Tagebuch Sonntag, 8. Mai 2016 – Gefressen werden
Ein sehr durchwachsener Tag, an dem ich sehr dünnhäutig war und mich sehr schutzlos gefühlt habe.
Seit einigen Wochen stoße ich online und offline immer wieder auf ein Thema, von dem ich dachte, es wäre keins mehr für mich: der Körper, genauer gesagt, der Nicht-Norm-Körper, der dicke Körper, der vielleicht mal ein dünner wird (vermutlich nicht, aber man weiß ja nie). Ich dachte, ich hätte diesen Komplex durchgedacht und durchgefühlt und ich wäre durch meine Biografie davor gefeit, alles noch mal neu zu denken, aber wie ich gestern merkte: Nee, bin ich nicht.
Ein Mensch in meiner nächsten Umgebung hat einiges an Gewicht verloren – nicht durch Diät, sondern durch eine schmerzhafte Krankheit, aber auch dann pieksen mich Sätze wie „Ich passe wieder in Größe XY“ an den falschen Stellen. Eine Frau in meiner Instagram-Timeline nimmt ebenfalls ab, und ich dachte, ich könnte mich darüber freuen, weil es ihr anscheinend gut damit geht und weiterhin ihre leckeren Essensbilder anschmachten, aber dann tauchte der Hashtag „weightlossjourney“ unter einem Post auf, und es piekste wieder. Gestern las ich in einem Blog, das eigentlich ein sicherer Hafen ist, einen Kommentar, der ein Abnehmblog verlinkte, das seit Monaten recht lautstark in meiner Peripherie rumsummt und wegen dem ich schon mehreren Menschen auf Twitter entfolgt bin und ihre Blogs nur noch vorsichtig lese, weil auch da plötzlich das Thema viel zu viel Raum einnimmt.
Ich habe gar nicht gemerkt, wie sehr es mich belastet, von abnehmenden Menschen zu lesen oder von ihnen umgeben zu sein, bis ich mich gestern dabei erwischt habe, heulend auf der Weight-Watchers-Seite rumzuklicken. Da wo ich vor zehn Jahren schon mal war und wo es mir nicht wirklich gut ging.
Gestern erwischte mich aus heiterem Himmel (gefühlt) und mit voller Wucht die Erkenntnis, dass in meinem Leben gerade kaum ein Steinchen mehr da sitzt, wo es mal gesessen hat. Und so schön München ist und so erfüllend mein Studium – in wackeligen Momenten, die sich gestern anscheinend alle zusammenrotteten und bei mir anklopften, bricht alles zusammen und ich denke, das einzige Gebiet, über das ich Kontrolle habe, ist mein Körper. Was natürlich Blödsinn ist und das weiß ich auch, aber gestern musste ich mir das dutzende Male sagen.
Denn über meinen Körper habe ich genauso wenig Kontrolle wie über alles andere. Ich kann wochenlang die Bibliothek leerlesen und ein Dozent kann trotzdem nur eine 1,3 unter meine Arbeit schreiben und keine 1,0. Ich kann der tollste Mensch der Welt sein und ein Mann findet mich trotzdem nicht so super wie ich ihn. Ich kann irrwitzig viele Qualitäten mitbringen, aber es muss nicht unbedingt ein Job oder ein Praktikum dabei rauskommen. Ich bin von so vielen Dingen abhängig, die nicht in meinem Kontrollbereich liegen, und ich muss es aushalten, dass es so ist. Und mein Körper ist das letzte, was ich im Griff habe, und es hat sehr viel Kraft gekostet, mir das einzugestehen und dem ganzen Diätrotz nach 25 Jahren Auf Nimmerwiedersehen zu sagen, weil er mich weder dünn noch glücklich gemacht hat, sondern genau das Gegenteil.
