, jour 7
Letzter Tag nochmal Kultur: Versailles. Ich bin ja ein Liebhaber von protzigem Goldkram, überbordendem Prunk und überhaupt Schlössern, durch die man heute als Normalsterblicher einfach so durchwandern kann, ohne dass irgendwelche doofen Könige was dagegen machen können. Also Versailles.
Le Kerl kannte das Schlösschen schon, brachte mich aber netterweise bis vors güldene Tor, wo sich die Menschenmassen noch in Grenzen hielten. Was vielleicht daran lag, dass a) der Schlosshof schon mal verdammt groß ist und sich daher eine Menschenmasse in viele kleine Grüppchen auflöst und b) dass es zwei Eingänge gibt: einen für Leute, die noch ein Ticket brauchen und einen zweiten für Leute wie mich, die ihr Ticket schon gekauft haben. Dafür war ich gestern zum hundertsten Mal bei FNAC, die auch Konzertkarten und ähnliches verticken und habe mir für lumpige 22 Euro einen passeport für heute gegönnt. Der umfasst nicht nur das Schloss (le chateau), sondern natürlich auch den Garten (le jardin), den ich eher als Parkanlage bezeichnen würde, und die Trianons. Im petit trianon hat Marie Antoinette gewohnt, während das grand trianon von diversen Königen und Herrschern zum Ausspannen genutzt wurde – und heute von Gästen des Staatspräsidenten. Aber erstmal geht man natürlich ins Schloss.
Nach der Ticketkontrolle kommt die Taschenkontrolle bzw. das Röntgenband. Danach drängelt sich die Masse, die inzwischen wirklich eine ist, in die nächste Halle, in der man sich Audioguides mitnehmen kann. Wollte ich nicht. Gegenüber vom Audioguide-Stand war schon der erste Punkt, an dem es was zu sehen gab: die Kapelle, in der die königliche Familie im ersten Rang gesessen hat und der Rest ebenerdig. In die durfte man als Individualtourist nicht rein (aber ich habe eine Gruppe in den Kirchenbänken sitzen sehen), sondern nur über eine Absperrung gucken. Oder wild fotografieren, je nach Gusto. Ich habe nur kurz reinschauen können und mich dann von der Menge weiterschieben lassen – in nacheinander ungefähr zehn Räume, die alle mit Stofftapeten ausgestattet waren und an deren hohen Wänden Bilder aus der Zeit von Ludwig XIII bis Ludwig XVI hingen. Glaube ich. Ich bin nicht oft bis zu den Infotäfelchen vorgedrungen und habe mich daher damit begnügt, die verschiedenen Tapetenfarben und -muster zu bewundern und mich zu fragen, wie alt wohl der Parkettfußboden ist, der so schön unter den Tourifüßen quietscht, und der genauso nach Bienenwachs duftete wie der Schrank von meinem Opa.
Nach den Stoffräumen kam eine riesige Marmortreppe, die ein Stockwerk nach oben führt. Danach ging man durch einen langen Gang, an dessen Längsseiten eine Marmorstatue nach der anderen stand. Hier war es deutlich leerer und ich hoffte schon, dass das so bliebe, bis ich in den Raum trat, der den Marmorgang abschloss – wo mich die Masse schon erwartete. Nur dass sie noch dichter geworden war als im Erdgeschoss. Die folgenden Räume waren die, die in jedem Touriführer drin sind: die Kammer des Königs, das Schlafzimmer der Königin, der Spiegelsaal usw. Und ab hier war kaum ein Durchkommen. Man konnte die Größe der Räume nur erahnen, denn sie waren vollgestopft mit Menschen. Menschen, die nebenbei ziemlich viel quatschen oder brüllen (und das ist allen Sprachen dieser Welt), fotografieren oder im Weg stehen. Letzteres besonders gerne, wenn sie zu einer Schulklasse oder einer Gruppe gehören, von denen auch in jedem Raum mindestens zehn waren. Man musste warten, bis eine Gruppe sich in den nächsten Raum schob, so dass in diesem Raum mal kurz die Möglichkeit bestand, sich irgendwas anzugucken, was in Fußbodennähe war (die Decken der Zimmer konnte ich immer prima sehen, alles was darunter war, eher selten). Oder man drängelte, was das Zeug hielt. Ich habe andere drängeln und mich einfach mitschieben lassen.
