Ein Herz geht auf Reisen
Ich lese bei Moni am liebsten ihre Reisegruppenerlebnisse. Vielleicht, weil ich mich dauernd an die eigene Nase fasse, denn ich war bereits dreimal Teil einer solchen.
Ich hatte es im Blog schon mal erwähnt: Die Konfirmationsgeschenke für Schwesterlein und mich waren jeweils eine dicke, fette Reise, wohin wir wollten. Mit der ganzen Familie. Für mich als eingefleischten Ägyptenfan, die man mit zehn Jahren fast gewaltsam von der Totenmaske des Tutenchamun in der Wanderausstellung wegzerren musste und die sich ihre Kindheit mit Büchern wie „So wurden die Pyramiden gebaut“ vertrieben hat, gab’s natürlich nur ein Ziel. Meine Schwester wollte eigentlich nach Amerika, aber der Familienrat überzeugte sie liebevoll davon, dass sie doch viel lieber nach China wolle.
Es gingen ein paar Jahre nach der Konfirmation ins Land, denn zu Schulzeiten wären ja nur die Sommerferien für große Reisen in Frage gekommen, und im Sommer will niemand nach Ägypten oder China. 1991 war es dann soweit: Ich war inzwischen acht Jahre lang konfirmiert, und endlich wurden die Koffer gepackt. Mama und Papa buchten eine Reise bei einem kulturbeflissenen Veranstalter – und wir wurden nicht enttäuscht. Unsere Reiseleiterin sprach fließend Arabisch und machte uns gleich am Anfang auf wichtige Sachen aufmerksam wie „Immer viel Wasser trinken“ und für die Mädels „Es wäre respektvoll, wenn Sie nicht allzuviel Haut zeigen und die Haare bedecken würden“. Überhaupt war das mein Haupteindruck, den die Dame vermittelte: Respekt, sowohl vor der alten Kultur als auch vor den Gepflogenheiten des modernen Ägypten. Im Gegensatz zu den local guides, die gerne mal mit schweißnassen Händen auf uralte Malereien patschten, um auf sie hinzuweisen.
Die Reiseleiterin hatte, soweit ich mich erinnere, mehrere Jahre in Ägypten gelebt und konnte daher wirklich jede Frage beantworten, die die 20-köpfige Gruppe an sie hatte. Ganz egal, welches Grab oder welches Museum (oder welchen Touriladen für Souvenirs) wir gerade besuchten, sie wusste alles und konnte zu allem kleine Geschichten erzählen, die alles fassbarer werden ließen. In so ziemlich jedem Tempel gab es Reliefs, Bilder oder Hieroglyphen, die anders waren als der Rest, und sie konnte so begeisternd davon erzählen, dass man wirklich das Gefühl hatte, gerade etwas ganz Besonderes erlebt zu haben. Am Ende der Reise ging im Bus, mit dem wir durchs Land geschaukelt sind, der obligatorische Umschlag rum, und wir füllten ihn bis zum Rand mit Scheinen. Der Fragebogen des Veranstalters konnte unsere Lobeshymnen kaum fassen.
Zwei Jahre später, China. Ich dachte, so gut wie in Ägpyten kann’s ja gar nicht werden – und wurde eines Besseren belehrt. Diesmal war unsere Reiseleiterin etwas jünger (ich schätze, Ende 20); sie hatte ein Jahr in Nanjing studiert und sprach fließend Mandarin. Auch diesmal war ein Reisebus unser bevorzugtes Verkehrsmittel. Wir sind auf unserer Reise von Peking nach Hong Kong zwar auch geflogen und mit dem Zug gefahren, aber meist saßen wir stundenlang im Bus. Nebenbei: China ist verdammt groß.
Nun hätte es sich unsere Reiseleitung ja mit einem Buch vorne im Bus bequem machen können, aber stattdessen schnappte sie sich auf jeder Fahrt das Mikrofon und erzählte, was ihr gerade so einfiel. Auf der Fahrt zur Großen Mauer, die von unserem Hotel in Peking eine gute Stunde weg war, erzählte sie uns mal eben die Stadtgeschichte der Hauptstadt. Oder sie sprach über das Klima. Über die Schulausbildung. Über die Ein-Kind-Politik. Alles, was man schon mal in Schlagworten gehört oder im Reiseführer gelesen hatte – und sie machte große Geschichten daraus. Sie erklärte uns einige chinesische Schriftzeichen, erwähnte im Süden Chinas das beliebte Sprichwort zu den dortigen Essgewohnheiten („Wir essen alles, was vier Beine hat, außer einem Tisch und alles, was fliegt, außer einem Flugzeug“) und sprach über das eher pragmatische Verhältnis der Chinesen zu Tieren. Bei dem Diavortrag, den ich nach der Reise für Freunde und einige VHS-Kurse gehalten habe, kamen die Fotos von den Märkten auch immer gut an – für uns ein Kuscheltier, für andere Leute Mittagessen.