Ich habe es seitdem allerdings im Griff, gut zu mir zu sein. Ich kann auf mich achten, auf mich und meine Gefühle aufpassen, mich um mich kümmern. Ich weiß, dass ich immer noch auf Krücken laufe; in meinem Schrank müssen fünf Tafeln Schokolade liegen, sonst werde ich nervös. Ich esse sie nicht mehr wie früher an einem üblichen Binge-Eating-Tag in einem Zug weg (die Kids heute nennen das ganze liebevoll Cheat Day und glauben, es wäre eine Superidee – ihr Irren), sondern Stück für Stück, aber sie müssen da sein. Ich muss einen vollen Kühlschrank haben, damit mein Kopf mir glaubt, dass der Bauch immer und alles essen darf. Ich habe ihm jahrelang erzählt, ja klar, kriegst du was, und er hat mir vertraut, und was hat er gekriegt? Kalorienreduzierten Scheiß und auch immer nur fast so viel, wie er gerne gehabt hätte, aber sei jetzt bitte dankbar und fühl dich wohl und leicht und liebenswürdig. Kein Wunder, dass der mir nichts mehr glaubt.
Ich dachte, ich hätte meine Essstörung – denn nichts anderes ist dieses zwanghafte Verhältnis zum Essen, auch wenn ich mir nicht den Finger in den Hals stecke oder von 400 Kalorien am Tag leben möchte – im Griff oder zumindest soweit unter Kontrolle, dass mir Instagramposts oder Blogkommentare nichts mehr ausmachen. Vielleicht ist das auch so, aber vielleicht ist das nur so, wenn der Rest meines Lebens in Reih und Glied und rechtwinklig ausgerichtet und alphabetisch sortiert ist, wie ich das mag, weil es mir Sicherheit gibt. Im Moment ist mein Leben aber eine einzige wackelige Angelegenheit. Und gestern kippte etwas in mir um, von dem ich dachte, ich hätte es halten können. Ich fühlte mich sehr hilflos in dieser Stadt, in dieser Wohnung und in diesem Studium, ich vermisste die Sicherheit, den Plan, das Geld, den Ex, die Freundinnen, und ich konnte dieser bröckelnden Lawine nur ausweichen, indem ich wieder darüber nachdachte, Kalorien zu zählen.
Es hat wirklich die blöde WW-Seite gebraucht, um aufzuwachen und mitzukriegen, was sich seit Wochen in meinem Inneren abspielt, ohne dass ich es wirklich zur Kenntnis genommen habe. Das latente Unwohlsein, das ich bei diesem Thema immer habe, hatte sich zu einem Problem aufgebaut, und ich wusste nicht mehr, wie ich damit umgehen sollte.
Ich weiß es immer noch nicht. Momentan fällt mir nichts ein, als manche Menschen zeitweise zu entfolgen, so leid es mir tut, vielleicht mal wieder ein paar Blogs zu meiden, vielleicht überhaupt mal das Internet mit seinen vielen Menschen ein winziges bisschen runterzufahren. Stattdessen hilft vielleicht das, was auch gestern nach stundenlangem Elend geholfen hat: am Schreibtisch ein Buch nach dem anderen stumpf durchzuarbeiten anstatt wie sonst von einem zum anderen zu springen, hier kurz etwas nachgoogeln, da einen Aufsatz online lesen, ach, und wenn ich eh schon hier bin, kurz auf Twitter und Instagram gucken. Genau das habe ich gestern nicht gemacht, sondern eben krampfhaft gelesen, exzerpiert, Texte geordnet, umgeschrieben, nächstes Buch, weitermachen. Zwischendurch vier riesige Schüsseln Cornflakes mit Erdbeeren und Weintrauben und Birnen und fürs Seelenheil eine Tafel Schokolade und einen Milchkaffee. Abends dann die neue Folge Masterchef Australia, in der so gut gekocht wird wie sonst in keiner Masterchef-Ausgabe, und ich habe gemerkt, wie sehr ich das genieße, gutem Essen zuzusehen und im Kopf zu überlegen, wie ich das nachbauen könnte, was ich da sehe. Ich habe mich gefreut, nach stundenlangem Ringen mit mir und meinen Dämonen wieder Glück zu empfinden, als das Thema Essen vor mir rumflimmerte.
Vielleicht bin ich doch schon weiter als ich gestern dachte. Ich muss mir das Glück aber anscheinend weiterhin erkämpfen – und vor allem: darauf aufpassen.