Die weißen, goldverzierten Türen sind mit Plexiglasscheiben vor Tourihänden geschützt, in den Räumen selbst konnte man meist nur einen schmalen Gang begehen, der Rest war abgesperrt. Die langen Vorhänge und viele der Sessel und stoffbespannten Schemel waren in Plastik eingeschweißt. Wahrscheinlich, damit ihnen die Atemluft der Menge nicht so viel ausmacht. Richtig sexy sah das natürlich auch nicht aus.
Im Spiegelsaal (ein Wort: wow!) war es etwas angenehmer, weil einfach mehr Platz da war, auf dem man sich verteilen konnte. So konnte ich mich in Ruhe unter einen der vielen Kronleuchter stellen und nach oben gucken, um das Kristall- und Goldgemisch anschauen zu können – und natürlich darüber das riesige Deckengemälde. Ich war inzwischen komplett abgestumpft, was fotografierende Menschen anging, habe nicht mehr versucht, mich zu ducken oder zu warten, bis irgendwer sein blödes Bild gemacht hat und bin daher wahrscheinlich jetzt auf mindestens zehn Filmen drauf. Einerseits ist mir die schiere Masse an Menschen arg auf den Keks gegangen. Andererseits fand ich es aber großartig, dass so viele Schulklassen da waren – mit teilweise sehr kleinen Kindern. Ich schätze, einige waren wirklich noch in der ersten oder zweiten Klasse. Die haben sich dann in Grüppchen auf den Boden gelegt und einen Kronleuchter abgemalt, während die älteren Schüler Fragebögen dabeihatten, auf denen sie Dinge eintragen mussten – und dementsprechend mussten sie auch der Führung zuhören. Geschichtsunterricht live. Immer besser als im Klassenraum.
Im letzten Raum war es wieder etwas leerer, und so konnte ich mich kurz ungestört über das Bild von Napoleon, der Josephine krönt, freuen, denn ich wusste gar nicht, dass es in Versailles hängt. Und ich wusste auch nicht, wie riesig das Bild ist. Im Geschichtsbuch ist es eben nur zehn Zentimeter groß. In echt waren es eher zehn Meter.
Direkt nach diesem Raum kamen drei weitere, die aus Museumsshops bestanden und die lustigerweise genauso überfüllt waren wie die anderen Zimmer. Ich wollte bloß noch raus und zu den zwei Trianons fahren. Fahren, weil der Weg zu ihnen einmal durch den gesamten Garten führt. Laut Google Earth wären das vier Kilometer hin und vier wieder zurück – oder anders: mir zuviel. Man kann sich mit bis zu vier Leuten ein Golfcart leihen (ernsthaft) oder le petit train nehmen: eine kleine Bahn, die aussieht, als wäre sie schon mal im Heidepark Soltau als Zwergenbahn gefahren und die fiese 6 Euro kostet. Sie fährt alle zehn Minuten, hält am petit, dann am grand trianon und dann noch am grand canal, einem Wasserbecken, das mit Booten befahrbar ist. Man kann aussteigen, sich alles angucken und dann einfach in die nächste Bahn steigen, um weiterzufahren.
Theoretisch ist das alles toll. Praktisch war heute leider der erste Tag, der komplett verregnet war. Es nieselte schon, als le Kerl und ich vom Bahnhof zum Schloss spaziert sind, und während ich im Schloss war, regnete es sich so richtig schön ein. Ich hatte nicht mal eine Jacke dabei geschweige denn einen Regenschirm, dachte aber lustig bei mir, ach, du bist ja nicht aus Zucker, was ist schon ein bisschen Regen.
Mein Sitzplatz im petit train war natürlich ganz außen (jeweils drei Menschen pro schmalem Bänkchen), und da das Züglein keine richtigen Fenster bzw. Wände hatte, war ich schon ziemlich nass – jedenfalls meine rechte Körperhälfte –, als wir nach zehn Minuten bummeliger Fahrt am petit trianon ankamen. Dort begann es dann richtig zu gießen, weswegen die wartenden Menschen auch ziemlich drängelten, um an Bord zu kommen. Die Menschen, die bereits an Bord waren, überlegten angesichts des Wetters, ob sie überhaupt aussteigen sollten, ich meine, wer ist schon Marie Antoinette, ist bestimmt ne Puppenstube, das Schlösschen, komm, lass weiterfahren – was ich alles verstehen kann. Aber ich war ja immer noch gut gelaunt, sprang todesmutig in den Regen und sprintete, so schnell mich meine alten Füße trugen, zum Eingang. 50 Meter später klebte mir mein Shirt schon auf der Haut, und ich dachte noch, hoffentlich muss ich nachher nicht im Regen auf die nächste Bahn warten. Denn natürlich gab es kein Dach oder irgendeine Unterstellmöglichkeit, während man auf das Bähnle wartete. Was ich eigentlich nicht schlecht finde, weil es den Ursprungszustand des Parks und des Schlosses nicht verschandelt, aber bei strömendem Regen und 12 Grad Außentemperatur wird man irgendwann doch zum Kulturbanausen.
