Tagebuch, Freitag, 24. Juni 2016 – Brexit
Ich ruinierte unser schon traditionelles Morgenkuscheln, indem ich zum iPhone griff, das neben dem Bett lag und auf Twitter las, dass sich Großbritannien dazu entschieden hatte, kein Teil der EU mehr sein zu wollen. Anstatt noch 20 Minuten aneinander rumzulungern, bevor wir aufstehen mussten, hatten wir beide unsere Handys vor der Nase, lasen uns Tweets vor und schüttelten verbal die Köpfe.
Ich habe ein eher emotionales Verhältnis zur EU, und ich ahne, dass dieses Gefühl mehr mit Schengen zu tun hat als mit der Gründungsurkunde, die, soweit ich weiß, einen Wirtschaftsraum definierte. Da geht’s schon los: Ich weiß nicht mal genau, wann und warum die EU gegründet wurde. Ich wuchs aber damit auf, dass wir eine schöne blaue Flagge mit goldenen Sternen drauf hatten, eine noch schönere Hymne und dass ab und zu Europawahlen stattfanden, bei denen ich immer das wählte, was ich auch bei Bundestagswahlen wählte. Full Disclosure: Die einzige Wahl, an der ich hätte teilnehmen dürfen und bei der ich dieses Recht verfallen ließ, war eine Europawahl. Ich wohnte in Hannover, das müsste also irgendwann in den 1990ern gewesen sein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Stimme irgendwas in meinem direkten Umfeld ändern würde – im Gegensatz zu anderen Wahlen, die sich auf Deutschland, seine Länder oder Kommunen bezogen –, also ging ich nicht wählen.
Ich frage mich, ob es vielen der Menschen, die vorgestern gegen die EU stimmten, ähnlich ging. Dass sie schon länger das Gefühl hatten, ihre Stimme zähle ja eh nicht. Dass sie vielleicht einfach aus Protest das wählten, was anscheinend aus Protest zu wählen war. Vielleicht ist das meine Filterblase, aber ich hatte gestern mehrere Hinweise darauf in der Timeline, dass sich erst jetzt, nach dem Endergebnis, einige fragen, was ein Brexit überhaupt bedeutet. Mir ist das auch nicht so richtig klar, denn ehrlich gesagt habe ich nie damit gerechnet, dass Großbritannien dafür stimmen könnte.
Aber wie gesagt, ich fühle mich eher emotional als rational als Europäerin. Das ist mir erstmals in den USA aufgefallen, als ich Europa vermisste und nicht unbedingt Deutschland, keine Ahnung warum. Für mich ist unser Kontinent neben meinem Heimatland noch viele weitere Heimatländer, obwohl ich nicht in ihnen geboren bin. Es bedeutet mir sehr viel, theoretisch morgen in 28 Ländern leben und arbeiten zu können. (Ja, das musste ich nachgucken, wieviele Länder die EU überhaupt hat.) Selbst wenn ich bis an mein Lebensende in Deutschland bleiben werde, fühlt es sich großartig an zu wissen, dass ich das nicht muss. Dass meine Fähigkeiten auch in anderen Ländern zählen, dass ich von vornherein einen Vertrauensvorschuss genieße, den andere nicht haben, weil sie schlicht nicht das Glück – und mehr ist das nicht – hatten, in einem EU-Land zur Welt gekommen zu sein. Auch deswegen ist mir Nationalismus fremd und er wird mir immer fremder, je mehr Menschen AfD wählen und je lauter die Rassismen werden, die jetzt gerade zur Europameisterschaft wieder ihre hässlichen Häupter recken.
Ich fühle mich deutsch, weil Deutsch meine Muttersprache ist, weil ich dieses Land und seine Mechanismen am besten von allen Ländern verstehe, weil ich mich erwische, manchmal sehr klischeehaft deutsch zu sein (pünktlich, ordentlich, Oktoberfest) und weil es sich hier in meinen Augen richtig gut leben lässt.
Ich fühle mich aber gleichzeitig sehr bewusst und sehr glücklich als Europäerin, wenn ich mal eben am Flughafen meinen Perso vorzeige und einfach so in ein Flugzeug steigen kann, das mich nach Paris zu einer Ausstellung bringt. Oder nach London zu einem Restaurant. Oder nach Rom zu einer Kirche. Oder oder oder. Ich denke darüber gar nicht mehr nach, dass das geht, sondern ich gehe davon aus, dass das geht. Ich fühle mich mit den Menschen in Frankreich, England und Italien ähnlich verbunden wie mit meinen bayerischen Nachbarn und Nachbarinnen, weil wir alle die gleiche blaue Flagge und die gleiche schöne Hymne haben. Und ich kann nicht verstehen, dass irgendjemand dieses Glück nicht mehr haben möchte.
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Ich zitiere mich mal selbst, denn mein Eintrag aus einem Parisurlaub von Kai und mir geht mir seit gestern im Kopf rum. Dieser Eintrag über meinen Versailles-Besuch, letzter Absatz:
„Aber meine Laune [nach einem fiesen Regenguss] war trotzdem noch okay, was vor allem einem Vorfall auf der Hinfahrt zu verdanken ist. Als le Kerl und ich gerade die RER in St. Michel/Notre Dame besteigen wollten, tippte mich ein älterer Herr auf die Schulter: „Train to Versailles? The castle?“ Ich bejahte, und der Herr und seine Gattin stiegen mit uns ein und setzten sich auch neben uns. Die Dame zog ihren Paris-Reiseführer aus der Tasche, und ich musste schmunzeln, denn es war genau mein Exemplar – nur in einer anderen Sprache. Das sagte ich und zeigte ihr meinen, worauf sie fragte, woher wir kämen. „Germany – Allemagne.“ „Ah, Deutschland! Wir sind von Ungarn.“ Wir nickten freundlich, und der Mann beugte sich lächelnd zu uns: „Wir von Ungarn – Sie von Deutschland – treffen hier in Frankreich. Das ist Europa!“
Mais oui, monsieur. C’est l’Europe. Et si belle.“