Ihre Vorträge waren allerdings immer im Einklang mit den offiziellen Sprachregelungen, denn auf der gesamten Reise begleitete uns ein Wachhund der Partei, der brav aufpasste, dass sie nichts Falsches sagte. So war ihre Begrüßung auf dem Platz des Himmlischen Friedens dann auch eher knapp: „Das ist der Platz des Himmlischen Friedens. Er ist mit 600 mal 800 Metern der größte Platz der Welt. Sie haben eine Stunde Aufenthalt.“
Aber abends, wenn der Wachhund in seinem Hotelzimmer lag, gab es Nachschlag für die, die noch Lust hatten. Dann hieß es beim Abendbrot ganz offiziell: „Ich würde gerne mit Ihnen noch kurz über den morgigen Tagesablauf sprechen – vielleicht treffen wir uns in einer halben Stunde noch in der Lobby?“ Was übersetzt hieß: Ich hätte da noch was zu erzählen über die Situation von Behinderten in China, von religiösen Minderheiten oder die Stellung der Frau.
Der Höhepunkt dieser Heimlichtuereien war ein Besuch bei einem ehemaligen Studienkollegen der Reiseleiterin in Nanjing. Sie hatte uns ausreichend Taxen organisiert, die alle brav vor dem Hotel warteten und sofort losfuhren, als wir drinsaßen. Unsere Fahrt endete in einem gewöhnlichen Mietshaus und einer Zwei-Zimmer-Wohnung, in deren einem Zimmer sich plötzlich 25 Europäer auf dem Fußboden um einen amüsierten Chinesen herumsetzten, der uns auf Englisch etwas über den Alltag in China erzählte.
Auch das chinesische Essen war mit ihr etwas Besonderes: Sie hat uns nämlich nie gesagt, was wir da gerade auf den Tellern vor uns haben. Ihr Standardspruch: „Sie kosten jetzt erstmal, und dann sag ich Ihnen, was es war.“ So habe ich Maden gegessen (die waren im Reis versteckt!), Hühnerkrallenhaut, Froschschenkel, Qualle (angeblich), Rinderspeiseröhre und weißdergeier was noch. Und lustigerweise hat alles geschmeckt.
Auch hier war am Ende der Reise der Trinkgeldumschlag meterdick, und ich habe angefangen, Studiosus jedem und jeder weiterzuempfehlen.
Nach der Reise nach Israel, die nur meine Mutter und ich gemacht haben (meine Schwester ist dafür mit Papa auf die Philippinen geflogen, wo Papa früher gearbeitet hatte), bin ich damit etwas vorsichtiger geworden, denn da hatten wir das genaue Gegenteil der Traumreiseleiterinnen. Die Dame konnte kein Hebräisch (Englisch reden kann ich auch alleine), blätterte gerne nochmal im Reiseführer, bevor sie uns irgendwas erzählte und kam meistens als letzte zum Reisebus, in dem sie dann noch schnell ein Nickerchen machte, bevor mal wieder eine Besichtigung stattfand. Die waren auch eher von „Gucken Sie sich ruhig um – wir sehen uns in einer Stunde im Bus!“ gekennzeichnet anstatt von begeisternden Führungen. Trotzdem habe ich natürlich viel gesehen und viel mitgenommen, aber dieses Gefühl, etwas ganz Besonderes geschenkt bekommen zu haben, hat sich überhaupt nicht eingestellt.
Inzwischen reise ich lieber alleine und gucke mir an, worauf in spontan Lust habe. Aber ich weiß, dass ich sicher nochmal eine Gruppenreise buchen werde, denn so nervig es ist, sich selbst im Urlaub mit irgendwelchen Nasen arrangieren zu müssen, so toll ist es auch, eine perfekt geplante Reise auf dem Silbertablett serviert zu bekommen.
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PS: Ich kann’s ja doch nicht lassen: Auf der Wikipedia-Seite zu Tutenchamun findet sich dieser Link zu einer unglaublichen Sammlung von Fotos von der Ausgrabung durch Howard Carter. Obacht, stundenlanges Festlesen und Rumklicken garantiert. Also bei mir jedenfalls. („Oooooh, die Alabastergefäße für die Eingeweide …“)