Jetzt hab ich’s gestern doch verpasst, mir die Live-Ãœbertragung aus der Cheops-Pyramide anzugucken. Als ich es heute morgen in den Nachrichten gesehen habe, ist sofort die Erinnerung hochgekommen, wie ich in Ägypten zum ersten Mal vor den Pyramiden stand.
Meine Schwester und ich haben von meinen Eltern zur Konfirmation kein Geld geschenkt bekommen, sondern – viel besser – eine Reise mit der ganzen Familie, wohin wir wollen. Seit ich mit sieben oder acht Jahren ein Kinderbuch über Ägypten bekommen hatte, war ich völlig fasziniert von der Kultur, den Bauwerken – und wahrscheinlich von den ganzen Goldschätzen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mit ungefähr zehn Jahren in einer Ausstellung im hannöverschen Kestner-Museum war: „Die Goldschätze des Tutenchamun“. Ich habe mindestens eine Viertelstunde vor der Goldmaske gestanden, bis meine Eltern mich von ihr wegziehen konnten: „Anke, ist gut jetzt. Der Typ wacht nicht mehr auf, und wir stehen im Parkverbot.“
Ich konnte es überhaupt nicht begreifen, wie ein Mensch, so jung, unsterblich werden konnte. Ich habe mir immer vorgestellt, was er den ganzen Tag so macht. Während wir kleinen Zivilisationskinder spielen und Nena hören, sitzt er irgendwo auf einem Thron und regiert ein Weltreich. Und dann wird er schnöde von irgendwelchen Konkurrenten ermordert, kriegt immerhin noch ein ziemlich üppiges Begräbnis und wird in einem Grab verscharrt, das erst 5.000 Jahre später wiederentdeckt wird. Und jetzt hängt seine Totenmaske in einem Museum, und kleine Ankes stehen davor und schauen ihm in die starren Lapislazuli-Augen. Wow.
Mein Reiseziel war also klar: Ägypten.
1991 sind wir endlich dahingekommen, Jahre nach meiner Konfirmation. Ich erinnere mich daran, als ich zum ersten Mal die Pyramiden gesehen habe. Unser Hotel lag ziemlich am Stadtrand von Kairo, genau wie die drei großen Pyramiden eben (in zehn Jahren liegen sie wahrscheinlich in der Innenstadt), und gleich am ersten Morgen unserer Studienreise saßen wir im Bus auf dem Weg zur Sphinx. Ich guckte so versonnen aus dem Busfenster, schaute mir die für mich völlig neue und sehr ungewohnte Umgebung an, da sah ich plötzlich zwischen einigen Häusern ganz kurz die Spitze einer Pyramide. Ich riß meine Augen auf und wartete, bis der Bus wieder an einer Lücke zwischen den Häusern vorbeifuhr, und da! da war sie wieder. Ich habe meinen Atem angehalten und einfach nur wie paralysiert auf die Spitze geguckt, bis der Bus schließlich um eine Kurve fuhr und sie alle drei vor uns lagen. Unter einem strahlend blauen Himmel, hinter ihnen nur Sand, standen da ganz selbstverständlich die drei größten Pyramiden auf diesem Planeten. Und ich war nur wenige Meter von ihnen entfernt.
Ich hab schon im Bus angefangen zu heulen, weil ich es einfach nicht fassen konnte, wirklich hier zu sein, sie wirklich zu sehen und wirklich anfassen zu können.
Nachdem wir uns durch den üblichen Tourischeiß aus Kamelreitern und Souvenierspacken durchgewühlt hatten, standen wir schließlich direkt vor der Cheops-Pyramide. Ich hab gar nichts mehr gesagt und einfach nur gestaunt. Wenn man sich direkt an die Mauer der Pyramide stellt und den Kopf in den Nacken legt, kann man den Himmel nicht mehr sehen, so hoch und gewaltig ist sie. Der Stein fühlt sich warm und porös an. Und die einzelnen Blöcke sind riesig. Auf Fotos sehen die Pyramiden immer so nett und unschuldig aus, aber wenn man direkt vor ihnen steht, ahnt man, welche übermenschlichen Anstrengungen vonnöten waren, um sie zu errichten.
Ich war, glaube ich, selten so ergriffen wie in dem Moment, als ich die Pyramiden zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe die Große Mauer in China gesehen, die Klagemauer, den Felsendom, die Grabeskirche in Jerusalem, den Kölner Dom – monumentale Bauwerke, kaum fassbar, wenn man sie nicht berührt oder gesehen hat. Aber als ich an den Pyramiden stand, hatte ich einen dieser wenigen Augenblicke von Ehrfurcht vor menschlicher Leistung.
(Meine Schwester wollte übrigens nach Disneyland, aber mit einem entsprechenden Maß an Familiendiktatur haben wir sie überzeugt, dass sie doch viel lieber schon immer nach China wollte. Aber das ist eine andere Geschichte.)