Das petit trianon war wirklich eine Puppenstube, aber mir hat es viel besser gefallen als das Schloss. Zum einen verteilten sich gerade mal zehn Leute auf die fünf Räume (der Rest saß im Warmen oder im Bähnle), zum anderen sah es nicht ganz so düster-überladen aus. Es war alles ein bisschen puscheliger: Da lehnte im Salon eine Harfe an einem Notenständer, die Kronleuchter waren nur noch halb so groß, die Farben pastelliger und wärmer, im Erdgeschoss wartete eine Spielzeugkutsche auf den Nachwuchs, und es standen generell mehr Sessel und Stühlchen und Schemel um kleine Tischchen herum. Es sah alles nicht ganz so nach Kulisse aus, sondern wirklich wie ein Ort, an dem man wohnen könnte. Natürlich immer noch ne Menge Gold und Platzverschwendung, aber viel weniger als im Schloss.
Zufrieden ging ich wieder nach unten, wo es nur noch leicht nieselte, worauf ich die bescheuerte Idee hatte, doch noch kurz durch den Garten von Mariechen zu spazieren. Kaum war ich 100 Meter vom Schlösschen entfernt, prasselte ein Schauer auf mich nieder, der auch den noch nicht ganz nassen Rest von mir richtig schön erwischte. Und natürlich kam das nächste Bähnle auch nicht zehn Minuten später, sondern 20. Mir war inzwischen arschkalt und ich klatschnass, so dass ich mich auf einen der freien Plätze im train flüchtete und beschloss, mir le grand trianon beim nächsten Besuch anzugucken. Ist bestimmt eh nur Jungszeug. Hab ich ja grad alles im Schloss gesehen.
Als die Bahn am grand trianon hielt, stieg auch wirklich niemand aus – was die wartenden 30 Menschen nicht sonderlich erfreute, schließlich passen in so eine Bahn nur ungefähr 50, und wenn die alle schon drin sind und irgendwie keiner aussteigen will … nun ja. Ich kuschelte mich an meinen nassen Lederrucksack und hoffte, auf der Rückfahrt nicht allzuviele Hindernisse zu haben. Die Bahn musste nämlich bei jeder kleinen Rinne in den Kopfsteinpflasterwegen auf 2 km/h abbremsen, damit weder wir noch das Züglein Schaden nähmen. Und Rinnen gab es genug, denn irgendwohin musste ja das Regenwasser abfließen.
Ich glaube, es hat eine halbe Stunde gedauert, bis ich wieder am Schloss war. Ich wollte bloß noch nach Hause und eine heiße Dusche nehmen. Mein Shirt trocknete immerhin auf der einstündigen Rückfahrt ganz gut, aber ich wette, ich habe nach altem Hund gerochen.
Aber meine Laune war trotzdem noch okay, was vor allem einem Vorfall auf der Hinfahrt zu verdanken ist. Als le Kerl und ich gerade die RER in St. Michel/Notre Dame besteigen wollten, tippte mich ein älterer Herr auf die Schulter: „Train to Versailles? The castle?“ Ich bejahte, und der Herr und seine Gattin stiegen mit uns ein und setzten sich auch neben uns. Die Dame zog ihren Paris-Reiseführer aus der Tasche, und ich musste schmunzeln, denn es war genau mein Exemplar – nur in einer anderen Sprache. Das sagte ich und zeigte ihr meins, worauf sie fragte, woher wir kämen. „Germany – Allemagne.“ „Ah, Deutschland! Wir sind von Ungarn.“ Wir nickten freundlich, und der Mann beugte sich lächelnd zu uns: „Wir von Ungarn – Sie von Deutschland – treffen hier in Frankreich. Das ist Europa!“
Mais oui, monsieur. C’est l’europe. Et si belle.
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